Freitag, 1. Januar 2010

Die Globalisierung religiöser Gewalt

Warum kam es zu Beginn des 21. Jahrtausends zu einem Ausbruch religiös motivierter Gewalt? Dieser Frage geht Mark Juergensmeyer, Professor an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, nach. Anhand zahlreicher Fallstudien und Interviews, die der Autor mit Vertretern christlicher Milizen, Hamas, Hisbollah, im Irak und Iran sowie an fast allen Brennpunkten weltweit geführt hat, vertritt er die These, dass das Wiederaufblühen der religiösen Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts in weiten Teilen dem Verlust des Glaubens an den säkularen Nationalismus in einer zusehends globalisierten Welt geschuldet sei. Die Globalisierung habe diesen Trend zum Religiösen noch beschleunigt. Das westliche Konzept des Nationalstaates konnte in zahlreichen Ländern, in denen es religiös motivierte Aufstandsbewegungen gibt, keine Wurzeln schlagen.

Diese These Juergensmeyers ist in Teilen zu eindimensional und gilt natürlich nicht für alle Staaten. In Afrika gibt es einige so genannte „failed states“, aber keiner hat religiös motivierte Gewalt hervorgebracht. Selbst Somalia, das als ein klassisches Beispiel eines gescheiterten Staates angesehen werden kann, kämpfen verschiedene Clans unter dem Banner des Islam um die Zentralgewalt. Ob sie vom Islam inspiriert werden, lässt sich nicht eindeutig sagen. Auch für Iran trifft die These des Autors nicht in Gänze zu. Der Schah von Persien war ein autokratisch-diktatorischer Herrscher, der ganz bewusst einen Staat geschaffen hat, der sich auf eine tausendjährige persische Tradition berufen hat. Er scheiterte nicht nur, weil er eine US-amerikanische Marionette war, sondern auch, weil er die religiöse Tradition seines Landes mit Füßen getreten hat.

Für Mark Juergensmeyer haben die religiös motivierten Aufstandsbewegungen wenig mit Religion zu tun. Religion sei ein Surrogat für Nationalismus, um den Nationalstaat funktionsfähig zu halten. Die „Religiösen“ treten mit dem Anspruch auf, es besser machen zu wollen. Sie bemühen sich um eine innerdemokratische Legitimation. Aber liefert ihnen nicht gerade „der Westen“ mit der Praktizierung doppelter Standards einen Vorwand, um ihren anfangs verkündeten demokratischen Anspruch als Vehikel für ihren absoluten Herrschaftsanspruch zu missbrauchen?

Der Autor hat mit Vertretern solcher Aufstandbewegungen, die vom Westen verteufelt werden wie Hamas und Hisbollah, oder selbst mit Vertretern der Islamischen Republik Iran gesprochen. Genau hier fängt das eigentliche Problem des Westens an, der sich aus ideologischen Gründen des Dialogs mit diesen Bewegungen oder Staaten verweigert. Einige westliche Staaten sind nicht bereit, sich die Argumente der „Verdammten dieser Erde“ anzuhören. Dass dies ein Fehler ist, zeigt Juergensmeyer. Selbst diese „Verdammten“ haben überzeugendere Argumente für ihr Anliegen als „der Westen“. Dass jedes unterdrückte Volk ein Recht auf Widerstand hat, ist bekannt. Die besagte UN-Resolution ist eindeutig. Die christliche Soziallehre rechtfertigt sogar den „Tyrannenmord“ und den Widerstand gegen eine lang andauernde ungerechte Unterdrückungsherrschaft. Jedes unterdrückte und kolonisierte Volk hat also gute juristische und moral-ethische Argumente für den Widerstand gegen die Besetzung ihres Landes, sei es in Irak, Afghanistan, Palästina oder Tibet.

Für einen renommierten Wissenschaftler wie Juergensmeyer ist es unüblich, sich vor Ort ein Bild über die Motive der religiösen Aufstandsbewegungen zu machen. So hat er u. a. auch mit dem paralysierten Scheich Ahmed Yassin im Gaza-Streifen gesprochen, den Israel am 22. März 2004 durch eine Rakete - abgefeuert aus einem US-Made Apache-Kampfhubschrauber - aus seinem Rollstuhl gebombt hat. Scheich Yassin beschrieb seine islamische Widerstandsbewegung (Hamas) „als das Herz der palästinensischen Opposition“. Eine säkulare Befreiungsbewegung sei zutiefst irregeleitet, da „der Islam so etwas wie einen säkularen Staat nicht kennt“, so Yassin. Der Westen sollte wissen, dass „die Unterscheidung zwischen der PLO und der Hamas eine künstliche“ ist. Auf Abbas zu setzen, ist ebenso verfehlt wie auf Hamid Karzai oder Nuri al-Maliki, da allen die Legitimation ihrer Völker fehlt.

„Selbst in Iran ist die Macht des Klerus beschränkt.“ Der Westen spricht aber vereinfachend von einem „Mullah-Regime“. Die Vielfältigkeit des Landes fällt so ebenso unter den Tisch wie die Heterogenität der politischen Elite, was das ideologisch gefärbte Zerrbild als Selbsterfüllende Prophezeiung erscheinen lässt. Zeichnet vielleicht die westliche Politrhetorik bewusst ein Schwarzweißbild des Landes, um einen Angriff auf dessen Atomanlagen ihren Bevölkerungen leichter vermitteln zu können? Iran sei alles andere als eine Theokratie. Ebenso sei in anderen religiös motivierten Aufstandsbewegungen die Macht der Geistlichen stark begrenzt. Selbst al-Qaida werde von einem Ingenieur und einem Arzt geführt. Juergensmeyer weist darauf hin, dass die meisten Bewegungen des religiösen Aktivismus organisationsintern demokratische Verfahren etabliert haben. „Über die internen Organisationsstrukturen radikaler Bewegungen von Sri Lanka bis Algerien und von Palästina bis Montana wurde entweder durch breite Konsultation der Mitglieder oder durch Wahlen entschieden.“ Dieser innerdemokratische Prozess sagt aber wenig über die Garantie von Minderheitenrechten aus. Der Autor stellt fest, dass diese Sorge mehr als berechtigt ist.

Juergensmeyer hält die Militärisierung der Konflikte gegenüber religiös inspirierten Aufständischen für verfehlt. „Eine überzogene Reaktion der Regierung verschlimmert nur die Lage.“ Den USA und der Nato sollte Folgendes zu denken geben. In einem Interview äußerte ein Mullah in Bagdad: „Der Islam wird angegriffen.“ Die Präsenz der US-Amerikaner im Irak richte sich gegen die Religion seines Landes; man wolle kein säkulares politisches Regime nach amerikanischem Vorbild. Gilt dies nicht auch für Afghanistan, wo die Nato und die mit der Invasion gekommen Nicht-Regierungsorganisationen par tout den westlichen Lebensentwurf zur Regel machen wollen? Ein Abzug ist heute eher geboten als morgen, bevor die Niederlage noch demütigender ausfällt als bisher.

Die letzten Seiten des Buches sollten gründlich gelesen und bedacht werden, weil die Möglichkeit besteht, dass es zu einem Krieg zwischen Religion und Vernunft kommt. Äußerungen von Scharfmachern im Westen, den Iran selbst mit Atomwaffen anzugreifen, würde das Tor zur Hölle aufstoßen, die selbst die Befürworter solcher Szenarien verschlingen würde. Bedachtsamkeit, Langmut und die Tugend des Zuhörens und des Dialogs sind seitens des Westens gefragter als Kriegsgeschrei. Allen Scharfmachern und Kriegstreibern muss die rote Karte gezeigt werden.

Ein flüssig formuliertes Buch, das Anregungen gibt, wie man jenseits von militärischer Gewalt mit religiösem Nationalismus umgehen sollte. Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Westen muss sich von seinem ideologisch bestimmt Konzept des Antiterrorkrieges verabschieden.