Bücher, die sich mit der Frage nach der jüdischen Identität beschäftigen, dürften eine spannende Lektüre abgeben. Diesem nicht so einfachen Sujet hat sich der in Großbritannien lebende israelische Saxophonist Gilad Atzmon in seinem Buch gewidmet. Er geht der Frage nach, was eine jüdische säkulare Person motiviert, sich weiterhin als Jude zu fühlen. Darüber hinaus zeigt das Buch die negativen Konsequenzen einer jüdischen Identität, insbesondere wenn sie nicht auf der jüdischen Religion basiert. Jüdische Identität definiert er als „Jewishness“ (Jüdischkeit), die er vehement ablehnt. Für den Autor begann der Zionismus zu Beginn vielversprechend, bevor er von der „Jüdischkeit“ übernommen worden ist, und daraus resultiere das repressive israelische Verhalten gegenüber den Palästinensern. „Jüdischkeit“ ist für ihn eine säkulare ethnozentrische Ideologie bestehend aus: „Exklusivität, Einzigartigkeitsanspruch, rassischer Überlegenheit und einer tiefen innewohnenden Neigung zur Segregation“.
Der Autor wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 1994 in London. Bescheidenheit scheint nicht zu seinen Stärken zu gehören, wie die einführenden selbstreferentiellen Bemerkungen über seine diversen Talente zeigen. Mit „Stolz“ bezeichnet er sich als einen „selbsthassenden Juden“, „Ich verachte den Juden in mir.“ Seine „Einsichten“ verdanke er Otto Weininger!
Seine Verweise auf jüdische Identität bleiben jedoch selektiv, spekulativ und wenig konzise. Hätte er sich konsequent nur auf diese Frage konzentriert, wäre das Buch ein Beitrag zu dieser wichtigen Debatte gewesen. Dagegen ergeht sich der Autor in kategorischen Aussagen zu Sachgebieten wie z. B. Geschichte, Wirtschaft, Psychologie, Völkerrecht und Menschenrechte. Ein gravierendes Problem des Atzmon-Buches besteht darin, dass der Autor mit zahlreichen Andeutungen arbeitet, um seine wirkliche Message an die Leserinnen und Leser zu bringen. „Jüdischkeit“ und jüdische Identität dienen ihm dabei nur als Vorwand. Im Subtext des Buches werden krude Verschwörungstheorien und antijüdische Vorurteile transportiert. Im November 2010 hat er auf einer Konferenz in Stuttgart erklärt: „Ich denke, dass Israel weit schlimmer ist als Nazi-Deutschland.“ Atzmon scheint von einem Nuklearkrieg zwischen Iran und Israel mit Millionen von Toten auszugehen, um fortzufahren: „Einige mutige Menschen werden sagen, dass Hitler recht hatte.“
Woher stammt die Koinzidenz in der Begrifflichkeit zwischen Atzmon und der Nazi-Terminologie? Nach Meinung des Autors sei es vielleicht die größte Leistung der zionistischen Bewegung, dass sie die jüdische tribale Haltung in ein kollektiv funktionierendes System verwandelt habe. „Betrachtet man den Zionismus als organismus, (sic!) würde dies zu einem grundlegenden Wandel unserer Sicht der Weltpolitik führen.“ (21) Schon die Nazis benutzen den Begriff „Organismus“, um den Unterschied zwischen der organischen Natur der menschlichen Gesellschaft im Gegensatz zu einer rein bürokratischen Organisation zu beschreiben. Die Nazis haben den Juden unterstellt, sie wollten die deutsche Nation „versklaven“. Atzmon schreibt: „Wie konnte es Amerika zulassen, sich von Ideologien versklaven zu lassen, die von Natur aus mit ausländischen (zionistischen) Interessen verbunden sind?“ (26) Atzmon benutzt „zionistischer organismus“ an verschiedenen Stellen des Buches.
Der Autor bemüht sich nahezu krampfhaft, die Existenz eines zionistischen „organismus“ oder Netzwerkes nachzuweisen. Ein solches sei verantwortlich für die US-amerikanischen Aggressionskriege und die Kreditklemme. An Personen wie Paul Wolfowitz, Scooter Libby und Alan Greenspan wird nun das, was Atzmon das “kollektive funktionierende System” oder wie er es vorzugsweise als „dritte Kategorie Bruderschaft“ (third category brotherhood) bezeichnet, und die als “rassische Solidarität” und mit „Zionismus“ gleichsetzt wird, exemplifiziert. (21) Der Autor behauptet allen Ernstes, ohne auch nur einen Beweis dafür vorzulegen, dass Greenspans Geldpolitik auf seiner jüdischen (oder zionistischen) Identität beruhte und das Ziel verfolgte, den Staat Israel zu unterstützen. Um diese Unterstellung „glaubhafter“ zu machen, schreibt Atzmon en Passant, dass jüdische Bankiers einen „Ruf“ als „Unterstützer und Finanziers von Kriegen und sogar der kommunistischen Revolution“ hätten. Diese hochrangigen jüdischen Politiker „blieben im Ausland, anstatt nach ‚Zion` zurückzukehren, um dem zionistische Interesse so gut wie möglich zu dienen“. Und er fragt weiter: „Wie kommt es, dass Amerika seine Wolfowitzes nicht zurückhalten konnte? Wie kommt es, dass Amerika es zulässt, dass Außenpolitik durch einige rücksichtslose ‚Zio-driven` Think Tanks gestaltet wird?“ Atzmon ist sich über die Problematik solcher Behauptungen durchaus bewusst und baut vor, indem er schreibt, dass die Kreditklemme „keine zionistische Verschwörung oder gar eine jüdische Verschwörung gewesen ist (…), denn es geschah alles in der Öffentlichkeit. Es ist tatsächlich ein Unfall.“ (30) Bei der Kapitelüberschrift „Credit Crunch or Zio-punch?“ hätten aber die Alarmglocken läuten müssen. Man fragt sich auch, warum führt er diese Beispiele in einem Buch über „jüdische Identität“ überhaupt an und weist darauf hin, dass jüdische Bankiers nicht nur Kriege finanzierten, sondern auch anzettelten? Die Medien hätten es nach Atzmon versäumt, „die amerikanische Öffentlichkeit vor der Gefahr von innen zu warnen“.
Der Autor pflegt ein ausgeprägtes Feindbild. Sein Hass richtet sich nicht nur gegen die Zionisten, sondern vor allem gegen jüdische Linke, linke Antizionisten und alle, die sich der Politik der israelischen Regierung als Juden widersetzen, wie z. B. Gruppen wie „Juden gegen Zionismus“ oder „Juden für Gerechtigkeit in Palästina“. Diese Personen agierten in einem globalen Netzwerk von „Jüdischkeit“ und Zionismus und zeichneten sich durch ein pathologisches Festhalten an ihrer jüdischen Identität aus. Atzmon lehnt nicht den Zionismus als koloniale Bewegung ab, sondern verurteilt sie nur, weil sie jüdisch ist. Ebenso stimmt er mit der These des Zionismus überein, dass es keine nicht-zionistische jüdische Identität geben könne. Er lehnt auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ab.
Wie denkt Atzmon über den Holocaust? Er leugnet nicht den Holocaust direkt, sondern flirtet eher mit den Holocaust-Leugnern. Der Holocaust „ist kein historischer Narrative, über den frei von Historikern, Intellektuellen oder einfachen Menschen debattiert wird“. Dieser müsse „richtig analysiert“ werden. „Ich denke, dass 65 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wir berechtigt sind zu beginnen, Fragen zu stellen. Wir sollten nach historischen Beweisen und Argumenten fragen, anstatt einer religiösen Erzählung zu folgen, die durch politischen Druck und Gesetze aufrechterhalten wird.“ (174f.) Was soll die Frage nach den „historischen Beweisen“? Meint er etwa, es habe keine industrielle Vernichtung gegeben? Was Atzmon wirklich über dieses abscheuliche Verbrechen denkt, wird nicht klar. Er arbeitet auch hier wieder mit Andeutungen, wenn er fragt: „Warum wurden die Juden gehasst?“ Seine Schlussfolgerung überlässt er dem Leser, der die Bedeutung seiner Andeutung vermuten sollte.
Das Buch ist in einem Punkt sehr hilfreich: Es liefert Einblicke in Atzmons bizarre Gedankenwelt: Hass auf Linke, Sozialisten und Marxisten, jüdisches und zionistisches Verschwörungsdenken, Sympathie für die Hinterfragung der Ergebnisse der Holocaust-Forschung, Ablehnung der Charta der Menschenrechte gepaart mit einer gehörigen Portion Eitelkeit. Vielleicht ist dem Autor gar nicht bewusst, dass er ein politisches Pamphlet geschrieben hat, das sich eines Tages gegen das Judentum in den USA wenden könnte, wenn die These an Fahrt gewinnt, dass jüdische Persönlichkeiten für die US-Kriege und am Betrug am US-amerikanischen Volk verantwortlich sind und ihn dafür als "Kronzeugen" anführen. Das Buch ist sehr gut geschrieben, was dessen schädliche und rassistische Thesen umso gefährlicher machen.