Um das Image des Staates Israel in der Welt ist ein heftiger Meinungskampf entbrannt, der mit allen Mitteln ausgetragen wird. Das israelische Reut-Institut hat ein Strategiepapier veröffentlicht, wie und mit welchen Mitteln einer angenommenen „Delegitimierung“ Israels entgegengetreten werden kann. Ebenfalls kursieren im Internet strategische Überlegungen, die darauf abzielen, die internationale Kampagne „Boycotts, Divestment and Sanctions“ (BDS) in Misskredit zu bringen. Dieses so genannte Anti-BDS-Dokument ist auf fünf Jahre ausgelegt und hat zum Ziel, Israel als die Verkörperung der Humanität darzustellen und die BDS-Kampagne in die Defensive zu drängen, sie zu stigmatisieren und zu diskreditieren. Es soll ein Keil zwischen „soft critics and hard delegitimizers“ getrieben werden. Was auf die BDS-Protagonisten zukommt, macht folgender Satz deutlich: „The fight should be hysterical – we forget just how powerful a tool ridicule can be as a weapon in politics, especially in our ´Jon Stewart`culture.” Eine solche hysterische Kampagne musste u. a. die deutsch-israelische Menschrechtsanwältin Felicia Langer anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse durch Bundespräsident Horst Köhler am 16. Juli 2009 für einige Monate über sich ergehen lassen.
Seitdem das Ergebnis einer EU-Umfrage vom Oktober 2003 bekannt wurde, nach der 59 Prozent der Befragten EU-Bürger Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens halten, begann das gesellschaftliche Klima frostig zu werden. In der Folge dieses Umfrageergebnisses wurde jedwede Kritik an der Besatzungspolitik Israels, dessen Verstößen gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte der Palästinenser nicht mehr mit sachlicher Kritik entgegnet, sondern die Kritiker/innen wurden persönlich angegriffen und verleumdet. Die Methoden dieses gesellschaftlichen Mobbings laufen in allen Staaten ähnlich ab. In den USA ist diese Kampagnenform am effektivsten, weil sie von gut organisierten Pressure-Groups orchestriert wird, die John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt als „Israellobby“ bezeichnen. Auch in einigen europäischen Ländern gibt es solche pro-israelischen Interessengruppen, die gegen die Kritiker/innen israelischer Regierungspolitik mit allen Mitteln vorgehen.
Jüngste Opfer dieser Pressure-Groups waren die durch Mobbing-Aktionen bewirkten „Auftrittsverbote“ des israelischen Historikers Ilan Pappé in München und des US-Politologen Norman G. Finkelstein in Berlin und München. Sowohl die Heinrich Böll Stiftung als auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Trinitatiskirche in Berlin, das Amerika-Haus in München sowie die Münchner Stadtverwaltung zogen ihre Zusagen für die Räumlichkeiten nach Protesten dieser Lobbyisten zurück. Damit wurde dem Recht auf freie Meinungsäußerung schwerster Schaden zugefügt. Und die sonst so „hellwache“ Zivilgesellschaft knickte ein, zeigte keine Zivilcourage, kein Rückgrat und machte sich folglich zum „Komplizen“ dieser demokratiefeindlichen Kräfte.
Das Buch „Bedingungslos für Israel?“ hätte also zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Einer der Herausgeber, Hermann Dierkes, Oberbürgermeisterkandidat und Vorsitzender der Ratsfraktion der Partei Die Linke in Duisburg, war ebenfalls Opfer einer Rufmordkampagne, die ihn zum Rücktritt vom Amte des Oberbürgermeisterkandidaten zwang. Dies u. a. auch deshalb, weil Teile seiner eigenen Partei ihn im Regen haben stehen lassen, insbesondere seine Berliner „Parteifreunde“.
In einem Interview mit Felicia Langer für die Zeitschrift „International“ habe ich ihr die Frage gestellt, ob es in der Bundesrepublik Deutschland eine „Israellobby“ gebe: „Ja, natürlich gibt es hier eine Israellobby, die sich als Sprachrohr der israelischen Politik versteht. (…) Die Methoden sind antidemokratisch, anmaßend und gehörten an den Pranger gestellt. Wie lange will sich die Gesellschaft die Bevormundung durch diese Lobby noch gefallen lassen?“ In den USA wurde der angesehene ehemalige US-Botschafter in China und Saudi-Arabien, Chas Freeman, der von US-Präsident Barack Obama für das Amt des Koordinators der 17 US-Geheimdienste vorgesehen war, von der „Israellobby“ so massiv gemobbt, dass er auf den Posten verzichtete. Er schrieb dieser Lobby Folgendes ins Stammbuch, was auch als Charakterisierung für die deutschen Verhältnisse zutrifft: „Die Taktiken der Israel-Lobby stellen Höhepunkte der Schande und Unanständigkeit dar, sie schließen Rufmord ebenso mit ein wie selektiv falsche Zitate, vorsätzliche Verfälschung der Fakten, Fabrikation von Unwahrheiten und vollkommene Missachtung der Wahrheit.“
Herrschen in der Bundesrepublik Deutschland „bitinische“ Verhältnisse, fragen die Herausgeber/in dieses Buches in Anspielung auf die satirische Erzählung „Zensur in Bitinien“ von Primo Levi? Gott sei Dank sei die Bundesrepublik in der glücklichen Lage weder Zensur ausüben zu müssen noch müssten die Menschen sie erleiden, welche die „unverzügliche Verhaftung und Hinrichtung“ des Ertappten zur Folge hätte wie in „Bitinien“. „Umso verwunderlicher ist es, dass eine solche Zensur in Deutschland beinahe lückenlos ausgeübt wird und wirkt. Dies, obwohl niemand die bitinischen Konsequenzen zu gewärtigen hat, und obwohl es nicht einmal eine Zensurbehörde gibt, sondern nur die Öffentlichkeits- und Lobbytätigkeit oder Propaganda eines befreundeten Staates, die gewisse Sprachregelungen und Interpretationen nicht vorschreibt, sondern nur nahe legt. Obwohl niemand gezwungen ist, sich diesen Empfehlungen anzuschließen, auch wenn sie mit großem Nachdruck vorgetragen werden, geschieht dies annähernd geschlossen und in vorauseilendem Gehorsam – offenbar dank einer tief sitzenden deutschen Neigung.“
Der Überfall der israelischen Armee auf den Gazastreifen zur Jahreswende 2008/2009 und das dort angerichtete „Massaker“ (1 400 tote Palästinenser; 14 tote Israelis) und massiven Verwüstungen wurden von der deutschen politischen und medialen Öffentlichkeit mit argumentativen Versatzstücken wie das der „Gewaltspirale“, das der „beiden (grundsätzlich vergleichbaren) Seiten“, das eines Israel, das sich gegen massive, gar Existenz bedrohende Angriffe verteidigen müsse, kommuniziert, so die Autoren/in. Wo es in anderen Ländern massive Proteste gegen dieses „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Richard Goldstone) gegeben habe, „regte sich keine Stimme eines deutschen Intellektuellen und kaum eine kritische Stimme eines deutschen Politikers“. Als aber Hermann Dierkes die Überlegungen des Weltsozialforums zur Durchsetzung von Völkerrecht im israelisch-palästinensischen Konflikt referierte, fielen die „bitinischen Hühner“ unisono über ihn her und starteten eine Rufmordkampagne.
Die Herausgeber/in vertreten einen internationalistischen Ansatz, um dadurch nicht nur die deutsche Engführung in Bezug auf Israel und den Provinzialismus in Sachen Nahostkonflikt zu überwinden, sondern auch die progressiven Sichtweisen und Thesen, wie sie andernorts vertreten werden, dem „deutschen Michel“ näher zu bringen. Ob dies bei der obwaltenden „Schweigespirale“ in punkto Israel gelingen wird, darf bezweifelt werden, wenn man sich die Nibelungentreue einiger Kreise ansieht. Die deutsche Debattenkultur über die Realitäten im Nahostkonflikt sind verstopft und auf einem Niveau, über das das Ausland nur mit dem Kopf schüttelt. Deshalb ist die Einführung der globalen Sichtweise duch 20 Autoren/innen aus sieben Ländern so wichtig, um zu zeigen, was möglich ist und auf welchem intellektuellen Niveau sich in anderen Ländern über Israel und Palästina gestritten wird.
Im ersten Kapitel schildert Hermann Dierkes seinen „Fall“, der eigentlich ein „Fall Die Linke“ und ihr deutscher Sonderweg ist. Dierkes wirft seinerseits den Parteioberen in Berlin vor, ihre Wischiwaschi-Haltung in der Nahostpolitik sei der Furcht geschuldet, sich nicht mit den „Dogmen der deutschen Mainstream-Politik“ zu Nahost anlegen zu müssen und die Linke peu à peu an diese heranzuführen. Abgerechnet wird mit der Gysi-Rede zur Nahostpolitik von Volkard Mosler, eines Mitglieds des geschäftsführenden Vorsandes der Linkspartei in Frankfurt am Main, wenn er schreibt: „Die Logik von Gysis Verständnis für die Notwehr der Eroberer scheint darauf hinauszulaufen, dass die Palästinenser sich dem Schicksal ihrer Vertreibung widerstandlos fügen sollen, um der Gleichbehandlung näher zu kommen, oder dass es gar nicht zu ihrer Vertreibung gekommen wäre, hätten sie sich friedlich verhalten. Eine gewagte Argumentation!“ Sollte Gysi tatsächlich solches in seiner Rede insinuiert haben, zeigt dies nicht nur seine völlig Unkenntnis der nahöstlichen Historie, sondern er scheint sich auch über das Wesen des Zionismus einer Illusion hinzugeben. Darüber hinaus gibt er eine koloniale Attitüde von links zum Besten. Wie man sieht, ist auch die Partei "Die Linke" gegen "the return of the colonial" nicht gefeit, wie es Yitzhak Laor in seinem jüngsten Buch "The Myth of Liberal Zionism" so treffend formuliert hat. Yossi Wolfson, israelischer Menschenrechtsanwalt, graust es bei der inhaltlichen Ausrichtung eines Teils der sich noch als links bezeichnenden Teile der Linken wie der Sekte der „Antideutschen“ oder der Gruppe „BAK Schalom“. Beide verfolgen keine linke, sondern eine rechte, neokonservative Agenda. „Diese neue Rechte, die vorgibt, eine Linke zu sein, missbraucht die Opfer der Naziherrschaft, angeblich für mein Leben und für meine Zukunft. Mir graust es. Und ich will rufen: ´Nicht in meinem Namen!`“.
Im Kapitel „Maßnahmen gegen die Wahrheit, Maßnahmen für die Wahrheit“ wird gezeigt, mit welchen Methoden die Wahrheit unterdrückt wird. Auf Grund der deutschen besonderen historischen Situation komme es in Deutschland nur sehr vereinzelt dazu, einen unverstellten Gedanken oder etwas Kontroverses über den israelisch-palästinensischen Konflikt öffentlich zu machen, begegne man ihm oder ihr mit hilflosen Maßnahmen schwacher Kritiker, denen die Argumente fehlen. „Diffamierungen und Unterstellungen, Aussagen, die aus dem Zusammenhang gerissen, falsch zitiert und entstellt, am besten aber gleich verschwiegen werden. Der oder die Betroffene erfährt kaum Solidarität aus der Öffentlichkeit oder seitens seiner ´Zunft`, sei es die der Medien, der Universität oder der Politik. Ausgerechnet bei einem Thema, über dessen Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis Einigkeit besteht, finden Auseinandersetzung und Diskurs nicht statt.“ In einem Gespräch zwischen Sophia Deeg und Mustafa Barghuthi betont Letzterer die differenzierte Sichtweise der sozialen Bewegungen zu Palästina, die sich auch in den europäischen und deutschen Medien durchsetzen müsse. Die „Anarchists Against the Wall“ und die Organisation „Breaking the Silence“, in der israelische Soldaten über den Gazakrieg berichten, in dem sie „ihre eigene Armee nicht wieder erkannt haben“, stellen weitere Maßnahmen für die Wahrheit dar. Ihnen trete das israelische Außenministerium durch „finanzierte Kommentatoren, die in internationalen Medien, wie z. B. in Facebook, Blogs und ´linken Website` posten, um die Regierungspolitik Israels zu verteidigen.“
Die Beiträge gegen die Argumentations- und Denkverbote widersprechen der Gleichsetzung der Interessen der israelischen Bürgerinnen und Bürgern mit denen der jüdischen Bürger/innen in anderen Staaten. Der Niederländer Hajo G. Meyer nimmt eine Klärung der Begrifflichkeiten vor, weil Israel systematisch eine Begriffsverwirrung betreibe und dafür sorge, „dass Kritiker des Antisemitismus bezichtigt werden können, ohne das dies rational nachgewiesen werden bräuchte“. Dass eine Kritik des Zionismus, der jüdischen Variante des Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nichts mit Antisemitismus zu tun hat, müsste jedem klar denkenden Menschen einleuchten. Durch die ständige Wiederholung der Gleichung Antizionismus sei Antisemitismus, scheint sich diese Formel auch in den öffentlichen Diskurs eingeschlichen zu haben. Diese Identifikation von Antizionismus mit Antisemitismus ist eine geniale Parole, um jegliche Kritik an Israel zu neutralisieren oder gar zum Verstummen zu bringen. Tatsächlich sind Zionismuskritik und Antisemitismus kontradiktorische Gegensätze. Erstere stellt eine Kritik eines ideologischen Herrschaftssystems und dessen Politik dar, letzterer verbalisiert Vorurteile gegenüber jüdischen Menschen. Dass sogar virulenter Antisemitismus und Zionismus gut zusammen gehen können, schreibt Meyer, zeige der Brief „des jüdischen Terroristen Abraham Stern an die Reichsregierung vom 11. Januar 1941“. In seinen Schreiben betont Stern: „Die nationale Militärorganisation (Irgun Zwei Leumi) ist sich des Wohlwollens der Deutschen Reichsregierung gegenüber Zionistischer Aktivität in Deutschland und gegenüber Zionistischen Emigrationsplänen wohl bewusst.“ Wie eng diese Kooperation war, belegt das Buch von Lenni Brenner ""Zionismus und Faschismus", das im Kai Homilius Verlag 2007 erschienen ist.
Besonders lesenswert ist der Beitrag des Briten Brain Klug über das Existenzrecht Israels, in dem er Nachdenkliches zu Israels Existenz schreibt: „Wenn Israel seine kriegerische Haltung nicht ändern kann; wenn die Mentalität des fortgesetzten Krieges weiterhin vorherrscht, bei dem sich jedes Grenzgeplänkel zur Schlacht um das Überleben des jüdischen Volkes auswächst; dann werden die Konsequenzen für Israel ebenso fatal sein, wie sie für andere tödlich sind. Die israelische Rhetorik von der ´Existenz`, die Teil seiner kriegerischen Haltung ist, gefährdet genau dies, seine Existenz.“ Vielleicht lesen die Mitglieder der Netanyahu-Regierung einmal bei ihrem Mentor Menachem Begin oder bei Abba Eban nach, was diese zum „Existenzrecht Israel“ gesagt haben. Auch der politischen und medialen Elite sei ins Stammbuch geschrieben, erst denken, dann reden, aber schon gar nicht nachplappern. Abba Eban schrieb am 18. November 1981 in der „New York Times“: „Niemand erweist Israel einen Dienst, indem er sein ´Existenzrecht` proklamiert. Es ist beunruhigend, dass so viele, die Israel wohl gesonnen sind, diese verächtliche Formulierung im Munde führen.“ Und der damalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin erklärte bei der Vorstellung seiner neuen Regierung 1977 in der Knesset: „…ich möchte hier feststellen, dass die Regierung Israels keine Nation, sei sie nah oder fern, mächtig oder klein, darum ersuchen wird, unser Existenzrecht anzuerkennen.“ Für beide Politiker war das „Existenzrecht Israels“ das Selbstverständlichste auf der Welt, dass keiner ausdrücklichen Erwähnung bedürfe. Klug beendet seinen ausgezeichneten Beitrag wieder mit einem Zitat von Eban: „Niemand erweist ´der Sache des Friedens` einen Dienst, indem er Israels `Existenzrecht` proklamiert.“ Hoffentlich nehmen sich das die „betinischen Hühner“ in der Bundesrepublik zu Herzen.
In dem Buch sind noch weitere hervorragende und überaus lesenswerte Beiträge von Jeff Halper, Michael Warschawski, Rolf Verleger, Otfried Nassauer, Norman Paech und Kerstin Seifer, Omar Barghuthi, Assav Adi, Eyal Weizman u. a. enthalten. Der Beitrag „Der Stern als Brandzeichen – über den neuen Antisemitismus“ von Enzo Traverso sollte noch kurz Erwähnung finden. Der Autor vertritt die These, dass es keine neue „Welle“ gebe, sondern „der Antisemitismus blüht wieder auf. Um ihn zu bekämpfen, muss man seine Wurzeln kennen.“ Für ihn tragen die Verallgemeinerungen bei vielen Beobachtern nicht dazu bei, die derzeitige Situation zu verstehen. Um eine sinnvolle Debatte führen zu können, müsse man folgende Tatbestände unterscheiden: die Überreste des traditionellen Antisemitismus, die Formen der neuen Judeophobie, die ideologische Instrumentalisierung des Antisemitismus, um den Antizionismus in Bausch und Bogen zu verurteilen, und schließlich die Verzerrungen, die sich aus einer derart fragwürdigen Art der öffentlichen Geschichtsdebatte ergeben. Traverso weist auf die neue Art der Judeophobie in der arabischen Welt und unter den arabisch-muslimischen Minderheiten in Europa hin, deren Ursachen in den trostlosen Vorstädten, in denen sich der Staat in der Gestalt der Polizei zeige, im kolonisierten Irak und in den besetzten palästinensischen Gebieten liegen. Auf diesem Nährboden gedeihe auch der islamische Fundamentalismus. Selbst die antirassistischen Bewegungen haben es nie geschafft, organische Beziehungen zu den Einwanderern herzustellen, dies zeige sich daran, dass keine Partei der Linken einen Nichtweißen Sprecher oder jemanden mit arabischen oder afrikanischen Nachnamen habe. Dagegen würden die Muslime zu einer „nicht assimilierbaren Minderheit gemacht“. Verwundert zeigt sich Traverso über das Zentralorgan der Antideutschen, „Konkret“, die den „palästinensischen Terrorismus unterstützte, als die PLO Israel noch nicht anerkannte, befürwortet heute die Besatzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens und geht sogar soweit, im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus den Krieg gegen den Irak zu begrüßen.“ Der Autor macht eine tiefgründige Anmerkung zum Wesen der Deutschen: „In Deutschland sind die Juden nie in der Weise anerkannt worden, wie es die Aufklärung fordert, nämlich als menschliche Wesen. (…) Vielmehr wurden sie immer als Träger einer Essenz, eines Wesens gesehen. Diese Essenz hat heute das Vorzeichen gewechselt: war sie einst Gegenstand der Verachtung, wird sie heute rückhaltlos unterstützt. (…) In diesem Sinne ist der Philosemitismus eines Teils der deutschen Linken weniger ein Zeichen ihrer Läuterung als ihrer fehlenden Reife und ihrer Unfähigkeit, sich von einem überkommenen Vorurteil zu lösen, wenn auch die Werteskala heute auf den Kopf gestellt ist.“
Im letzten Kapitel wird die Notwendigkeit der BDS-Kampagnen betont, um ein Ende der Besatzung herbeizuführen. Martin Forberg gibt eine vorsichtig optimistische Einschätzung der begonnenen BDS-Aktionen in der Bundesrepublik. Wer eine Zwei-Staaten-Lösung wolle, komme um Druck auf Israel nicht herum, „weil anders die Besatzung als strukturelles Haupthindernis für einen Frieden nicht überwunden werden kann“. Abgerundet wird das Buch durch Dokumente zum „Fall“ Dierkes.
Die israelische Zivilgesellschaft fordert von Deutschland immer wieder, sich seiner politischen Verantwortung zu stellen und sich auch für die unterdrückten Palästinenser einzusetzen, da sie die Opfer der israelischen Besatzungspolitik seien. Die Einforderung der Respektierung des Völkerrechts und die Achtung der Menschrechte und nicht die Lieferung weiterer Waffen sei gefragt, da sie zur weiteren Strangulierung der Palästinenser verwendet würden. Hoffentlich wirkt das Buch wie eine Art „Abfluss frei“, indem es die intellektuelle Verstopfung der diversen Eliten in der Bundesrepublik hinwegspült und sich die freie Rede gegenüber einer zurechtgestutzten Meinung durchsetzt. In diesem Sinne sind dem Buch viele Leser zu wünschen.
Erschienen im: Neuer ISP Verlag, Karlsruhe 2010, € 19,80.
Seitdem das Ergebnis einer EU-Umfrage vom Oktober 2003 bekannt wurde, nach der 59 Prozent der Befragten EU-Bürger Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens halten, begann das gesellschaftliche Klima frostig zu werden. In der Folge dieses Umfrageergebnisses wurde jedwede Kritik an der Besatzungspolitik Israels, dessen Verstößen gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte der Palästinenser nicht mehr mit sachlicher Kritik entgegnet, sondern die Kritiker/innen wurden persönlich angegriffen und verleumdet. Die Methoden dieses gesellschaftlichen Mobbings laufen in allen Staaten ähnlich ab. In den USA ist diese Kampagnenform am effektivsten, weil sie von gut organisierten Pressure-Groups orchestriert wird, die John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt als „Israellobby“ bezeichnen. Auch in einigen europäischen Ländern gibt es solche pro-israelischen Interessengruppen, die gegen die Kritiker/innen israelischer Regierungspolitik mit allen Mitteln vorgehen.
Jüngste Opfer dieser Pressure-Groups waren die durch Mobbing-Aktionen bewirkten „Auftrittsverbote“ des israelischen Historikers Ilan Pappé in München und des US-Politologen Norman G. Finkelstein in Berlin und München. Sowohl die Heinrich Böll Stiftung als auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Trinitatiskirche in Berlin, das Amerika-Haus in München sowie die Münchner Stadtverwaltung zogen ihre Zusagen für die Räumlichkeiten nach Protesten dieser Lobbyisten zurück. Damit wurde dem Recht auf freie Meinungsäußerung schwerster Schaden zugefügt. Und die sonst so „hellwache“ Zivilgesellschaft knickte ein, zeigte keine Zivilcourage, kein Rückgrat und machte sich folglich zum „Komplizen“ dieser demokratiefeindlichen Kräfte.
Das Buch „Bedingungslos für Israel?“ hätte also zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Einer der Herausgeber, Hermann Dierkes, Oberbürgermeisterkandidat und Vorsitzender der Ratsfraktion der Partei Die Linke in Duisburg, war ebenfalls Opfer einer Rufmordkampagne, die ihn zum Rücktritt vom Amte des Oberbürgermeisterkandidaten zwang. Dies u. a. auch deshalb, weil Teile seiner eigenen Partei ihn im Regen haben stehen lassen, insbesondere seine Berliner „Parteifreunde“.
In einem Interview mit Felicia Langer für die Zeitschrift „International“ habe ich ihr die Frage gestellt, ob es in der Bundesrepublik Deutschland eine „Israellobby“ gebe: „Ja, natürlich gibt es hier eine Israellobby, die sich als Sprachrohr der israelischen Politik versteht. (…) Die Methoden sind antidemokratisch, anmaßend und gehörten an den Pranger gestellt. Wie lange will sich die Gesellschaft die Bevormundung durch diese Lobby noch gefallen lassen?“ In den USA wurde der angesehene ehemalige US-Botschafter in China und Saudi-Arabien, Chas Freeman, der von US-Präsident Barack Obama für das Amt des Koordinators der 17 US-Geheimdienste vorgesehen war, von der „Israellobby“ so massiv gemobbt, dass er auf den Posten verzichtete. Er schrieb dieser Lobby Folgendes ins Stammbuch, was auch als Charakterisierung für die deutschen Verhältnisse zutrifft: „Die Taktiken der Israel-Lobby stellen Höhepunkte der Schande und Unanständigkeit dar, sie schließen Rufmord ebenso mit ein wie selektiv falsche Zitate, vorsätzliche Verfälschung der Fakten, Fabrikation von Unwahrheiten und vollkommene Missachtung der Wahrheit.“
Herrschen in der Bundesrepublik Deutschland „bitinische“ Verhältnisse, fragen die Herausgeber/in dieses Buches in Anspielung auf die satirische Erzählung „Zensur in Bitinien“ von Primo Levi? Gott sei Dank sei die Bundesrepublik in der glücklichen Lage weder Zensur ausüben zu müssen noch müssten die Menschen sie erleiden, welche die „unverzügliche Verhaftung und Hinrichtung“ des Ertappten zur Folge hätte wie in „Bitinien“. „Umso verwunderlicher ist es, dass eine solche Zensur in Deutschland beinahe lückenlos ausgeübt wird und wirkt. Dies, obwohl niemand die bitinischen Konsequenzen zu gewärtigen hat, und obwohl es nicht einmal eine Zensurbehörde gibt, sondern nur die Öffentlichkeits- und Lobbytätigkeit oder Propaganda eines befreundeten Staates, die gewisse Sprachregelungen und Interpretationen nicht vorschreibt, sondern nur nahe legt. Obwohl niemand gezwungen ist, sich diesen Empfehlungen anzuschließen, auch wenn sie mit großem Nachdruck vorgetragen werden, geschieht dies annähernd geschlossen und in vorauseilendem Gehorsam – offenbar dank einer tief sitzenden deutschen Neigung.“
Der Überfall der israelischen Armee auf den Gazastreifen zur Jahreswende 2008/2009 und das dort angerichtete „Massaker“ (1 400 tote Palästinenser; 14 tote Israelis) und massiven Verwüstungen wurden von der deutschen politischen und medialen Öffentlichkeit mit argumentativen Versatzstücken wie das der „Gewaltspirale“, das der „beiden (grundsätzlich vergleichbaren) Seiten“, das eines Israel, das sich gegen massive, gar Existenz bedrohende Angriffe verteidigen müsse, kommuniziert, so die Autoren/in. Wo es in anderen Ländern massive Proteste gegen dieses „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Richard Goldstone) gegeben habe, „regte sich keine Stimme eines deutschen Intellektuellen und kaum eine kritische Stimme eines deutschen Politikers“. Als aber Hermann Dierkes die Überlegungen des Weltsozialforums zur Durchsetzung von Völkerrecht im israelisch-palästinensischen Konflikt referierte, fielen die „bitinischen Hühner“ unisono über ihn her und starteten eine Rufmordkampagne.
Die Herausgeber/in vertreten einen internationalistischen Ansatz, um dadurch nicht nur die deutsche Engführung in Bezug auf Israel und den Provinzialismus in Sachen Nahostkonflikt zu überwinden, sondern auch die progressiven Sichtweisen und Thesen, wie sie andernorts vertreten werden, dem „deutschen Michel“ näher zu bringen. Ob dies bei der obwaltenden „Schweigespirale“ in punkto Israel gelingen wird, darf bezweifelt werden, wenn man sich die Nibelungentreue einiger Kreise ansieht. Die deutsche Debattenkultur über die Realitäten im Nahostkonflikt sind verstopft und auf einem Niveau, über das das Ausland nur mit dem Kopf schüttelt. Deshalb ist die Einführung der globalen Sichtweise duch 20 Autoren/innen aus sieben Ländern so wichtig, um zu zeigen, was möglich ist und auf welchem intellektuellen Niveau sich in anderen Ländern über Israel und Palästina gestritten wird.
Im ersten Kapitel schildert Hermann Dierkes seinen „Fall“, der eigentlich ein „Fall Die Linke“ und ihr deutscher Sonderweg ist. Dierkes wirft seinerseits den Parteioberen in Berlin vor, ihre Wischiwaschi-Haltung in der Nahostpolitik sei der Furcht geschuldet, sich nicht mit den „Dogmen der deutschen Mainstream-Politik“ zu Nahost anlegen zu müssen und die Linke peu à peu an diese heranzuführen. Abgerechnet wird mit der Gysi-Rede zur Nahostpolitik von Volkard Mosler, eines Mitglieds des geschäftsführenden Vorsandes der Linkspartei in Frankfurt am Main, wenn er schreibt: „Die Logik von Gysis Verständnis für die Notwehr der Eroberer scheint darauf hinauszulaufen, dass die Palästinenser sich dem Schicksal ihrer Vertreibung widerstandlos fügen sollen, um der Gleichbehandlung näher zu kommen, oder dass es gar nicht zu ihrer Vertreibung gekommen wäre, hätten sie sich friedlich verhalten. Eine gewagte Argumentation!“ Sollte Gysi tatsächlich solches in seiner Rede insinuiert haben, zeigt dies nicht nur seine völlig Unkenntnis der nahöstlichen Historie, sondern er scheint sich auch über das Wesen des Zionismus einer Illusion hinzugeben. Darüber hinaus gibt er eine koloniale Attitüde von links zum Besten. Wie man sieht, ist auch die Partei "Die Linke" gegen "the return of the colonial" nicht gefeit, wie es Yitzhak Laor in seinem jüngsten Buch "The Myth of Liberal Zionism" so treffend formuliert hat. Yossi Wolfson, israelischer Menschenrechtsanwalt, graust es bei der inhaltlichen Ausrichtung eines Teils der sich noch als links bezeichnenden Teile der Linken wie der Sekte der „Antideutschen“ oder der Gruppe „BAK Schalom“. Beide verfolgen keine linke, sondern eine rechte, neokonservative Agenda. „Diese neue Rechte, die vorgibt, eine Linke zu sein, missbraucht die Opfer der Naziherrschaft, angeblich für mein Leben und für meine Zukunft. Mir graust es. Und ich will rufen: ´Nicht in meinem Namen!`“.
Im Kapitel „Maßnahmen gegen die Wahrheit, Maßnahmen für die Wahrheit“ wird gezeigt, mit welchen Methoden die Wahrheit unterdrückt wird. Auf Grund der deutschen besonderen historischen Situation komme es in Deutschland nur sehr vereinzelt dazu, einen unverstellten Gedanken oder etwas Kontroverses über den israelisch-palästinensischen Konflikt öffentlich zu machen, begegne man ihm oder ihr mit hilflosen Maßnahmen schwacher Kritiker, denen die Argumente fehlen. „Diffamierungen und Unterstellungen, Aussagen, die aus dem Zusammenhang gerissen, falsch zitiert und entstellt, am besten aber gleich verschwiegen werden. Der oder die Betroffene erfährt kaum Solidarität aus der Öffentlichkeit oder seitens seiner ´Zunft`, sei es die der Medien, der Universität oder der Politik. Ausgerechnet bei einem Thema, über dessen Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis Einigkeit besteht, finden Auseinandersetzung und Diskurs nicht statt.“ In einem Gespräch zwischen Sophia Deeg und Mustafa Barghuthi betont Letzterer die differenzierte Sichtweise der sozialen Bewegungen zu Palästina, die sich auch in den europäischen und deutschen Medien durchsetzen müsse. Die „Anarchists Against the Wall“ und die Organisation „Breaking the Silence“, in der israelische Soldaten über den Gazakrieg berichten, in dem sie „ihre eigene Armee nicht wieder erkannt haben“, stellen weitere Maßnahmen für die Wahrheit dar. Ihnen trete das israelische Außenministerium durch „finanzierte Kommentatoren, die in internationalen Medien, wie z. B. in Facebook, Blogs und ´linken Website` posten, um die Regierungspolitik Israels zu verteidigen.“
Die Beiträge gegen die Argumentations- und Denkverbote widersprechen der Gleichsetzung der Interessen der israelischen Bürgerinnen und Bürgern mit denen der jüdischen Bürger/innen in anderen Staaten. Der Niederländer Hajo G. Meyer nimmt eine Klärung der Begrifflichkeiten vor, weil Israel systematisch eine Begriffsverwirrung betreibe und dafür sorge, „dass Kritiker des Antisemitismus bezichtigt werden können, ohne das dies rational nachgewiesen werden bräuchte“. Dass eine Kritik des Zionismus, der jüdischen Variante des Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nichts mit Antisemitismus zu tun hat, müsste jedem klar denkenden Menschen einleuchten. Durch die ständige Wiederholung der Gleichung Antizionismus sei Antisemitismus, scheint sich diese Formel auch in den öffentlichen Diskurs eingeschlichen zu haben. Diese Identifikation von Antizionismus mit Antisemitismus ist eine geniale Parole, um jegliche Kritik an Israel zu neutralisieren oder gar zum Verstummen zu bringen. Tatsächlich sind Zionismuskritik und Antisemitismus kontradiktorische Gegensätze. Erstere stellt eine Kritik eines ideologischen Herrschaftssystems und dessen Politik dar, letzterer verbalisiert Vorurteile gegenüber jüdischen Menschen. Dass sogar virulenter Antisemitismus und Zionismus gut zusammen gehen können, schreibt Meyer, zeige der Brief „des jüdischen Terroristen Abraham Stern an die Reichsregierung vom 11. Januar 1941“. In seinen Schreiben betont Stern: „Die nationale Militärorganisation (Irgun Zwei Leumi) ist sich des Wohlwollens der Deutschen Reichsregierung gegenüber Zionistischer Aktivität in Deutschland und gegenüber Zionistischen Emigrationsplänen wohl bewusst.“ Wie eng diese Kooperation war, belegt das Buch von Lenni Brenner ""Zionismus und Faschismus", das im Kai Homilius Verlag 2007 erschienen ist.
Besonders lesenswert ist der Beitrag des Briten Brain Klug über das Existenzrecht Israels, in dem er Nachdenkliches zu Israels Existenz schreibt: „Wenn Israel seine kriegerische Haltung nicht ändern kann; wenn die Mentalität des fortgesetzten Krieges weiterhin vorherrscht, bei dem sich jedes Grenzgeplänkel zur Schlacht um das Überleben des jüdischen Volkes auswächst; dann werden die Konsequenzen für Israel ebenso fatal sein, wie sie für andere tödlich sind. Die israelische Rhetorik von der ´Existenz`, die Teil seiner kriegerischen Haltung ist, gefährdet genau dies, seine Existenz.“ Vielleicht lesen die Mitglieder der Netanyahu-Regierung einmal bei ihrem Mentor Menachem Begin oder bei Abba Eban nach, was diese zum „Existenzrecht Israel“ gesagt haben. Auch der politischen und medialen Elite sei ins Stammbuch geschrieben, erst denken, dann reden, aber schon gar nicht nachplappern. Abba Eban schrieb am 18. November 1981 in der „New York Times“: „Niemand erweist Israel einen Dienst, indem er sein ´Existenzrecht` proklamiert. Es ist beunruhigend, dass so viele, die Israel wohl gesonnen sind, diese verächtliche Formulierung im Munde führen.“ Und der damalige israelische Ministerpräsident Menachem Begin erklärte bei der Vorstellung seiner neuen Regierung 1977 in der Knesset: „…ich möchte hier feststellen, dass die Regierung Israels keine Nation, sei sie nah oder fern, mächtig oder klein, darum ersuchen wird, unser Existenzrecht anzuerkennen.“ Für beide Politiker war das „Existenzrecht Israels“ das Selbstverständlichste auf der Welt, dass keiner ausdrücklichen Erwähnung bedürfe. Klug beendet seinen ausgezeichneten Beitrag wieder mit einem Zitat von Eban: „Niemand erweist ´der Sache des Friedens` einen Dienst, indem er Israels `Existenzrecht` proklamiert.“ Hoffentlich nehmen sich das die „betinischen Hühner“ in der Bundesrepublik zu Herzen.
In dem Buch sind noch weitere hervorragende und überaus lesenswerte Beiträge von Jeff Halper, Michael Warschawski, Rolf Verleger, Otfried Nassauer, Norman Paech und Kerstin Seifer, Omar Barghuthi, Assav Adi, Eyal Weizman u. a. enthalten. Der Beitrag „Der Stern als Brandzeichen – über den neuen Antisemitismus“ von Enzo Traverso sollte noch kurz Erwähnung finden. Der Autor vertritt die These, dass es keine neue „Welle“ gebe, sondern „der Antisemitismus blüht wieder auf. Um ihn zu bekämpfen, muss man seine Wurzeln kennen.“ Für ihn tragen die Verallgemeinerungen bei vielen Beobachtern nicht dazu bei, die derzeitige Situation zu verstehen. Um eine sinnvolle Debatte führen zu können, müsse man folgende Tatbestände unterscheiden: die Überreste des traditionellen Antisemitismus, die Formen der neuen Judeophobie, die ideologische Instrumentalisierung des Antisemitismus, um den Antizionismus in Bausch und Bogen zu verurteilen, und schließlich die Verzerrungen, die sich aus einer derart fragwürdigen Art der öffentlichen Geschichtsdebatte ergeben. Traverso weist auf die neue Art der Judeophobie in der arabischen Welt und unter den arabisch-muslimischen Minderheiten in Europa hin, deren Ursachen in den trostlosen Vorstädten, in denen sich der Staat in der Gestalt der Polizei zeige, im kolonisierten Irak und in den besetzten palästinensischen Gebieten liegen. Auf diesem Nährboden gedeihe auch der islamische Fundamentalismus. Selbst die antirassistischen Bewegungen haben es nie geschafft, organische Beziehungen zu den Einwanderern herzustellen, dies zeige sich daran, dass keine Partei der Linken einen Nichtweißen Sprecher oder jemanden mit arabischen oder afrikanischen Nachnamen habe. Dagegen würden die Muslime zu einer „nicht assimilierbaren Minderheit gemacht“. Verwundert zeigt sich Traverso über das Zentralorgan der Antideutschen, „Konkret“, die den „palästinensischen Terrorismus unterstützte, als die PLO Israel noch nicht anerkannte, befürwortet heute die Besatzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens und geht sogar soweit, im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus den Krieg gegen den Irak zu begrüßen.“ Der Autor macht eine tiefgründige Anmerkung zum Wesen der Deutschen: „In Deutschland sind die Juden nie in der Weise anerkannt worden, wie es die Aufklärung fordert, nämlich als menschliche Wesen. (…) Vielmehr wurden sie immer als Träger einer Essenz, eines Wesens gesehen. Diese Essenz hat heute das Vorzeichen gewechselt: war sie einst Gegenstand der Verachtung, wird sie heute rückhaltlos unterstützt. (…) In diesem Sinne ist der Philosemitismus eines Teils der deutschen Linken weniger ein Zeichen ihrer Läuterung als ihrer fehlenden Reife und ihrer Unfähigkeit, sich von einem überkommenen Vorurteil zu lösen, wenn auch die Werteskala heute auf den Kopf gestellt ist.“
Im letzten Kapitel wird die Notwendigkeit der BDS-Kampagnen betont, um ein Ende der Besatzung herbeizuführen. Martin Forberg gibt eine vorsichtig optimistische Einschätzung der begonnenen BDS-Aktionen in der Bundesrepublik. Wer eine Zwei-Staaten-Lösung wolle, komme um Druck auf Israel nicht herum, „weil anders die Besatzung als strukturelles Haupthindernis für einen Frieden nicht überwunden werden kann“. Abgerundet wird das Buch durch Dokumente zum „Fall“ Dierkes.
Die israelische Zivilgesellschaft fordert von Deutschland immer wieder, sich seiner politischen Verantwortung zu stellen und sich auch für die unterdrückten Palästinenser einzusetzen, da sie die Opfer der israelischen Besatzungspolitik seien. Die Einforderung der Respektierung des Völkerrechts und die Achtung der Menschrechte und nicht die Lieferung weiterer Waffen sei gefragt, da sie zur weiteren Strangulierung der Palästinenser verwendet würden. Hoffentlich wirkt das Buch wie eine Art „Abfluss frei“, indem es die intellektuelle Verstopfung der diversen Eliten in der Bundesrepublik hinwegspült und sich die freie Rede gegenüber einer zurechtgestutzten Meinung durchsetzt. In diesem Sinne sind dem Buch viele Leser zu wünschen.
Erschienen im: Neuer ISP Verlag, Karlsruhe 2010, € 19,80.