Samstag, 26. Februar 2011

Der Westen verliert seine Lieblingstyrannen

Als vor 20 Jahren in den Staaten Mittel- und Osteuropas die Menschen auf die Straße gingen und die kommunistischen Regime auf den Müllhaufen der Geschichte expedierten, waren die US-amerikanischen und westeuropäischen Eliten sowie deren Medienvertreter schier aus dem Häuschen. Das US-Imperium war als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorgegangen und konnte nun ungehindert seinem globalen Expansionsdrang über den noch nicht in seinem Sinne demokratisierten Teil des Globus antreten. Die Geschichte schien an ihr Ende gekommen zu sein, verlautete aus wissenschaftlichem Munde.

Heute vollzieht sich etwas Ähnliches in der arabischen Welt, und die westlichen Eliten lavieren zwischen der rebellierenden Bevölkerung und deren Unterdrückern, um ihre „Interessen“ und „Stabilität“ zu wahren. Die Obamas, Merkels, Sarkozys, Camerons und die ganze Schar der westlichen Demokraten zeigen den Menschen ihre kalte, machtpolitische Schulter und verlangen von den regierenden Diktatoren einen geordneten Wandel und von den Menschen Zurückhaltung. Selbst zu dem Massaker des lybischen Obristen an seinen eigenen Untertanen fällt den westlichen Regierungschefs außer diplomatischen Floskeln wenig ein. Die EU hat bei diesen Aufständen völlig versagt. Sie sorgt sich eher um eine bevorstehende „Völkerwanderung" von „biblischen Ausmaße“ in ihren Herrschaftsbereich. Was die westlichen Politiker wollen, sind einige kosmetische Veränderungen, ohne dass sich dadurch die globale Situation radikal verändert. Umgehend werden Hilfsprogramme aus dem Ärmel gezaubert, um den Menschen in typisch kolonialer Manier den bürokratischen Weg zur Demokratie zu weisen. Der Westen tut gerade so, als ob diese „Wilden“ nicht wüssten, wie man Wahlen abhält oder ein Staatswesen aufbaut. Vor lauter Stabilitätsfixierung auf die Tyrannen hat man übersehen, dass es in diesen Ländern eine lebendige Zivilgesellschaft gibt, die bis dato nur keine Stimme hatte.

Der ägyptische Pharao klebte lange an seinem Thron und erklärt der Welt, dass seine korrupten Eliten sich selber reformieren wollten. Man stelle sich vor, Egon Krenz hätte Erich Mielke beauftragt, einen geordneten Machtwechsel in der DDR zu bewerkstelligen. Aber genau das sollte sich in Ägypten vollziehen. Der langjährige Geheimdienstchef Omar Suleiman, Ägyptens oberster Folterer und Chef des berüchtigten Geheimdienstes Al Mukhabarat sowie verlässlicher Partner der CIA bei der Folterung von Verschleppten „Islamisten“ im Rahmen des Rendition-Folterprogrammes der Bush-Administration, sollte den „geordneten Übergang“ im Namen „westlicher Interessen“ als Vizepräsident orchestrieren, und zwar unter Aufsicht des Militärs. Auf Druck der Demonstranten musste das Militär Suleiman absetzen, und er entging kurz darauf nur knapp einem Attentat.

Der Unterschied zwischen den politischen Klassen des ehemaligen „Ostblocks“ und ihren Counterparts in der arabischen Welt liegt darin, dass letztere die Verbündeten und Freunde des Westens sind. Sie sind diejenigen, die Frantz Fanon den Titel für seinen antikolonialen Klassiker „Black Skin, White Masks“ geliefert haben. Die westlichen Eliten haben sich über weit mehr als ein halbes Jahrhundert keinen Deut um Demokratie, Freiheit, Frauenrechte, good governance und andere „westliche Werte“ gekümmert, Hauptsache die arabischen Despotien waren politisch stabil und ihre Herrscher dem Westen wohlgesonnen, dann konnten sie mit ihren Untertanen machen, was sie wollten. Der Westen schaut bis heute bei seinen „guten“, sprich westlich-orientierten Diktatur-Freunden nicht so genau hin, wie in Irak, Afghanistan, Saudi-Arabien, Jemen, Bahrein oder den Staaten Zentralasiens zu beobachten ist. Die Kommentare zum „Machtwechsel“ in Ägypten sind durchtränkt von kolonial-paternalistischem Denken, indem die westlichen Machthaber ihren Stellvertretern in der arabischen Welt sagen, wie sie sich verhalten sollen und was angeblich in deren Interesse liegt.

Die westlichen Zauberformeln für diese doppelten Standards sind „politische Stabilität“, „US-amerikanische gleich westliche Interessen“, „westliche Werte“, und seit den 9/11-Anschlägen der so genannte „Krieg gegen den Terror“ und „globale Stabilität“. Mit dieser machtpolitischen Begrifflichkeit herrschen westliche Politeliten über Mittelsmänner in der arabischen Welt und darüber hinaus. Haben sich die westlichen Machtpolitiker eigentlich einmal gefragt, welches die Interessen der Menschen in der arabischen Welt sind? Die Ausbeutung ihrer Bodenschätze gehört wohl nicht zu deren Primärinteressen. Warum sollen die Menschen an dieser Art von „politischer Stabilität“ ein Interesse haben, die nur zu ihrem Nachteil ausfällt? Was sie brauchen, ist Wandel, radikaler Wandel, wenn es sein muss, eine Revolution hin zu Demokratie, Menschenrechte und individueller Freiheit. Die westlichen Vorstellungen von „politischer Stabilität“ müssen den geknechteten Menschen „obszön“ vorkommen, weil sie ihnen ihre Würde nehmen und sie in Armut und Elend halten, bei gleichzeitiger Unterstützung der Herrschaft einer Kleptokratie. Wer diese „politische Stabilität“ in Frage stellt, unterminiert die „westlichen Werte“ und eine ominöse Stabilitäts- und Herrschaftsdoktrin. Dieses Denken ist zutiefst rassistisch und neokolonialistisch, weil es den arabischen Völkern ihren Anspruch auf universelle Werte und Würde abspricht.

Warum stehen die westlichen Staatsmänner und Staatsfrauen und deren Intellektuellen, insbesondere die ansonsten streitbaren französischen Philosophen, nicht auf der Seite der rebellierenden Bevölkerungen und verlangen freimütig den Abgang aller arabischen Diktatoren? Insbesondere die französischen Feuilletonstars, die gegen jede Menschrechtsverletzung, die nicht vom Westen oder seinen „willigen Helfershelfern“ begannen werden, protestieren, sind in Bezug auf den Aufstand in der arabischen Welt verstummt. Ein Umsturz der arabischen Regime läge nicht im Interesse Israels, könnte eine Erklärung lauten. Die Veränderungen in der arabischen Welt liegen tatsächlich nicht im Interesse Israels. Man braucht sich da nur die Hysterie in den israelischen Medien anzuschauen. Einige Medienvertreter griffen US-Präsident Obama an, weil er nicht Mubarak unterstützt hat, und sie sehnten sich nach den guten alten Tagen eines George W. Bush zurück. Aber Israels Interessen sind nicht identisch mit westlichen Interessen, ja seine fast 44-jährige Okkupationspolitik ist eine schwere Hypothek für die Glaubwürdigkeit des Westens. Das Land verfolgt eine eigene hegemoniale Agenda im Nahen und Mittleren Osten.

Wie kann es sein, dass Israels Sicherheit durch demokratische Revolutionen in der arabischen Welt bedroht wäre? Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte noch Anfang Februar in der Knesset Folgendes zu Protokoll gegeben: „Alle diejenigen, die den Wert der Freiheit schätzen, werden durch die Aufrufe für demokratische Reformen in Ägypten inspiriert (…) Ein Ägypten, das diese Reformen verabschieden wird, wird eine Quelle der Hoffnung für die Welt sein. Je stärker die Grundlagen der Demokratie sind, desto stärker sind die Grundlagen für den Frieden.“ Wie konnte es kommen, dass plötzlich die israelische Regierung vor freien Wahlen in diesen Ländern mit dem Argument warnt, dass sie nicht zwangsläufig zu Demokratie führen würden? Oder hat sich das traditionelle Denken des israelischen Sicherheitsestablishments durchgesetzt, welches der ehemalige israelische Verteidigungsminister Moshe Arens so „überzeugend“ in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ und später in der „Berliner Zeitung“ vom 2. Februar vertreten hat, dass man mit Diktaturen leichter Friedensverträge abschließen könne: "Frieden schließt man mit Diktatoren." Da es in Israels Nachbarschaft keine Demokratien gab, war man nolens volens gezwungen, mit Diktaturen Friedensverträge zu schließen. Der israelische Präsident Shimon Peres stieß ins gleiche Horn. Auf einem Banque in Jerusalem sagte Peres, dass ein antidemokratisches Regime, das für Frieden ist, besser sei, als eine Demokratie, die gegen den Frieden ist. Er lobte in seiner Rede Mubarak und warnte vor der Gefahr von Wahlen, da sie zu einem Wahlsieg der Muslim Bruderschaft führen könnten. Jetzt wird auch nachvollziehbar, warum man nach dem demokratischen Wahlsieg der Hamas 2006 von Seiten der USA, Israels und der EU alles in die Wege geleitet hat, um die einzige demokratische Arabische Regierung aus dem Amt zu drängen. Hätte die frei gewählte Hamas-Regierung überlebt, wäre Israels Status als der „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ perdu gewesen. Wie die Veröffentlichung der „Palestine papers“ gezeigt hat, scheint es in der Tat leichter zu sein, mit einem demokratisch nichtlegitimierten arabischen „Präsidenten“ wie Abbas und seinen Kumpanen als mit demokratisch gewählten Hamas-Vertretern Frieden zu schließen.

Israelische Politiker und israelische „Arabisten“ entwerfen in den Medien ein Horrorszenario, in dem die Muslim Bruderschaft die Hauptrolle spielt. Demokratische Wahlen könnten sie an die Macht bringen, dann würde es so kommen wie in Iran und Gaza. Demokratie im Nahen Osten liege nicht im israelischen Interesse und stelle eine Gefahr für das Land dar, so der dominante Tenor in der Medienlandschaft.

Wo liegt das Hauptproblem des Westens mit den Revolutionen in der arabischen Welt? Es ist die eingebildete Gefahr einer Herrschaft und Machtübernahme durch „Islamisten“. Die ägyptische Revolution ist primär ein Verlangen der Jugend und der Mehrheit der Ägypter nach Freiheit. Das Mubarak-Regime lag wie Mehltau über dem Land. Die Revolution wurde nicht von „Islamisten“ oder Vertretern der Muslim Bruderschaft gesteuert oder gar entfacht. Auch in Tunesien, Libyen, Jemen und andernorts haben sie wenig bis nichts zum Aufstand beigetragen. Sie sind in diesem Machtkampf nur ein Akteur unter vielen. Die Verbreitung von Furcht vor „Islamisten“ oder der Dämonisierung der Muslim Bruderschaft durch politische Propaganda dient der Erhaltung des geopolitischen Einflusses des Westens und Israels in der Region, der sich bisher zum Schaden der Menschen ausgewirkt hat. Zusammen mit Mubarak haben Israel und die USA alles getan, um das palästinensische Volk weiter zu kolonisieren und zu unterdrücken. Mubarak und der Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas haben nichts gegen das israelische Massaker an der Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens, bei dem 1 400 Menschen - überwiegend Frauen und Kinder - umgekommen sind, einzuwenden gehabt, obwohl sie darüber vorab informiert gewesen sind. Mubarak hatte sogar die ägyptische Grenze zum Gaza-Streifen geschlossen, damit keiner der Bewohner des Strips aus dem Gefängnis fliehen konnte.

Läuft nach der Revolution in Ägypten nicht doch alles wieder im Sinne des Westens? Die Revolution wird vom Militär in „geordnete Bahnen“ gelenkt, und die USA ziehen die Fäden im Hintergrund. Aber vielleicht haben die „westlichen Wirte“ die Rechnung wieder einmal ohne das Volk gemacht. Es dürfte sehr unwahrscheinlich sein, dass sich das ägyptische Volk mit einer Mubarak-light-Diktatur als Zukunftsvision zufrieden geben wird. Was sich in den arabischen Revolutionen vollzieht, ist eine Niederlage der USA und des Westens in der Region. Am Ende stehen die westliche Doppelmoral und eine unaufrichtige Politik am Pranger. Nicht nur die arabische Welt ist auf die Antworten gespannt.