Ein „jüdisches Volk“ gebe es nicht; es sei eine Erfindung, folglich konnte es auch kein Exil geben. Dies ist in Kürze die zentrale These des Buches des israelischen Historikers
Shlomo Sand, der Europäische Geschichte an der Universität in Tel Aviv lehrt. Alle schönen biblischen Geschichten sollen Legenden sein? Der Auszug aus Ägypten, das Babylonische Exil, die Römische Besatzung samt Zerstörung des Zweiten Tempels und die dazugehörige Vertreibung sowie die glorreiche Rückkehr nach 2000 Jahren nach „Zion“ unter der zionistischen Bewegung. Sand weist fast alle diese religiösen Legenden zurück. Die jüdische Diaspora entstand nicht durch Vertreibung, sondern durch Konversionen zum Judentum aus den verschiedensten Völkern. Dass dieses einem Frontalangriff auf die sich seit der Staatgründung Israels herausgebildete „jüdische“ Identität gleichkommt, versteht sich von selbst. Aber hier fangen die Probleme schon an, und in diesem Dilemma befindet sich Israel seit seiner Gründung. „Jüdische“ Identität ist etwas völlig anderes als „zionistische“ Identität. Und darüber wird bis heute heftig gestritten. So wie die Nationalgeschichten der Deutschen, Franzosen oder Spanier auf Mythen beruhen, so verhält es sich auch mit der jüdisch-israelischen. Gleichwohl stellt Sand fest: Auch wenn eine Gruppe von Menschen „niemals ein Volk waren und ihre Vergangenheit völlig erfunden ist, bleibt das Recht zur eigenen Selbstbestimmung“.
Die Zerstörung des Tempels habe es zwar gegeben, aber keine Massenvertreibung, weil es eine solche in der römischen Geschichte nicht gegeben hat, so Sand. „Die nähere Überprüfung des historischen Ereignisses, das angeblich die ´zweite Vertreibung` des Jahres 70 n. Chr. verursacht hatte und die Überprüfung des Begriffs ´Exil` und seine Bedeutung im späteren Judentum, geben jedoch Hinweise darauf, dass das historische Bewusstsein aus verschiedenen und getrennten Ereignissen zusammengesetzt wurde, die auf verschiedenen Traditionen beruhen. Nur so konnten sie zu einem brauchbaren Mythos werden, der den modernen Juden als ´ethnischer` Identitätshaken dient.“ Zum Mythos der Zerstörung und des Exils kam hinzu, dass schon lange vor dem Jahre 70 große jüdische Gemeinden außerhalb von Judäa existiert haben. Die Mehrzahl der Juden blieb in Palästina; nach der Eroberung durch den Islam konvertierte eine große Zahl bzw. wurde in dieser Religion assimiliert. Folglich wären die wirklichen Juden in Palästina die Palästinenser, die Nachkommen der ursprünglichen Bevölkerung in Judäa und Kanaan.
Die These Sands wurde vor der Staatsgründung Israels bereits von David Ben-Gurion vertreten. Die führenden zionistischen Repräsentanten hätten nie etwas mit den jüdischen Bewohnern Palästinas zu tun gehabt. Sie seien auf keinen Fall deren Nachkommen, sondern größtenteils “Chasaren“, Bürger eines Königsreichs der Chasaren. Dieses Turkvolk aus dem Kaukasus sei im 8. und frühen 9. Jahrhundert in Gänze zum Judentum übergetreten, gemäß der Devise: „Cuius regio eius religio“, so der Autor. Diese These hatte bereits Arthur Koestler in "Der dreizehnte Stamm" vertreten. Jetzt wird sie von Sand wie schon vorher von Israel Bartal wissenschaftlich erhärtet. Für Sand liegt dem Ursprung der „Jiddischen Kultur“ keim Import aus Deutschland zugrunde, sondern sie sei das Ergebnis einer Verbindung zwischen den Nachkommen der Chasaren und der Deutschen, die in den Osten reisten, einige von ihnen seien Kaufleute gewesen. Aufgrund der ethischen Vielfältigkeit Israels insinuiert der Autor, dass der Identität Israels eher ein „Staat aller seiner Bürger“ als ein „jüdischer Staat“ entsprechen würde. Dies fordern auch 1,5 Millionen israelische Palästinenser, die unter massiver Diskriminierung leiden, sowie einige weitsichtige Israelis, die aber massiv unter Druck gesetzt werden und wie Ilan Pappe nach Großbritannien ins Exil gegangen sind.
Die Konsequenzen von Sands Thesen müssten zu einer Gleichstellung aller nicht-jüdischen Staatsbürger Israels führen, weil die von der zionistischen Geschichtsmythologie behauptete Verbindung zu den historischen Stämmen Israels nicht gibt. Eine direkte Genealogie von Moses zu den Siedlern in der Westbank ist ein Mythos. Eine kohärente nationale Bevölkerung habe es nie gegeben, sondern nur verschiedene Gruppen, welche die jüdische Religion angenommen hatten. Damit wäre auch der Kolonisierung der von Israel Besetzten Palästinensischen Gebiete (OPT) der Boden entzogen, da es so etwas wie „Eretz Israel“ (Land Israel) nie gegeben hat. Dieser Mythos wurde nach Sands historischer Darstellung erst in den letzten 100 Jahren durch die zionistische Kolonisierung geschaffen. Nicht ohne Grund verzichteten die Zionisten auf die Begriffe „Volk“ oder gar „Nation“, obgleich alle Charakteristika vorhanden gewesen seien. „Die spezifisch historische Eigenart dieser Gesellschaft wurde von seinen Gründern und Gestaltern immer wieder dementiert und abgelehnt. Sie wurde vom Zionismus, und man muss hinzufügen, auch vom arabischen Nationalismus, als ´Nichtvolk` und als ´Nichtnation` aufgefasst, sie war nur Teil des größeren Weltjudentums, das weiterhin nach Eretz Israel („Palästina“) zurückkehren sollte.“ Die auf dem mythischen Begriff „Eretz Israel“ beruhenden „Besitzansprüche“ und pseudo-religiöse Rechtstitel auf die Besetzten Palästinensischen Gebiete sind folglich null und nichtig, ganz zu schweigen von völkerrechtlichen Ansprüchen.
Sands Buch ist eine aktuelle Kritik der israelischen Identitätspolitik, und es bricht das größte Tabu des Landes. Im Kapitel „Judentum und Demokratie – ein Oxymoron?“ stellt der Autor verschiedene politische Vorstellungen über dieses israelische Dilemma vor. Trotz allen Umwälzungen habe Israel seit mehr als 60 Jahren als „liberale Ethnokratie“ existiert. Dies lässt sich aber nach Sand nicht ad infinitum fortsetzen. Seine Vision für Israel scheint für ihn selbst „eine utopische Halluzination“ zu sein: „Die jüdische Überidentität bedarf einer gründlichen Transformation, um sich der gärend-lebendigen kulturellen Realität, über die es herrscht, anzupassen. Diese Identität muss eine offene Israelisierung durchmachen, indem sie sich allen Bürgern des Staates anbietet. Es ist zu spät, Israel zu einem einheitlichen und homogenen Nationalstaat zu machen. Deshalb muss man die ´Fremden` zu einer Israelisierung einladen, um eine multikulturelle Demokratie, ähnlich der in Großbritannien oder Holland, zu entwickeln und parallel zu der vollen Gleichberechtigung den palästinensischen Israelis auch eine qualitative und institutionelle Autonomie gewähren. Zusammen mit der Bewahrung und Pflege ihrer Kultur und ihrer Institutionen muss es auch eine Einladung in das Machtzentrum einer hegemonialen israelischen Kultur sein. Jedes palästinensisch-israelisches Mädchen und jeder Junge muss, wenn sie das wollen, Zugang zu einer Karriere haben, die sie in die Zentren der israelischen Kultur und des israelischen Handelns bringen kann. Jeder jüdisch-israelische Junge und jedes Mädchen muss aber auch wissen, dass sie in einem Staat leben, in dem es viele gleichberechtigte ´andere` gibt.“
Das Buch hat nicht nur in Israel eine heftige Debatte ausgelöst. Für viele Israelis sind die Thesen Sands Neuland, stehen sie doch diametral zur offiziellen Geschichtsdeutung. Der Autor ist bereits heftig unter Druck geraten, so dass es eine deutsche Ausgabe wohl so schnell nicht geben dürfte. Ein überaus faszinierendes, spannendes, ja revolutionäres Buch.
Eine Kurzfassung ist erschienen in:
Semit. Unabhängige Jüdische Zeitschrift, (2009) 4, S.63 f.