Sonntag, 4. Mai 2008

Die Ersten Israelis von Tom Segev

Mit der Staatsgründung Israels vor 60 Jahren ging ein zionistischer Traum auf Eigenstaatlichkeit in Erfüllung. Für die damaligen Politiker wurden ihre diplomatischen Bemühungen durch die UN-Teilungsresolution vom 29. November 1947 gekrönt. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet – 50 Jahre nach Theodor Herzls programmatischer Schrift „Der Judenstaat“. Am nächsten Tag griffen die Armeen verschiedener arabischer Länder den jungen Staat an. Bis zu einem Waffenstillstand 1949 waren zirka 700 000 arabische Palästinenser geflohen oder wurden vertrieben. Für sie bedeutet die Staatsgründung Israels eine Katastrophe – al-Nakba.

Tom Segev gehört zu den bekanntesten Journalisten Israels; ebenso zählt er zu den renommiertesten Historikern seines Landes. Dieses Buch erschien bereits 1986 auf Englisch. Nach 22 Jahren liegt es auf Deutsch vor. Es beschreibt die Ereignisse der ersten Jahre nach der Staatsgründung und gliedert sich in vier Teile: „Zwischen Juden und Arabern“, „Zwischen Veteranen und Neuankömmlingen“, „Zwischen Orthodoxen und Säkularen“ sowie „Zwischen Vision und Realität“. Die Ausführungen beruhen zu weiten Teilen auf erstmals zugänglichen Quellen. Sie dokumentieren eine etwas andere und differenzierte Sicht der Ereignisse, als sie manchen lieb sein kann. Der Autor zeichnet ein Bild der Gründergeneration mit all ihren Widersprüchen. So trafen die Überlebenden des Holocaust auf eine Siedlermentalität, die sich die Schaffung eines „neuen" Juden auf ihre Fahnen geschrieben hatte, der sich niemals mehr zur „Schlachtbank“ führen lassen werde. Eine solche Haltung war nach den Gräueltaten, die im deutschen Namen begangen worden sind, mehr als verständlich.

Als das Buch erstmals erschien, wurde von den Kritikern behauptet, es sei ein „subversiver Versuch“ einer neuen postmodernen Geschichtsschreibung, „die dem Zionismus feindlich gegenüberstehe“. Segev zeigt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe sogar Verständnis für eine solche Haltung, denn in einem Staat, dessen Existenz auf grundlegenden historischen Annahmen basiere, „kann jeder Riss in existentiellen Mythen als lebensbedrohlich empfunden werden“. Trotz dieser Haltung wird in keinem anderen Land mit der zionistischen Ideologie so hart ins Gericht gegangen wie in Israel. Auch in diesem Buch kommt Segevs Misstrauen gegenüber der zionistischen Geschichtsschreibung wie der zionistischen Politik zum Ausdruck, gleichwohl ist er aber voller Bewunderung für deren Aufbauleistung. Ja, er beneidet „die ersten Israelis“ ein wenig, „dass sie teilhaben durften an der historischen Aufgabe, einen neuen Staat aufzubauen“.

Israel ist für Segev eine „Erfolgsgeschichte“, aber mit einer brutalen Kehrseite: der Tragödie der Palästinenser. Die Existenz dieses Landes beruhe auf einer bestimmen Geschichtsauslegung, und zwar der zionistischen. Bis zur Freigabe der Archive „besaß Israel eine nationale Mythologie“. Erst seit diesem Zeitpunkt gibt es eine wirkliche Geschichtsschreibung.

Für Segev ist Israel eine gespaltenes Land, „gefangen in einem Kulturkampf, einem Krieg zwischen grundlegender Moral und politischen Werten“. Der Kampf zwischen „Optimismus“ und „Pessimismus“ bringe die Grundhaltung des Konfliktes zum Ausdruck, der heute in Israel tobe. Gleichwohl ist der Autor optimistisch, weil seine Landsleute bereit seien, die „mythenbeladene Vergangenheit abzustreifen“. Trotzdem glauben viele Israelis nicht, dass der Frieden eine Chance habe. Sie sehen „Besetzung, Unterdrückung und Terror als Dauerzustand an“. Viel bedenklicher jedoch ist: „Im Gegensatz zu den ersten Israelis empfinden sie aber keine Begeisterung mehr darüber, in einem eigenen Staat zu leben.“ Eine erste Erklärung hatte der Autor in einem Gespräch in der Sendung Kulturzeit auf 3 SAT vom 31. Mai 2005 gegeben: "Das ganze Land ist ein riesiges Ghetto geworden dadurch, dass wir hinter einer Betonmauer leben müssen."

Tom Segev hat eine ehrliche Bestandsaufnahme der Gründungsphase seines Landes gegeben, die zeigt, unter welchen Schwierigkeiten sich der Aufbau eines Nationalstaates vollzieht. Der Autor zieht den Schleier von dem romantischen Mythos „vom Erblühen der Wüste“. Das Buch ist ein Muss für den politisch Interessierten, die politische Elite sowie für die Wissenschaft.


Israels Irrweg von Rolf Verleger

Rolf Verleger wurde durch die Veröffentlichung seines Briefes an den Vorstand des Zentralrates der Juden in Deutschland (ZJD) über Nacht landesweit bekannt. Darin kritisierte er die bedingungslose Unterstützung der „israelischen Gewaltpolitik“ im letzten „Libanonkrieg“ 2006 durch den ZJD. Eine weitere These lautet: „Das Judentum, meine Heimat, ist in die Hände von Leuten gefallen, denen Volk und Nation höhere Werte sind als Gerechtigkeit und Nächstenliebe.“ Der Autor möchte der Ethik des Judentums wieder den Stellenwert zuweisen, der ihr gegenüber der zionistischen Ideologie eigentlich zusteht.

Mit „Israels Irrweg“ möchte Verleger, Professor für Psychologie am Universitätsklinikum in Lübeck und Mitglied im Direktorium des ZJD, einen Beitrag dazu leisten, dass sich dies ändert. Das Buch gliedert sich in drei Teile: „Wisse, woher Du kommst…“, „… und wisse, wohin Du gehst …“, „… und vor wem Du zukünftig Rechenschaft ablegen musst“. Diese Fragen beantwortet der Autor vor dem Hintergrund der jüdischen Ethik wesentlich überzeugender als viele andere. Der Autor weist auf den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Judentum und Zionismus hin. In ihm sieht er auch die unbeantwortete Frage nach der jüdischen Identität, die er für das Wesentlichste hält. Die Politik Israels raube dem Judentum seine Seele und Identität. Ähnlich argumentierte kürzlich Avraham Burg.

Verleger schreibt über seine tragische Familiengeschichte und seine jüdischen Wurzeln, welche die Tradition seines Glaubens sind. Es folgt eine kurze Geschichte des Zionismus. „Die jüdische nationale Bewegung hatte noch mehr als andere nationale Bewegungen ihre Berechtigung, denn Juden wurden periodisch Opfer von Pogromen.“ Herzl selbst sei kein Anhänger von „Ideen des ´Kampfes ums Dasein` und des ´Übermenschen`“ gewesen. Er propagierte nicht die „Verdrängung der arabischen Bewohner von Palästina, sondern forderte vielmehr ihre Gleichberechtigung in einem multikulturellen Staat“. In seinem Tagebuch notierte er, dass der Staat so gebaut sein solle, damit „ein Fremder zufrieden bei Euch lebt“. Und in „Altneuland“ sprach er sich ausdrücklich dagegen aus, dass „Juden in dem zu schaffenden Staat aufgrund ihrer Herkunft oder Religion eine privilegierte Stellung haben dürften“. Herzl starb im Alter von 44 Jahren 1904 und „erlebte weder den Erfolg noch die Perversion seiner Vision“, so Verleger.

Ebenso diskutiert der Autor die Frage, was es heute angesichts der schwindenden Bedeutung von Religiosität heißt, Jude zu sein. Problematische Ersatzidentitäten sieht er im Nationalismus und im bloßen Anti-Antisemitismus. Besonders lesenswert ist u. a. auch Kapitel 12, in dem er sich mit dem „Vorwurf des ´Antisemitismus` als Mittel zur Ausgrenzung unliebsamer Meinungen“ auseinandersetzt. Er widerspricht der These, Kritik an Israel habe von vornherein und unbesehen als „antisemitisch“ zu gelten. Als eine Alternative stellt er die von ihm initiierte Aktion „Schalom 5767“ vor, mit der die Bundesregierung zum Umdenken in der Palästinafrage aufgefordert wird. Abschließend dokumentiert Verleger eine fruchtlosen Dialog mit einem verbohrten Email-Schreiber.

Für den Autor „steht die Entwürdigung und Ungleichbehandlung der Palästinenser durch Israel und seine jüdischen Bewohner im Gegensatz zu Gottes Auftrag der Nächstenliebe und zum zentralen Inhalt der jüdischen Religion“. Ein traditioneller jüdisch-religiöser Mensch habe also keine Alternative, als das Vorgehen der jüdischen Siedler und der israelischen Regierungen „aus tiefstem Herzen abzulehnen“.

Dieses Buch eignet sich hervorragend als Orientierungsrahmen für eine aus den Fugen geratenen Debatte, in der die Schwarz-Weiß-Malerei überwiegt; die Grautöne findet der Leser bei Rolf Verleger.