Montag, 5. Mai 2014

Rupert Neudeck, Radikal leben

„Empört Euch!“ Dieser kurze Essay von Stéphane F. Hessel sorgte 2010 für Furore. Er kritisierte darin politische Fehlentwicklungen und rief zum Widerstand auf. Von einer ähnlichen Radikalität ist die Streitschrift „Radikal leben“ des Journalisten Rupert Neudeck. Die Tugend des Widerstandes müsse im Leben eines aufgeklärten und selbstständigen Bürgers verankert bleiben. In Anlehnung an Albert Camus müsse jeder Mensch diese Entscheidung zum Widerstand alleine treffen, „ohne Rücksicht darauf, ob ich der Einzige bleibe oder nicht“. 

Rupert Neudecks Weg - und man sollte seine Frau Christel Neudeck nicht vergessen – war nonkonformistisch. Dafür stehen das „Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e. V.“, das nach dem Ende des Vietnamkrieges so genannten Boatpeople auf hoher See das Leben rettete, die Organisation „Grünhelme“ baut Schulen, Solaranlagen und Krankenhäuser im Irak, Afghanistan, Pakistan und auch in Palästina. Neudecks Eintreten für die entrechteten Palästinenser und sein Protest gegen die brutale Besatzungspolitik Israels sowie die militärische Unterstützung Deutschlands für Israel hat ihm harsche Kritik der zionistischen Israellobby eingetragen. 

In einigen seiner kurzen Beiträge setzt er seiner Frau Christel ein „Denkmal“ frei nach dem Motto: Hinter einem erfolgreichen Mann steht eine noch erfolgreichere und stärkere Frau! Sie war das „Komitee“, das beide in ihrer Wohnung gegründet und von dort aus auch geleitet haben. „Die Heldin dieses radikalen Lebens war Christel Neudeck, nicht etwa ich.“ Neben diesem „Familienunternehmen“ zogen die Neudecks noch drei Kinder groß; alleine dies ist ein Full-Time-Job. Die gelebte Radikalität speist sich auch aus ihrer Religiosität. Mit der Wahl von Papst Franziskus scheint die radikale Lebenseinstellung noch einmal einen neuen Schub bekommen zu haben. Radikales Leben sei das, „was der neue Papst uns aufgibt“.

Für Neudeck sind Bürokratien manchmal ein Gräuel. Hätte er sich immer an Vorschriften gehalten, keines seiner Projekte wäre über das Planungsstadium hinausgekommen. Wie er die bürokratischen Hürden auch mit Hilfe von Bürokraten überwunden hat, so ärgern ihn die politisch-korrekten Barrieren, von der die Republik nur so wimmelt. Wohin diese verkorkste Geisteshaltung führt, lässt sich aus einem Antwortbrief eines Bürokraten der Senatsverwaltung in Hamburg auf eine Bitte Neudecks ablesen, der sich nur als „Türöffner“ für die geretteten Vietnamesen zur Verfügung gestellt hatte, damit diese in Hamburg einen Gedenkstein in Erinnerung an ihre Rettung aufstellen könnten. 

Neudecks Brief an Ole von Beust, Hamburgs damaligen Ersten Bürgermeister, vom 8. März 2006 wurde zügig am 26. September (!) beantwortet. Der Antwortbrief eines Senatsdirektors an den deutsch-vietnamesischen Initiator sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Er zeigt, wie verkorkst das Bewusstsein eines Teils der bürokratisch-politischen Klasse in Deutschland ist. „In der nächsten Umgebung der Landungsbrücken existieren bereits zwei Gedenktafeln. Diese haben mit ihrem Bezug zu jüdischen Flüchtlingen und Emigranten einen klaren Anknüpfungspunkt zur deutschen Geschichte und reflektieren damit auch deutsche Schuld. Das Anbringen weiterer Tafeln, die sich auf Flüchtlinge in anderen Weltgegenden beziehen, könnte als ein Versuch einer Relativierung der Judenverfolgung in Deutschland und des Holocaust empfunden werden und damit zu ungewollten und nicht unerheblichen Irritationen führen.“ Abschließend wird noch für Verständnis dafür geworben, das die Hansestadt Hamburg dieses Anliegen „nach intensiver Prüfung und eingehender Abwägung leider nicht unterstützten kann“. 

Neudeck weist noch auf weitere gesellschaftliche Defizite und Gefährdungen der Freiheit hin, die sich zum Beispiel aus dem „Verstöpseln“ durch die neuen technischen Gerätschaften ergeben und die den meist jungen Menschen ermöglichen, freiwillig ein Monadendasein zu führen. Er plädiert für mehr Freiheit, die Mut erfordert. Die Freiheit ist Risikobehafteter als die Sicherheit, die etwas für Mutlose ist. „Wenn wir nicht bereit sind, uns zu ändern, werden wir auch die Gesellschaft um uns nicht verändern.“ Rupert und Christel Neudeck zeigen den Lesern/innen, dass ein geglücktes Leben auch gegen erhebliche Widerstände gelingen kann. Jeder muss aber bei sich selber anfangen. Ein ermutigendes Buch.

Radikal leben, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh-München 2014.