Dienstag, 14. Dezember 2010

Dan Diner, „Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser“

Es gibt nur wenige Bücher, die sich auch nach 26 Jahren noch lohnen zu lesen. Dazu gehören neben Dan Diners fundierter, wegweisender und hochaktueller Analyse über Zionismus, Israel und den Palästinakonflikt, Noam Chomskys „Fateful Triangle“ aus dem Jahr 1983, das auf Englisch 1999 neu aufgelegt worden ist. Die Analysen beider Autoren sind heute noch aktueller als zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung. Dan Diner hat bereits 1982 eine Perspektive für die Lösung des Jahrhundertkonfliktes aufgezeigt. Dieser Weg wurde von den politisch Handelnden jedoch nicht beschritten. Dies war Anlass, sein Buch nochmals zu lesen. Der Autor ist seit 1999 Direktor des Simon Dubnow Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig.

Dan Diner verfasste seine Studie vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Krieges im Libanon vom Sommer 1982. Der Autor liefert eine „politische Bilanz auf geschichtlichem Hintergrund“, die Lösungen aufzeigt, die von „arabischen Palästinensern und jüdischen Israelis“ beschritten werden könnten. Seine Gesamtsicht „rührt aus einer jüdisch-israelischen Erfahrung auf deutschem Vordergrund. Die Intention ist politisch, die Moral universalistisch.“ Die Ergebnisse sind wegweisend.

Die acht Kapitel dieser Abhandlung haben es in sich. In Anbetracht der Emotionalität, die der Nahostkonflikt immer wieder hervorruft, wäre die Veröffentlichung eines solchen Buches heute wahrscheinlich nicht mehr möglich. An dieser Veröffentlichung lässt sich beispielhaft zeigen, wie bizarr die „These“ - „Antizionismus“ = „Antisemitismus“ - ist. Dass ernstzunehmende Kreise dieser Politthese Plausibilität abgewinnen können, ist frappierend. Politische Absicht dieser „These“ ist, die letzten kritischen Stimmen gegen die israelische Besatzungspolitik zum Verstummen zu bringen.

Für Dan Diner war es noch selbstverständlich, dass es sich im Nahen Osten um eine „zionistische Kolonisation“ handele, die gegenüber den ursprünglichen Bewohnern des Landes, den „palästinensischen Arabern“, großes Unrecht begangen habe. Bereits 1982 stellte er fest, dass dieser Konflikt kein „territorialer“ und kein „Konflikt unterschiedlicher Gesellschaftssysteme oder ein Konflikt zweier Exponenten internationaler Lager“ ist; „dieser Konflikt ist vor allem ein demographischer, d. h. bevölkerungspolitischer Natur“. Ariel Sharon brauchte immerhin bis 2005, um dies zu verstehen und die politischen Konsequenzen im Gaza-Streifen zu ziehen.

Bei der israelischen Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens handelt es sich um „ein Phänomen, das sich wie ein roter Faden durch den gesamten Konflikt zieht, nämlich die zionistische Kolonisation des Landes, seine Umwandlung von arabischem in jüdisches Gebiet“. Wäre dieser Konflikt nur ein territorialer, ließe er sich durch die Gründung eines Nationalstaates lösen. Die Palästinafrage ist nach Diner für die palästinensischen Araber aber auch eine „soziale Frage“. „Es handelt sich um das Problem einer durch den zionistischen Kolonisierungsprozess mit der Absicht einer jüdischen Nationalstaatengründung einhergegangenen und einhergehenden Deklassierung einer Bauernbevölkerung.“ Folge davon ist, dass sich im palästinensischen Bewusstsein zwei Momente vermischen: das gewachsene Nationale, das auf die Herstellung eines eigenen Palästinenserstaates drängt, und „die konkrete Forderung der Rückkehr nicht etwa nach Palästina als einem arabischen Nationalstaat der Palästinenser, sondern die Rückkehr zum verlorenen Boden, zum verlorenen Ort und zur verlorenen Lebenswelt“. Die durch die „zionistische Landnahme erzwungene Landlosigkeit“ schafft Identität. Sie wird noch ergänzt durch den „Tag des Bodens“, der seit dem 30. März 1976 von den israelischen Palästinensern begangenen wird. Anlass des gesamtarabischen Streiks in Israel war die Politik der Regierung von Yitzhak Rabin, die umfassende Bodenkonfiskationen in Galiläa durchführte.

Für den Autor sind die Entwicklung eines palästinensischen Nationalbewusstseins und die Herausbildung ihrer besonderen Identität als Palästinenser „ohne die von ihnen als Angriff erfahrene zionistische Kolonisation des Landes mit dem Ziel der Herbeiführung eines jüdischen Staates kaum vorstellbar“. Sie hat sowohl das palästinensische Selbstbewusstsein als auch die Fremdwahrnehmung von den Palästinensern geprägt. Folglich gehören sie auch zur „Erfolgsgeschichte des Zionismus“. Die Widersprüche innerhalb der palästinensischen Sozialstruktur haben nicht unwesentlich zum Erfolg des „zionistischen Kolonisierungsprojektes“ beigetragen. „Diese palästinensische Schwäche machte jenen Vorteil aus, der es den Zionisten erleichtern sollte, die gesellschaftlichen Grundlagen für die Errichtung eines jüdisch-exklusiven Nationalstaates in Palästina gegen die palästinensische Bevölkerung zu setzen.“ Der Autor beschreibt auch die Träger des arabischen Widerstandes gegen die „Kolonisierung“ Palästinas; ihn gab es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1911 wurde die Zeitung „Filastin“ (Palästina) in Jaffa gegründet. Diner beschreibt das strukturelle Dilemma des palästinensischen Anliegens: Sollten sie ihre Sache zu einer gesamtarabischen oder einer partikularen machen?

Das Auftreten des Zionismus hatte nicht nur für die muslimischen und christlichen Bewohner des Landes verheerende Folgen, sondern auch für deren jüdische Bewohner, die schon immer in Palästina lebten. Der Status letzterer wurde durch die Zionisten „in Frage gestellt“. „Durch die zionistische Kolonisierungspolitik wurde die Spaltung der Gesellschaft in Palästina zunehmend ethnischen Kriterien unterworfen. Der Gegensatz spitzte sich zu einem Gegensatz zwischen Juden und Arabern zu.“ Es gab zwar christliche und muslimische Araber, aber gegenüber den Zionisten traten sie als Araber auf. Die Rolle von Haj Amin al-Husseini ist nur zu verstehen, wenn man die Konkurrenz zwischen den Clans der al-Husseinis und der Naschschibis begreift. Dan Diners Erklärungsansatz ist wesentlich profunder und plausibler als die aus politischen Motiven gespeisten Deutungsversuche einiger Islamdilettanten. Die „Fortsetzung des zionistischen Kolonisierungsprozesses in den besetzten Gebieten“ habe die „in Vergessenheit geratenen Ursprünge des Konflikts wieder ins öffentliche Bewusstsein geholt“.

Aufschlussreich und überaus spannend ist das Kapitel „Zionismus als politische Struktur“. Neben dem demographischen Aspekt gehe es um Territorium. Dieses wurde mit dem Ziel kolonisiert, damit es Teil des „jüdischen Staates“ werden sollte. „Um diesem Boden territorialen, d. h. nationalen Charakter beizugeben, musste er mit jüdischen Siedlern besetzt werden.“ Nach Diner war nicht die Ausbeutung der arabischen Landbevölkerung das Ziel, sondern ihre „physische Ersetzung“ durch „jüdische Landarbeiter“. Es waren also nicht ökonomische Interessen wie die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, „sondern die Verdrängung der Araber vom Boden und damit aus den zukünftigen Gebieten des zu errichtenden jüdischen Nationalstaates. Der Zweck war demnach genuin politisch.“

Bis 1947 waren sieben Prozent des Bodens in Palästina in zionistischem Besitz. Durch die Gründung Israels habe sich das aber verändert, weil „der Staat selbst zum Mittel der Landnahme wurde. Dies ist die Bedeutung der Bezeichnung zionistisch, wenn vom Staate Israel die Rede ist. Der Staat beruht demnach nicht auf einem Territorium, das als allgemeine Sphäre, als Rechtsraum, für alle seine Bürger Gültigkeit hat. In Israel wird nur jener Boden als jüdisch und damit zum nationalen Zusammenhang gehörig betrachtet, auf dem die Statuten der zionistischen Institutionen Geltung haben und der von Juden unmittelbar besetzt und bearbeitet wird.“ Es gibt zwar noch einen kleinen Teil des Bodens, der aus privatrechtlichen Gründen Arabern gehört. Aber 95 Prozent des Bodens in Israel proper gehört zionistischen Institutionen. „Diese Böden können nur verpachtet werden, und zwar nur an Juden. (…) Deshalb entlässt der zionistische Bodenfonds die seiner Satzung unterworfenen Böden nicht aus seiner Verfügung.“ So könne es aufgrund der „zionistischen Struktur des Staates“ so etwas wie ein „allgemeines jüdisches Territorium“ nicht geben. „Es gibt jüdischen und arabischen Boden, nicht aber israelisches Territorium.“

Ebenso wenig wie es ein „israelisches Territorium“ gebe, gibt es einen „israelischen Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten“. Es widerspreche der „zionistischen raison d`etre des Staates“, weil eine Gleichbehandlung der arabischen Bevölkerung den „national ausschließlich jüdischen Charakter des Staates aufheben“ würde. Die Diskriminierung von Arabern in Israel führt der Autor deshalb auch nicht auf eine „ideologische Höherbewertung von Juden schlechthin“ zurück, sondern auf das „demographische Prinzip der Aufrechterhaltung einer jüdischen Mehrheit und damit eines jüdischen Nationalstaates in Palästina“. Um dies dauerhaft zu garantieren, müsse eine Politik fortgesetzt werden, „die auf die Wahrung eines nationalen Charakters aus ist, auch danach ständig gegen die arabische Bevölkerung des Landes fortgesetzt werden muss. Und die Mittel einer Politik, die zur Mehrheitserhaltung der Juden beitragen sollen, nennt man zionistisch.“ Eine Aufhebung dieser Struktur würde zur Gleichberechtigung aller Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten führen, so der Autor. „Da eine solche Anerkennung als Gleiche bzw. Gleichberechtigte durch die zionistische Struktur verhindert wird, entwickelt sich dort ein Bewusstsein, das rassitische Züge annimmt.“

Was der Autor im Kapitel „Israel und jüdisches Bewusstsein“ beschreibt, birgt heutzutage enorme Sprengkraft. „Nationales jüdisches Selbstverständnis war und ist mit Zionismus nicht unbedingt identisch.“ So seien die orientalischen Juden aus ihrer jahrhundertealten und im Irak sogar jahrtausendealten Umgebung erst durch die „zionistische Kolonisation in Palästina und später durch den arabisch-israelischen Konflikt“ herausgebrochen worden. „Für sie wurde der Zionismus unmittelbar zur Ursache ihrer Gefährdung.“ Dan Diners Ausführungen zum zionistischen Selbstverständnis und seinem Herrschaftsanspruch, der Rolle des Holocausts in der israelischen Gesellschaft, der Existenzängste der Menschen u. v. a. m. sind sehr fortschrittlich.

Was Diner zu den Kriegen Israels von 1956 und 1967 schreibt, will man in Deutschland gar nicht so genau wissen. Jeder, der die Geschichte des Konfliktes ohne ideologische Scheuklappen betrachtet, kann mit der Feststellung des Autors konform gehen, der über die Rolle Israel im 1956er-Krieg schreibt: „Der gemeinsame Überfall Israels, Englands und Frankreichs im Oktober 1956 auf Ägypten, das wenige Monate zuvor den Suezkanal verstaatlicht hatte, hatte für Israel neben anderem auch das Ziel, sich den USA gegenüber als Zukünftiges zu profilieren, sich als orientalischer Festlandsockel für westliche Interessen anzudienen.“ Die Anatomie dieses Krieges habe aber auch die unterschiedliche Interessenlage der beteiligten deutlich gemacht. Auch waren die USA über „das Vorgehen der drei Aggressoren erbost und erreichten einen Abbruch der Aktion. (…) Amerikanischer Druck führte auch dazu, dass Israel, das noch im November die Annexion des Sinai erklärt hatte, bis März seine Truppen vollständig von der Halbinsel und aus dem Gazastreifen abzog.“ Auch der Junikrieg von 1967 wird von Diner korrekt als Angriffskrieg gesehen: „Und als Israel trotz seiner Warnung die Mai/Junikrise 1967 zu einem Angriff auf alle umliegenden arabischen Staaten nutzte, verhängte Frankreich einen Waffenboykott gegen Israel.“ Die israelischen Politiker und die Generalität wussten, dass kein Angriff der arabischen Staaten bevorstand.

In der aktuellen Debatte geht es immer auch um die Forderung an die Palästinenser, sie mögen das Existenzrechts Israels anerkennen. Vielleicht ist der deutschen Öffentlichkeit nicht klar, wo der Unterschied zwischen der völkerrechtlichen Anerkennung eines Staates und der Anerkennung eines Existenzrechtes eines Staates liegt; letzteres gibt es weder im Völkerrecht noch sonst wo. Niemand würde auf die Idee kommen, das Existenzrecht der USA, Frankreichs, Tongas oder irgendeines anderen Staates zu verlangen. Auch in dieser Frage hat Dan Diner bereits 1982 erhellendes geschrieben: „Der Staat Israel hat seit seinem Bestehen von den Arabern immer wieder seine Anerkennung als Bedingung jeglicher Lösung im arabisch-israelischen Konflikt gefordert. Diese Forderung nach Anerkennung seitens Israels hatte und hat im wesentlichen den Sinn, die arabische Forderung nach Erfüllung der palästinensischen Rechte zu unterlaufen. Damit fordert der Staat Israel implizite nicht nur die Anerkennung seiner staatlichen Existenz als solche, sondern obendrein die Anerkennung seiner zionistischen Voraussetzungen. Und die Anerkennung seiner zionistischen Voraussetzungen bedeutet Aufrechterhaltung und Garantie nicht nur seiner Existenz als Staat, sondern als Nationalstaat aller Juden. Eingeschlossen ist hierin auch die Forderung nach Anerkennung der historischen Legitimität des jüdisch-nationalen Anspruchs auf das Land Palästina. Eine solche Anerkennung hätte zur Folge, dass die zionistische Landnahme in Palästina nicht etwa durch Einseitigkeit und mittels Gewalt, sondern von Rechts wegen erfolgte. Kurz: Die Araber sollen nicht etwa ein nunmehr bestehendes Ereignis eines von ihnen abgelehnten und bekämpften Kolonisierungsprozesses anerkennen, das sich mit und über seine Anerkennung auch im Interesse der Araber beenden ließe; vielmehr soll im nach hinein dieser Prozess als rechtmäßig legitimiert werden, was gleichbedeutend damit wäre, den eigenen Widerstand als historisch unrechtmäßig hinzunehmen oder gar eine Fortsetzung des Kolonisationsprozesses gutzuheißen.“

Um eine solche Anerkennung könne es nicht gehen, so der Autor. Für ihn „geht es um einen zukünftigen Zustand, in dem Juden und Araber als gleiche in einem Gemeinwesen leben können, das ihnen sowohl individuelle als auch national-kollektive Rechte garantiert. Einen solchen Zustand bezeichnen wir als binational.“ Diner fordert von den Israelis „die bewusstseinsmäßige Anerkennung des Unrechts auf sich zu nehmen, das aufgrund und im Laufe des zionistischen Kolonisationsprozesses den palästinensischen Arabern angetan wurde“. Diese Anerkennung könne sich etwa darin ausdrücken, „dass den vertriebenen Palästinensern ein Recht auf Rückkehr in ihre ursprüngliche Heimat zugestanden wird“. Der Autor tritt für eine „Dezionisierung“ Israels ein, weiß aber auch, wie schwierig eine solche zu realisieren ist. Als ein erster Schritt auf diesem Wege einer Loslösung vom Zionismus wäre eine Anerkennung ihrer Nationalität im Lande. Staatstheoretisch gehe es um die „Entpolitisierung der Nationalität, der Trennung zwischen Herrschaft und den jeweiligen nationalen Attributen“. Beide Nationalitäten sollten vom Verhältnis Mehrheit-Minderheit absehen und sich gleiche national-kollektive Rechte zubilligen, um „programmatisch Binationalität anzustreben“, so der Autor.

Was Dan Diner über Ariel Sharon, den Arbeiterzionismus und den zionistischen Revisionismus schreibt, zeugt von profunder Kenntnis. Die Schuld für Deir Yassin, Kibiya oder Sabra und Shatila trügen nicht nur einige Personen, sondern die Verantwortung für diese Taten sei zu einer „gesamtisraelischen geworden“. Sein Schlusssatz mag zwar durch die tagespolitischen Ereignisse von 1982 geprägt gewesen sein, er hat aber auch programmatischen Charakter: „Es kann keine moralisch und politisch begründbare jüdisch-israelische Existenz auf Kosten – nein, heute muss man sagen: auf den Gräbern der Palästinenser geben.“

Wer ein aufrüttelndes und hochaktuelles Buch lesen möchte, sollte dafür sorgen, dass sich ein mutiger Verlag findet, der es neu verlegt. Dazu bedarf es aber der Zustimmung des Autors. Für die politisch interessierte Öffentlichkeit wäre eine Neuauflage ein großer Gewinn; sie könnte dann von den fortschrittlichen Ideen Dan Diners bewusstseinsmäßig profitieren.

Erstmals 2008 veröffentlicht hier und hier. Auch die Habilitationschrift von Dan Diner ist mehr als lesenswert. Sie wurde 2009 hier besprochen. Diese beiden Bücher gehören zu seinen besten.