Sonntag, 31. Januar 2010

„Nichts ist gut in Afghanistan“

Mit dieser harmlosen Feststellung hat die Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Margot Käßmann, in ihrer Neujahrspredigt die politische Elite und die Meinungsmacher in helle Aufregung versetzt. Ihre Worte waren nach über ächtjähriger Besetzung und Krieg in Afghanistan mehr als überfällig und stellen eine adäquate Zustandsbeschreibung dar, die durch die Afghanistan-Konferenz in London mehr als bestätigt worden ist. Seit mehr als acht Jahren führen die USA und ihre Nato-Verbündeten einen „illegalen Krieg“ gegen die Menschen in Afghanistan, wie Francis A. Boyle, Professor für Völkerrecht an der Universität von Illinios in Champaign, in seinen Buch „Tackling America´s Toughest Questions“ feststellt.

Auf der Afghanistan-Konferenz in London wurde zwar so getan, als ob die Militärallianz zu einem Verein von Sozialarbeitern mutiert wäre, nichtsdestotrotz wird der Krieg gegen die Taliban intensiviert und fortgesetzt. Das Regime von Hamid Karzai schrieb den Nato-Truppen gleichzeitig ins Stammbuch, dass es ungefähr 15 Jahre dauern kann, bis sie Afghanistan werden verlassen können. Daneben brauche er eine Milliarde US-Dollar, um Taliban durch ordentliche Gehaltszahlungen von ihrem Widerstand gegen seine illegitime Regierung abbringen zu können. Diese aufgewärmte Schnapsidee wurde auch schon einmal von einem früheren „Präsidenten“ Afghanistans unter sowjetischer Besetzung, Mohammed Najibullah, praktiziert. Anstatt über die „Illegalität“ der Besetzung Afghanistans durch den Westen zu reden, wurde die Eskalation des Konflikts durch eine Truppenaufstockung beschlossen. Parallel dazu sollen „Resozialisierungsprogramme“ für diejenigen gestartet werden, die „Nein“ zur Besetzung Afghanistans sagen, und dies ist der überwiegende Teil der Bevölkerung, die vom Karzai-Regime nicht profitieren. Welches Ziel verfolgen eigentlich die westlichen Truppen in Afghanistan? Diese Frage wurde bisher nie beantwortet. Wenn im Land eine einigermaßen funktionierende Demokratie aufgebaut werden soll, müssen die Truppen zirka weitere 500 Jahre dort stationiert bleiben, wollen sie, dass es so ist wie Somalia, können sie sofort abziehen. Oder dient das Land als Aufmarschgebiet gegen Russland, China oder den Iran, um deren geopolitischen Einfluss einzudämmen?

Alles begann offiziell mit 9/11. Die versammelten Politiker hätten über das zentrale Dilemma des Westens in London diskutieren müssen: Afghanistan hat die USA nicht angegriffen. Es gab also keinen Grund, warum dieses Land vom Westen in diese humanitäre Katastrophe gestürzt worden ist. Den Politikern sei Boyles Buch als Bettlektüre empfohlen. Ob sie es kennen lernen wollen, darf jedoch bezweifelt werden. Es würde ihre vom „war on terror“ getrübte Sichtweise zu sehr durcheinander bringen.

Die 9/11-Anschläge wurden von Kriminellen in den USA verübt. Keiner von ihnen war Afghane, 15 dagegen Saudis. Die monströse Tat hätte gemäß Völkerrecht und inneramerikanischem Recht geahndet werden können, so die Argumente Boyles. Auf völkerrechtlicher Ebene durch die „Montreal Sabotage Convention“ von 1971 wie im Lockerbie-Fall und durch die Durchsetzung der US-Strafgesetze, in denen eindeutig geregelt ist, was terroristische Akte sind. Auch die Terroranschläge in Kenia und Tansania wurden nach US-Strafrecht als terroristische Akte eingestuft. Beide Möglichkeiten wurden von der Bush-Administration ignoriert. Direkt nach dem Anschlag bezeichnete Bush dieses Verbrechen als einen „act of terrorism“, was es auch war. Nach Beratungen mit US-Außenminister Colin Powell nannte er das Verbrechen wenig später einen „act of war“, was es natürlich nicht war, da kein Land die USA angegriffen hatte. Darüber hinaus wurde die völlig unhistorische Parallele zu Pearl-Harbor gezogen. Alle völkerrechtlichen „Argumente“ oder die anderen abstrusen Rechtskonstruktionen dienten letztendlich als Vorwand, um Rache und Vergeltung für die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu üben, so der Völkerrechtsprofessor. Unter dem Schock von 9/11 habe der US-Kongress Bush wohl freie Hand unterhalb einer förmlichen „Kriegserklärung“ gegeben.

Obgleich bekannt war, dass die afghanische Regierung nichts mit dem Anschlag zu tun hatte, stand sie sofort im Fokus der USA. Die Taliban-Regierung wurde ultimativ aufgefordert, Osama bin Laden zwecks eines Prozesses an die USA auszuliefern. Dazu hätte es aber konkreter Beweise bedurft, die die US-Regierung nicht liefern konnte. Die afghanische Regierung war aber bereit, bin Laden an ein muslimisches Land auszuliefern und ihn auf der Basis der Scharia anklagen zu lassen. Dies wurde von Bush beiseite gewischt und die Taliban-Regierung nochmals ultimativ aufgefordert, bin Laden umgehend an die USA auszuliefern.

Auch der UN-Sicherheitsrat gab Bush kein grünes Licht für einen Angriff auf Afghanistan. Die Bush-Regierung wandte sich an den UN-Sicherheitsrat, um eine Legitimation für einen Angriff gegen das Land zu bekommen wie weiland Bush senior, als diesen der UN-Sicherheitsrat ermächtigte, Saddam Hussein aus Kuwait zu vertreiben. Bush junior wurde eine solche Resolution verweigert, weil keine Aggression Afghanistans vorlag. Auch der zweite Versuch, in dem sich die USA auf Artikel 51 der UN-Charta beriefen, der das Recht auf Selbstverteidigung regelt, scheiterte. Dieser Artikel kommt nur zum Tragen, wenn es einen Angriff eines Staates gibt und dadurch die Souveränität oder die Sicherheit des angegriffenen Staates gefährdet gewesen wäre. Dies war durch 9/11 jedoch nicht gegeben. Auch die „Beweise“, die der Sondergesandte Taylor den Sicherheitsrat vorgelegt hatte, überzeugten diesen nicht.

Was die USA dagegen bekamen, war eine deutlichere Sprache. Der Sicherheitsrat behielt sich in seiner Resolution 1368 „all necessary means“ vor. Von einer Blankovollmacht für einen militärischen Angriff war nicht die Rede. Auch in Resolution 1373 erhielten die USA keine UN-Legitimation für einen Angriff. Der Sicherheitsrat deutete an, dass das Problem vor US-Gerichte gehöre. Ebenso unzutreffend ist die Behauptung, es habe nach Nato-Vertrag Artikel 5 ein „Bündnisfall“ vorgelegen. Kein Nato-Land wurde durch Afghanistan angegriffen. Artikel 5 des Nato-Vertrages kommt aber auch nur zusammen mit Artikel 51 der UN-Charta zum Tragen, da friedenssichernde Maßnahmen allemal Vorrang vor kriegerischen Aktionen haben. Die USA und ihre 42 Verbündeten führen also Krieg gegen Afghanistan, ohne dazu von einem internationalen Gremium legitimiert worden zu sein, außer durch Selbstlegitimation, so Boyle. Dass die Nato den Bündnisfall beschlossen hat, ist der Tatsache geschuldet, dass die Mitglieder immer das tun, was die USA ihnen vorgibt. So wurde das Bündnis nach dem Verschwinden der Sowjetunion umfunktioniert in eine Allianz zur weltweiten Intervention und Kriegführung unter Führung der USA, obwohl es nach Nato-Vertrag als ein Verteidigungsbündnis zur Verhinderung eines Krieges in Europa geschaffen worden ist.

Der Westen hätte auf der Afghanistan-Konferenz ehrlich zu sich selber sein und sich eingestehen sollen, dass nach mehr als acht Jahren Krieg, das stärkste Militärbündnis der Welt gegenüber bewaffneten Aufständischen gescheitert ist wie weiland die Sowjetunion. Auch gilt es, sich Rechenschaft über die wirklichen Motive des Krieges abzulegen. Abgesehen davon, dass die USA den Angriff auf Afghanistan vermutlich schon vor 9/11 geplant hatten, geht es in diesem Krieg nicht um solch hehre Ziele wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte oder „westliche Werte“, wie der Westen vorgibt, sondern um Ölrouten und die Öl- und Gasvorräte Zentralasiens. Afghanistan als Transitland für ein Piplineprojekt ist da von überragender Bedeutung. Darüber hinaus spielen geopolitische Überlegungen eine zentrale Rolle. So wollen die USA den Einfluss Russlands und Chinas in Zentralasien zurückdrängen und das Land als zusätzliches Aufmarschgebiet gegenüber dem Iran nutzen. Die Ausdehnung des Krieges auf Pakistan trägt zur weiteren Destabilisierung der gesamten Region bei.

Dieser Krieg widerspricht nicht nur westlichen Interessen, sondern auch allen „westlichen Werten“, die in dieser unwirtlichen Gegend zur Disposition stehen sollen. Dass die Freiheit am Hindukusch verteidigt werden soll, ist zu einem „running gag“ politischer Rhetorik geworden. Haben wir nicht durch diesen Krieg gegen das afghanische Volk erst eine „Terrorgefahr“ geschaffen, die skrupellose Machtpolitiker uns eingeredet haben, und die sich jetzt als „self-fulfilling prophecy“ bestätigt? Spiegel online meldet am 30. Januar 2010, dass die Taliban nach eignen Angaben „keine Bedrohung für das Ausland darstellen und nur im Interesse der Afghanen kämpfen“. Zu den „Taliban“ kann jeder gerechnet werden, der „Nein“ zur Besetzung Afghanistans sagt, und dies ist die Mehrheit der Bevölkerung. Es scheint, als ob der Begriff „Taliban“ einer Chiffre für Widerstand gegen die Besetzung geworden ist. Die „Taliban“ entpuppen sich als Hydra; je mehr „der Westen“ tötet, desto mehr bekennen sich zu den „Taliban“.

Sich auf eine Regierung als Partner zu verlassen, der jegliche Legitimation fehlt, widerspricht „westlichen Werten“ und Interessen. Soldaten für Drogenbarone und eine bis auf die Knochen korrupte Regierung sterben zu lassen, ist zynisch, und dies will der Westen doch wohl nicht sein? Je länger der Westen die Karzai-Regierung unterstützt, desto unglaubwürdiger wird sein Einsatz für „westliche Werte“, deren Erwähnung in der muslimischen Welt nur noch ein verächtliches Lächeln hervorrufen. Diese Afghanistan-Konferenz hat wieder einmal eine Chance verpasst, über die wirklichen Motive des Westens zu reden. Aber dies dürfte nicht die letzte Konferenz dieser Art gewesen sein. Vielleicht geht es das nächste Mal realistischer zu, wenn die Existenz des westlichen Bündnisses zur Disposition steht. Für Boyle jedenfalls stellen „humanitäre Interventionen einen Vorwand für Aggressionen dar“.

Samstag, 30. Januar 2010

Tackling America´s Toughest Questions

Der Krieg gegen Afghanistan sei “illegal”. Humanitäre Interventionen dienten dem Westen als Vorwand für Aggressionen gegen die Völker des Südens. Die Öffentlichkeit müsse den neokonservativen „Kriegstreibern“ widerstehen, die die USA in ein weiteres militärisches Abenteuer gegen Iran treiben wollen. Diese und zahlreiche weitere kritische Forderungen erhebt der an der Universität von Illinios in Champaign lehrende Völkerrechter Francis A. Boyle in seinem neusten Buch.

Die Publikation enthält zahlreiche Interviews, die Boyle seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in alternativen Medien gegeben hat. Daneben gibt es weitere Beiträge, die sich mit der Politik von George W. Bush auseinandersetzen und dessen Politik als einen Anschlag auf die US-Verfassung, das Völkerrecht und die Weltordnung beschreiben. Die Beiträge und die Interviews machen deutlich, dass der Krieg gegen Afghanistan „illegal“ ist, von dem Überfall auf den Irak gar nicht zu sprechen, und dass dem hehren Ziel einer „humanitären Intervention“ in Wahrheit Aggressionen des Westens gegen die Völker des Südens zugrunde liegen, um sich deren Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas anzueignen. Ein „Markenzeichen“ der Clinton-Administration war „its manipulation of the doctrine of ´humanitarian intervention` and end of ´humanitarianism` in order to justify its illegal, aggressive, and imperialist interventions around the world”.

Der Autor spricht dem Westen ab, in Afghanistan Freiheit, Demokratie oder Menschenrechte durchsetzen zu wollen. Der wahre Grund liege in den Erdöl- und Ergasvorräten Zentralasiens sowie der Kontrolle der Piplines, die durch Afghanistan verlaufen. Hinzu kommen weitere geopolitische Überlegungen wie die Zurückdrängung des Einflusses Russlands und Chinas sowie des Irans. Die Destabilisierung Pakistans liege ebenfalls im westlichen geopolitischen Interesse, um es aus Afghanistan zurückzudrängen. „The destabilization and fragmentation of this nuclear-armed Muslim state was already part of the Bush jr. necoconservative agenda.”

Boyle gehörte zusammen mit Ramsey Clarke, einem früheren Justizminister unter US-Präsident John F. Kennedy, zu denjenigen, die Mitglieder des US-Kongresses davon überzeugen wollten, gegen Bush ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, was aber an den Demokraten gescheitert ist, weil sie fürchteten, ihrem Präsidentschaftskandidat John Kerry könnten dadurch Nachteile entstehen. Aus Boyles Äußerungen wird jedoch deutlich, dass die Demokraten im US-Kongress auch deshalb kein Interesse zeigten, weil sie Bushs „war on terror“ mit ganzem Herzen unterstützt haben.

Illusionslos hat er Barack H. Obama aufgrund seiner Aussagen und der Auswahl seiner Berater analysiert. Die irrationale Euphorie der Europäer konnte er nie nachvollziehen. Obamas Präsidentschaft entspreche eher einem dritten Term von Bill Clinton als etwas völlig Neuem. „You are not going to get change with Joe Biden.“ Die Ernüchterung über Obama scheint endlich auch in Europa angekommen zu sein. Für Europa dürfte die Einschätzung Boyles über sein Land etwas gewöhnungsbedürftig klingen: „The United States and its Nato Alliance consitutes the greatest collection of genocidal states ever assembled in the entire history of the world. (...) Humanity bears a ´responsibility to protect` the very future existence of the world from the United States and Nato.” Die politischen Eliten in Europa dürften wenig Interesse an dieser Sichtweise der Welt haben. Der Autor hält den Finger in die Wunde eines taumelnden Empires. Europa sollte sich dafür interessieren. Die Zukunft bleibt allemal spannend so wie der Inhalt dieses Buches.

Freitag, 1. Januar 2010

Die Globalisierung religiöser Gewalt

Warum kam es zu Beginn des 21. Jahrtausends zu einem Ausbruch religiös motivierter Gewalt? Dieser Frage geht Mark Juergensmeyer, Professor an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, nach. Anhand zahlreicher Fallstudien und Interviews, die der Autor mit Vertretern christlicher Milizen, Hamas, Hisbollah, im Irak und Iran sowie an fast allen Brennpunkten weltweit geführt hat, vertritt er die These, dass das Wiederaufblühen der religiösen Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts in weiten Teilen dem Verlust des Glaubens an den säkularen Nationalismus in einer zusehends globalisierten Welt geschuldet sei. Die Globalisierung habe diesen Trend zum Religiösen noch beschleunigt. Das westliche Konzept des Nationalstaates konnte in zahlreichen Ländern, in denen es religiös motivierte Aufstandsbewegungen gibt, keine Wurzeln schlagen.

Diese These Juergensmeyers ist in Teilen zu eindimensional und gilt natürlich nicht für alle Staaten. In Afrika gibt es einige so genannte „failed states“, aber keiner hat religiös motivierte Gewalt hervorgebracht. Selbst Somalia, das als ein klassisches Beispiel eines gescheiterten Staates angesehen werden kann, kämpfen verschiedene Clans unter dem Banner des Islam um die Zentralgewalt. Ob sie vom Islam inspiriert werden, lässt sich nicht eindeutig sagen. Auch für Iran trifft die These des Autors nicht in Gänze zu. Der Schah von Persien war ein autokratisch-diktatorischer Herrscher, der ganz bewusst einen Staat geschaffen hat, der sich auf eine tausendjährige persische Tradition berufen hat. Er scheiterte nicht nur, weil er eine US-amerikanische Marionette war, sondern auch, weil er die religiöse Tradition seines Landes mit Füßen getreten hat.

Für Mark Juergensmeyer haben die religiös motivierten Aufstandsbewegungen wenig mit Religion zu tun. Religion sei ein Surrogat für Nationalismus, um den Nationalstaat funktionsfähig zu halten. Die „Religiösen“ treten mit dem Anspruch auf, es besser machen zu wollen. Sie bemühen sich um eine innerdemokratische Legitimation. Aber liefert ihnen nicht gerade „der Westen“ mit der Praktizierung doppelter Standards einen Vorwand, um ihren anfangs verkündeten demokratischen Anspruch als Vehikel für ihren absoluten Herrschaftsanspruch zu missbrauchen?

Der Autor hat mit Vertretern solcher Aufstandbewegungen, die vom Westen verteufelt werden wie Hamas und Hisbollah, oder selbst mit Vertretern der Islamischen Republik Iran gesprochen. Genau hier fängt das eigentliche Problem des Westens an, der sich aus ideologischen Gründen des Dialogs mit diesen Bewegungen oder Staaten verweigert. Einige westliche Staaten sind nicht bereit, sich die Argumente der „Verdammten dieser Erde“ anzuhören. Dass dies ein Fehler ist, zeigt Juergensmeyer. Selbst diese „Verdammten“ haben überzeugendere Argumente für ihr Anliegen als „der Westen“. Dass jedes unterdrückte Volk ein Recht auf Widerstand hat, ist bekannt. Die besagte UN-Resolution ist eindeutig. Die christliche Soziallehre rechtfertigt sogar den „Tyrannenmord“ und den Widerstand gegen eine lang andauernde ungerechte Unterdrückungsherrschaft. Jedes unterdrückte und kolonisierte Volk hat also gute juristische und moral-ethische Argumente für den Widerstand gegen die Besetzung ihres Landes, sei es in Irak, Afghanistan, Palästina oder Tibet.

Für einen renommierten Wissenschaftler wie Juergensmeyer ist es unüblich, sich vor Ort ein Bild über die Motive der religiösen Aufstandsbewegungen zu machen. So hat er u. a. auch mit dem paralysierten Scheich Ahmed Yassin im Gaza-Streifen gesprochen, den Israel am 22. März 2004 durch eine Rakete - abgefeuert aus einem US-Made Apache-Kampfhubschrauber - aus seinem Rollstuhl gebombt hat. Scheich Yassin beschrieb seine islamische Widerstandsbewegung (Hamas) „als das Herz der palästinensischen Opposition“. Eine säkulare Befreiungsbewegung sei zutiefst irregeleitet, da „der Islam so etwas wie einen säkularen Staat nicht kennt“, so Yassin. Der Westen sollte wissen, dass „die Unterscheidung zwischen der PLO und der Hamas eine künstliche“ ist. Auf Abbas zu setzen, ist ebenso verfehlt wie auf Hamid Karzai oder Nuri al-Maliki, da allen die Legitimation ihrer Völker fehlt.

„Selbst in Iran ist die Macht des Klerus beschränkt.“ Der Westen spricht aber vereinfachend von einem „Mullah-Regime“. Die Vielfältigkeit des Landes fällt so ebenso unter den Tisch wie die Heterogenität der politischen Elite, was das ideologisch gefärbte Zerrbild als Selbsterfüllende Prophezeiung erscheinen lässt. Zeichnet vielleicht die westliche Politrhetorik bewusst ein Schwarzweißbild des Landes, um einen Angriff auf dessen Atomanlagen ihren Bevölkerungen leichter vermitteln zu können? Iran sei alles andere als eine Theokratie. Ebenso sei in anderen religiös motivierten Aufstandsbewegungen die Macht der Geistlichen stark begrenzt. Selbst al-Qaida werde von einem Ingenieur und einem Arzt geführt. Juergensmeyer weist darauf hin, dass die meisten Bewegungen des religiösen Aktivismus organisationsintern demokratische Verfahren etabliert haben. „Über die internen Organisationsstrukturen radikaler Bewegungen von Sri Lanka bis Algerien und von Palästina bis Montana wurde entweder durch breite Konsultation der Mitglieder oder durch Wahlen entschieden.“ Dieser innerdemokratische Prozess sagt aber wenig über die Garantie von Minderheitenrechten aus. Der Autor stellt fest, dass diese Sorge mehr als berechtigt ist.

Juergensmeyer hält die Militärisierung der Konflikte gegenüber religiös inspirierten Aufständischen für verfehlt. „Eine überzogene Reaktion der Regierung verschlimmert nur die Lage.“ Den USA und der Nato sollte Folgendes zu denken geben. In einem Interview äußerte ein Mullah in Bagdad: „Der Islam wird angegriffen.“ Die Präsenz der US-Amerikaner im Irak richte sich gegen die Religion seines Landes; man wolle kein säkulares politisches Regime nach amerikanischem Vorbild. Gilt dies nicht auch für Afghanistan, wo die Nato und die mit der Invasion gekommen Nicht-Regierungsorganisationen par tout den westlichen Lebensentwurf zur Regel machen wollen? Ein Abzug ist heute eher geboten als morgen, bevor die Niederlage noch demütigender ausfällt als bisher.

Die letzten Seiten des Buches sollten gründlich gelesen und bedacht werden, weil die Möglichkeit besteht, dass es zu einem Krieg zwischen Religion und Vernunft kommt. Äußerungen von Scharfmachern im Westen, den Iran selbst mit Atomwaffen anzugreifen, würde das Tor zur Hölle aufstoßen, die selbst die Befürworter solcher Szenarien verschlingen würde. Bedachtsamkeit, Langmut und die Tugend des Zuhörens und des Dialogs sind seitens des Westens gefragter als Kriegsgeschrei. Allen Scharfmachern und Kriegstreibern muss die rote Karte gezeigt werden.

Ein flüssig formuliertes Buch, das Anregungen gibt, wie man jenseits von militärischer Gewalt mit religiösem Nationalismus umgehen sollte. Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Westen muss sich von seinem ideologisch bestimmt Konzept des Antiterrorkrieges verabschieden.