Mittwoch, 9. Juni 2010

My Father was a Freedom Fighter

“Kein einziger Flüchtling wird zurückkehren. Die Alten werden sterben, die Jungen werden vergessen“. Als diese Voraussage Israels erster Ministerpräsident David Ben-Gurion 1948 machte, konnte er nicht ahnen, dass Menschen, die tiefes Unrecht erlitten haben, ein solches niemals vergessen werden. So ist es auch im Falle der palästinensischen Flüchtlinge, die nicht freiwillig ihr Land verlassen haben. Die „Alten“ geben nicht nur die Schlüssel der Häuser, aus denen sie vertrieben wurden oder flüchten mussten, an die nächste Generation weiter, sondern auch ihre Gefühle und ihre tief verwurzelte Bindung an ihr Land Palästina.

Als Israel seine Unabhängigkeit erklärte, waren bereits 212 Dörfer und drei größere Stadt entvölkert worden, bevor auch nur ein arabischer Soldat seinen Fuß auf palästinensischen Boden gesetzt hatte. Die arabischen Armeen haben vor dem 15. Mai 1948 nichts gegen die Vertreibung zigtausender Palästinenser unternommen. Nach der Staatsproklamation Israels haben sie den Krieg erklärt, um die Gebiete, die für den arabischen Staat vorgesehen waren, zu beschützen. Der Krieg endete mit einem Waffenstillstand. Zu diesem Zeitpunkt hatten 700 000 Flüchtlinge das Land verlassen, um den Kämpfen zu entkommen, oder sie wurden von den israelischen Soldaten vertrieben. Dieses Ereignis wird im kollektiven Bewusstsein der Palästinenser als die „Katastrophe“ (al-Naqba) bezeichnet.

Ramzy Baroud ist ein US-amerikanischer Palästinenser, der als begnadeter Autor, Journalist und Chefredakteur von „Palestine Chronicle“ arbeitet. Er schreibt die Geschichte seiner Familie, die aus Beit Daras, 46 Kilometer nord-östlich von Gaza-Stadt gelegen, vertrieben worden ist. Sein Dorf fiel der Vision Ben-Gurions von einem jüdischen Staat mit möglichst wenigen Palästinensern zum Opfer. Die Familie landete in der Wüste von Gaza, Lichtjahre von ihrer Heimat entfernt! Damals betrug die Bevölkerung des Gaza-Streifens 80 000 Menschen. 200 000 Flüchtlinge kamen hinzu. Heute beträgt die Einwohnerzahl 1, 4 Millionen. Dies entspricht exakt der Zahl der arabischen Bewohner Palästinas im Jahr 1948.

Der Autor beschreibt den 60-jährigen Überlebenskampf nicht nur seiner Familie, sondern auch denjenigen der andern Bewohner mit keinem Ende in Sicht. Beim Lesen des Buches bekommt man den Eindruck, als sei die „Katastrophe“ kein punktuelles Ereignis im Jahre 1948 gewesen, sondern dauere bis heute an. Als die Siedler noch im Gaza-Streifen lebten, machte die Armee das Leben der Palästinenser „zur Hölle“, schreib Baroud. Die Geschichte, die der Autor erzählt, ist die seines Vaters Mohammed. Er konnte diese erst nach seinem Tode schreiben. „Die israelischen Soldaten können keine Razzien mehr durchführen und sein Haus durchsuchen und verwüsten. Sie können ihm nicht mehr die Reisegenehmigung zur medizinischen Behandlung verweigern. Keine weitere Demütigung von coolen Teenager-Soldaten an den Kontrollpunkten. Keine Verhöre und keine Schmähung mehr.“

Obgleich Barouds Fokus auf seiner Familie liegt, erfährt man sehr viel über die widrigen Lebensumstände, die durch die israelische Besatzung der Bevölkerung auferlegt worden sind. Der Autor stellt das Leben der Menschen in einen größeren politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhang. Unter israelischer Besatzungsherrschaft gab es keinerlei wirtschaftliche Entwicklung, wie Sara Roy in ihrer Bahn brechenden Untersuchung „The Political Economy of De-development“ über den Gaza-Streifen feststellt. Alles wurde israelischen Interessen untergeordnet, sei es die Infrastruktur oder die rudimentäre Wirtschaftsentwicklung, so die Autorin.

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder war Mohammed kein pflegeleichter Junge, was zu harten Strafen seitens seiner Eltern führte. Diese Erlebnisse prägten sein weiteres Leben. Er überlebte den Suez- und den Sechstagekrieg sowie Ariels Sharons „Schocktherapie“. 1970 entschloss er sich, der „Palästinensischen Befreiungsarmee“ anzuschließen, um etwas anderes jenseits arabischer Rhetorik zu erreichen.

Nach Ausbruch des so genannten Friedensprozesses charakterisiert Mohammed ihn als „die zeitlich bestgeplante Katastrophe, die Gaza jemals widerfahren war“. Die PLO handelte als Israels Sicherheitsbeauftragter, ließ auf Demonstranten schießen und sperrte sie ein, weil sie gegen die Oslo-Abkommen demonstrierten. Mohammed entschied sich bei den letzten Wahlen für Hamas wegen ihrer „Kultur des Widerstandes“. Seiner Beerdigung wohnen Tausende bei, „die seine Notlage, Hoffnungen und Kämpfe teilten“, schreibt sein Sohn Ramzy.

Einerseits beschreibt das Buch die hoffungslose Lage des palästinensischen Volkes im Allgemeinen, andererseits geben der Lebensweg und die innere Haltung von Mohammed Baroud „den Verdammten dieser Erde“ Hoffnung. Sein Leben zeigt, das Kapitulation gegenüber Ungerechtigkeit und Unterdrückung niemals eine Option sein kann. Dies sollte als ein Fingerzeig für diejenigen Palästinenser verstanden werden, die zusammen mit Mahmoud Abbas einen einfacheren Weg zur „Unabhängigkeit“ gehen wollen. Ramzy Baroud und sein Vater stehen für die Alternative: Freiheit und Selbstachtung.

Erschienen in: Der Semit. Unabhängige jüdische Zeitschrift, (2010) 3, S. 67 f.
Besprechung in Englisch: Between the Lines und The Palestine Chronicle.