Dienstag, 10. August 2010

Israels Zukunft: "Entzionisierung" und die "Beseitigung von Apartheid"?

Israel Shahak starb am 2. Juli 2001 im Alter von 68 Jahren. Geboren wurde er am 28. April 1933 in Warschau. Er war Überlebender des Warschauer Ghettos und des Konzentrationslagers Bergen Belsen. 1945 emigrierte er in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina (heute Israel). Er war Humanist und kämpfte sein Leben lang für die Menschenrechte. Über viele Jahre hinweg war er Vorsitzender der israelischen Liga für Menschenrechte. Er war ein beständiger Kritiker des Zionismus, der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, der reaktionären Elemente des Judentums und des jüdischen Fundamentalismus.

Für die deutsch-israelische Menschrechtsanwältin Felicia Langer war Shahak „Yeseyahu Leibowitz ohne Religion“. Beide Personen können als Israels letzte Propheten betrachtet werden. Frau Langer war lange Jahre Vizepräsidentin der israelischen Liga für Menschenrechte. Sie charakterisierte Shahak in einem Interview mit mir als den „couragiertesten Intellektuellen, einen engen Freund mit fundierten Kenntnissen der politischen Verhältnisse als viele andere. Obgleich sein Spezialgebiet Biochemie war, las er mit Hingabe, besonders Literatur. Er war ein Mensch ohne Vorurteile.“

Shahak war eine Persönlichkeit mit festen Überzeugungen. Er lehnte die Israelzentrierte Erinnerung des Holocausts ab. Für ihn konnte diese Erinnerung nur universal sein. Konsequent opponierte der gegen Rassismus, Unterdrückung und gegen jede Form der Diskriminierung. Bis zu seinem Tode kritisierte er nicht nur die diskriminierende Behandlung der palästinensischen Bürger Israels, sondern auch die inhumane Behandlung der Palästinenser in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten.

Israel Shahaks Sichtweise von Israel und seines politischen Systems kommen in seinen Büchern „Jewish History, Jewish Religion“, „Open Secrets“, and „Jewish Fundamentalism in Israel“ (alle im Pluto Verlag erschienen; das letzte mit Koautor Norton Mezvinsky ) bestens zum Ausdruck. In diesen Büchern entfaltet er ein Bild Israels, das im Westen nicht gängig ist, dies trifft insbesondere für die Vereinigten Staaten von Amerika zu. Shahak war auch berühmt für seine so genannten "„Shahak Papers“, die aus Übersetzungen aus der hebräischen Presse bestanden und in Kopie weltweit versand worden sind.

Ich traf Israel Shahak zum ersten Mal 1997 in Jerusalem. Bis zu seinem Tode hatten wir Kontrakt. Als die Veröffentlichung seines Buches „Jewish History, Jewish Religion“ in einem obskuren deutschen Verlag bevorstand, warnte ich ihn, einer Veröffentlichung nicht zuzustimmen. Seine Antwort war: „Das interessiert mich nicht. Das Wichtigste ist, dass es auf Deutsch erscheint.“ Das Buch wurde in Deutschland völlig ignoriert. Glücklicherweise erschien es 2009 im Melzer Verlag in dessen Reihe „Semit Edition“.

Das folgende Interview mit Israel Shahak führte ich kurz vor Israels 50. Gründungsjubiläum. Es wurde teilweise in der österreichischen Zeitschrift „International“ 1997 unter dem Titel „Arafat ist ein Diktator“ publiziert. Damals war Binyamin Netanyahu ebenfalls Israels Ministerpräsident. Anlässlich des neunten Todestages von Israel Shahak habe ich mich entschlossen, dass vollständige Interview nicht nur erstmalig auf Englisch (MWC News und Australia.to News), sondern auch auf Deutsch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dass dies in „Der Semit“ möglich ist, dafür danke ich dem Chefredakteur Abraham Melzer ganz herzlich. (Ludwig Watzal)


Ludwig Watzal: Sie gehören zu den wenigen Menschen in Israel, die nicht nur sehr kritisch Ihrem eigenen Land und Regierung gegenüberstehen, sondern auch den Palästinensern, insbesondere Arafat. Was sind die Gründe dafür?

Israel Shahak: Ich habe kürzlich an einem Treffen von Linksintellektuellen in Tel Aviv teilgenommen. Alle waren kritisch gegenüber meinem Land und cirka 600 gegenüber Arafat. Ich stehe also nicht allein. Der Grund für meine Kritik ist sehr einfach. Ich glaube, dass der Zionismus eine Form des Rassismus ist. Ich habe seit Jahren gesagt, dass er das Spiegelbild des Antisemitismus ist. Wie man Antisemitismus als Ausdruck des Hasses gegenüber Juden findet, so ist der Zionismus ein Ausdruck des Hasses gegenüber allen Nicht-Juden (Gojim); nicht nur gegenüber Arabern, sondern auch gegen alle Gojim. Jeder, der die hebräische Presse liest, kann diese Tatsache nicht leugnen. Ich glaube Arafat ist ein Diktator. Arafat ist der Spielball in der Hand der Israelis und der Amerikaner, um sogenannte Stabilität zu garantieren und die Palästinenser ruhig zu halten, während sie weiter ausgebeutet und unterdrückt werden.

In Ihren Veröffentlichungen waren Sie immer sehr kritisch gegenüber der zionistischen Ideologie. Ist es nur wegen des rassistischen Aspekts oder gibt es noch andere Elemente, die Sie zu Ihrer Kritik veranlasst haben?

Ich beginne immer mit einer jüdischen Kritik des Zionismus bevor ich zu dem Schaden komme, den er gegenüber den Palästinensern anrichtet. Der Zionismus hätte auch dann kritisiert werden müssen, wenn ein jüdischer Staat auf einer verlassenen Insel gegründet worden wäre, ohne jemanden zu verletzen. Der Grund dafür ist, dass ein Staat, der auf der Idee der Reinheit der Religion, der Rasse, der Nationalität beruht, kritisiert werden sollte. Das Ziel des Zionismus ist, wie die Zionisten selber sagen, einen reinen jüdischen Staat zu gründen. Dieses Ziel wurde insbesondere durch den Zionismus der Arbeitspartei verfolgt. Ich glaube, dass ein Staat offen sein soll für eine gewisse Anzahl von Menschen, die verfolgt und unterdrückt werden und Asyl suchen. Israel sollte nicht rein jüdisch sein und auch nicht-jüdische Immigranten aufnehmen.

Glauben Sie, dass der Zionismus sein Ziel erreicht hat, einen normalen Nationalstaat für das jüdische Volk zu schaffen?

Ja und Nein. Ich glaube, das Ziel der Staatsgründung ist für die israelischen Juden erreicht worden. Im Laufe der Jahre unterschieden sich die Israelis aber von den anderen Juden. Die israelischen Juden sind eine eigenständige Nation geworden. Wenn Israelis in die USA auswandern, bleiben sie getrennt von der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft. Sie mögen die Amerikaner lieber als die amerikanischen Juden. Sie verlangen von den Juden, die nach Israel einwandern, dass sie Israelis werden, dass sie israelische Gewohnheiten annehmen. Diejenigen, die sich nicht dieser Forderung beugen, werden in einer Art bedacht, die vergleichbar ist mit der deutschen Abwehrhaltung gegenüber Deutschen, die aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren. Somit ist kein jüdischer, sondern ein israelisch-jüdischer Staat geschaffen worden.

Sind Sie mit Ihrer augenblicklichen Regierung zufrieden? Was mögen Sie an ihr und was nicht?

Ich bin mit keiner Regierung zufrieden. Wir werden nie eine gute Regierung haben, sondern immer nur eine weniger schlechte. Ich kann natürlich nicht zufrieden sein mit einer zionistischen Regierung, weil ich alle als diskriminierend ansehe. Die augenblickliche Regierung ist weniger schlecht als die Rabin- und Peres-Regierung. Da unsere augenblickliche Regierung eine rechte ist, wird sie von der ganzen Welt und der Hälfte der Israelis suspekt betrachtet, aber sie stiehlt weniger palästinensisches Land als die Rabin/Peres-Regierung. Die Arbeitspartei-Regierung konnte Land konfiszieren und Siedlungen ausbauen und sagen, es sei für den Frieden. Die Tragödie war, dass die Welt ihnen glaubte. Der große Vorteil von Netanyahu ist, dass man ihm nichts glaubt. Deshalb kann er viel weniger Schaden anrichten als die Vorgängerregierung. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Likud Frieden mit Ägypten geschlossen hat und den Sinai zurückgegeben hat. Der Likud hat zwar 1982 den Libanon angegriffen, aber der Frieden mit Ägypten ist viel wichtiger. Es gab unter Likud eine größere Demokratisierung der Gesellschaft als unter der Regierungszeit der Arbeitspartei. Rabin beschlagnahmte z.B. sehr viel arabisches Land in Israel. Die erste Tat unter Menachim Begin war, dass arabisches Land in Israel nicht mehr beschlagnahmt wurde, sondern nur noch in den besetzten Gebieten. Nach dem Prinzip des geringeren Übels ist dies gut.

Haben Sie nicht Ihr Leben lang gegen Diskriminierung, Rassismus und Unterdrückung von anderen Völkern gekämpft?

Nicht mein ganzes Leben. Erst seit 1968, davor war ich nur ein Chemiker.

Steht Ihre Regierung nicht unter starkem Einfluss der religiösen Koalitionspartner?

Ich bin generell enttäuscht von dem zunehmenden Einfluss der religiösen Parteien. Besonders fürchte ich die Nationalreligiöse Partei (Mafdal). Ich halte sie für problematischer als die Shas-Partei. Unter der Arbeitspartei wäre es das gleiche. Es ist ein Trend, den ich absolut ablehne und fürchte.

Was ist das Gefährliche an der Mafdal-Partei?

Sie ist eine messianische Partei. Sie glaubt, dass wir in einer Zeit der Erlösung leben. Die Welt hat sich geändert und Gott wird augenblicklich erscheinen. Deshalb müsse man Taten vollbringen, die uns hoffen lassen, dass Gott zu unseren Gunsten eingreifen wird. Oder wie die Deutschen sagen: „Gott mit uns.“ Dies ist ein sehr gefährlicher Slogan, weil mit ihm alles gerechtfertigt werden kann. Nur die Mafdal fordert die Gründung eines religiösen Staates, in dem das talmudische Gesetz anstatt des säkularen Gesetzes gilt. Des Weiteren gibt es eine starke Tendenz in dieser Partei, den dritten Tempel wieder zu errichten. Das heißt, die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom müssen zerstört werden. Dies würde zu einem Konflikt mit der islamischen Welt führen, der viel gefährlicher sein wird, als alles, was die Zionisten bisher getan haben. Die anderen religiösen Parteien bekämpfe ich auf der gleichen Ebene wie die säkularen Parteien. Ich teile aber nicht die Diffamierungen der israelischen Linken gegenüber der Shas-Partei. Obwohl ich Shas ablehne, ist sie eine gewöhnliche israelische Partei, die nach dem Prinzip des Gebens und Nehmens funktioniert. Es gibt z.B. keine Shas-Mitgleider in Hebron. Dort leben die fanatischsten Juden; sie gehören alle zur Mafdal-Partei.

Insbesondere nach dem Massaker von Baruch Goldstein in der Ibrahimi-Moschee in Hebron haben sie die religiösen Parteien kritisiert. Ihr Argument war, dass diese Tat nicht verstanden werden kann, ohne die Bedeutung der jüdischen Religion mitzuberücksichtigen. Was sind Ihre Gründe dafür?

Bevor ich den Zionismus kritisiert habe, habe ich die jüdische Religion kritisiert. Nach Yigal Amirs Attentat ist es klar. Für mich war es bereits 1967 klar. Wenn Sie die Politik Israels seit 1967 betrachten, konnte eine solche Politik nur durch eine „religiöse“ Politik der messianischen Art ausgeführt werden. Weder die Säkularen noch die Shas-Mitglieder stimmen mit einer solchen Politik überein. Wenn Sie die Siedlungen nicht als eine Einheit betrachten, gibt es unter den Siedler schlechte und weniger schlechte. Nehmen Sie z.B. die Siedlung in Hebron oder Netzarim im Gaza-Streifen, wo 120 Siedler inmitten von hunderttausenden von Palästinensern leben. Man kann eine solche Siedlung nicht so behandeln wie die anderen Siedlungen. Alle extremen Siedlungen sind religiös, kein säkularer Jude will dort leben. Dies zeigt den religiösen Fanatismus dieser Leute. Sie missachten sogar die realen Umstände, nur um ihre üblen Siedlungsaktivitäten fortsetzen zu können.

Gibt es einen latenten Rassismus der Juden gegen Nicht-Juden (Gojim) hier in Israel?

Der objektive Rassismus in Israel gehört hier zum Alltag. Er richtet sich gegen die ausländischen Arbeiter, die ca. 200 000 umfassen. Der Grund des Hasses gegen die nicht-arabischen Nicht-Juden wird offen zugegeben, weil sie so wenige sind. Israel braucht keine Angst zu haben vor einem Krieg mit Rumänien oder den Philippinen. Minister, Journalisten und natürlich Rabbiner sagen offen, dass sie keine rumänischen Arbeiter wollen, weil sich eventuell unsere Töchter in sie verlieben könnten. Ihnen ist bestimmt dieses rassistische Argument aus Ihrem Land bekannt. Es ist hier ganz klar, dass die meisten Juden Gojim hassen, und je stärker sie durch die Religion beeinflusst sind, desto größer der Hass. Dieser Hass kommt von der jüdischen Religion. In meinem Buch „Jewish History, Jewish Religion“ habe ich aufgezeigt, dass, wenn die religiösen Gesetze eingehalten und über hunderte von Jahren internalisiert werden, werden sie zu einer Quelle des Hasses. Ebenso richtig ist es, wenn Juden jene Schriften von katholischen Heiligen erwähnen, die die Quelle des Hasses gegenüber den Juden sind.

Waren Sie überrascht, dass ein religiöser Jude Rabin ermordet hat?

Ich gehörte zu den zwei Leuten, die es vorhergesagt haben. Der andere was Yehosohavat Harkabi, der ehemalige Leiter des Militärischen Abschirmdienstes. Wir beide sagten voraus, dass ein religiöser Jude versuchen wird, den Ministerpräsidenten zu ermorden. Ich möchte eine andere Prognose wagen: Es wird ebenfalls einen Versuch eines religiösen Juden geben, Netanyahu zu töten. (In diesem Punkte irrte Shahak L. W.)

Ich dachte immer, Rabin war ein guter Ministerpräsident für die Siedler. Er war derjenige, der das Sicherheitsdenken Israels am besten verkörperte. Er war nicht bereit, Siedlungen nach dem Goldstein-Massaker in Hebron aufzulösen. Wie sehen Sie das?

Er war mehr in Symbolik als in Realität interessiert. Alles, was Sie sagen, ist richtig. Rabin pflegte die Siedler immer zu beleidigen. Er sagte ihnen, dass sie nicht wichtig für die Sicherheit seien, dass wir Frieden schließen werden und dass ein Jude, wenn er nach Gush Etzion (ein Siedlungsblock in der Nähe von Jerusalem L.W.) gehen möchte, ein Visum benötige etc. Die messianischen Juden sind nicht so sehr an Realität interessiert, sondern in Erlösung. Yigal Amir und andere sind nicht so sehr interessiert am Oslo-Abkommen, das den größten zionistischen Sieg nach der Staatsgründung von 1948 darstellt. Was sie bewegt ist die Tatsache, ob eine palästinensische Fahne -ein Symbol- über dem „heiligen Land“ weht. Ich gebe Ihnen ein christlich-muslimisches Beispiel: In den frühen christlich-islamischen Handelsbeziehungen wäre der Bau einer Moschee in Venedig oder Rom unmöglich gewesen, aber vor einigen Jahren ist eine gebaut worden. Eine Moschee ist ein Symbol. Saudi-Arabien verbietet bis heute den Bau einer christlichen Kirche auf seinem Staatsgebiet. Es sind also nicht nur die Juden, für die Symbole eine wichtige Bedeutung haben.

Fürchten Sie die Zunahme des jüdischen Fundamentalismus in Israel? Glauben Sie, dass dieser religiöse Fundamentalismus die Sicherheit des Staates auf lange Sicht gefährdet?

Ja. Es gibt zwei Szenarien: Das erste ist ein Bürgerkrieg. Er ist immer möglich, insbesondere dann, wenn es keine äußere Bedrohung mehr gibt. Auch mit einer solchen Bedrohung halte ich einen solchen durch die messianischen Juden für sehr wahrscheinlich. Das zweite Szenario ist viel schlimmer und wird augenblicklich seit eineinhalb Jahren in der israelischen Presse diskutiert: Ein religiöser Staatsstreich. Die Zahl der religiös orientierten Offiziere und Soldaten nimmt stark zu, weil die messianischen Juden die stärksten Militaristen in Israel sind. Sie erziehen ihre Kinder für den Militärdienst über die drei Jahre hinaus. Sie unterhalten Schulen mit einem militärischen Ausbildungsprogramm, in denen die Schüler mit dem Ziel erzogen werden, Offiziere in Elite-Einheiten zu werden. Zirka 30 Prozent eines Offiziersjahrganges gehören den messianischen Juden an. Sie sind exzellente Soldaten. Die Armee bevorzugt sie. Sie könnten versucht sein, einen Staatsstreich zu organisieren, der von ihrem ideologischen Standpunkt aus gesehen immer mehr eine Möglichkeit darstellt.

Haben sie bereits die höheren Offiziersränge erreicht?

Sie haben noch keinen General. Aber die Erfahrung lehrt, dass Majore und Obersten einen Staatsstreich organisieren können. Man braucht dazu keinen General.

Unternimmt die israelische Regierung etwas, um den Einfluss der nationalreligiösen Israelis auf die Armee zu stoppen oder einzudämmen?

Nein. Wir haben eine Bewegung von pensionierten Militärs, die Ausbildungsstätten für paramilitärisches Training für säkulare Jugendliche einrichten, bzw. um sie auszubilden. Damit will man den Einfluss der Religiösen in der Armee konterkarieren.

Glauben Sie, dass das säkulare Israel stark genug ist, um dem Einfluss der Religiösen standzuhalten?

Im Augenblick ja. Aber was in acht bis zehn Jahren passiert, kann ich nicht sagen.

Wie setzt sich die israelische Gesellschaft mit dem religiösen und rechtsradikalen Phänomen nach der Ermordung Rabins auseinander?

Sie hat sich überhaupt nicht damit auseinandergesetzt. Dies ist einer der größten Skandale in der israelischen Geschichte. Insbesondere wird der Likud und Netanyahu von der Arbeitspartei beschuldigt, für die Ermordung Rabins mitverantwortlich zu sein. Sie haben sich aber nicht mit den Gruppen befasst, die Yigal Amir ausgebildet haben. Der Likud hat nicht zur Tötung des Ministerpräsidenten aufgerufen, sondern die religiösen Gruppen. Indem die Arbeitspartei dies weiter verbreitet, erhöht sich die Gefahr. Hier gibt es eine gute deutsche Parallele: Das Verhalten der Kommunisten vor der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933. Anstatt die Nazis zu bekämpfen, bekämpften sie die Sozialdemokraten. Die israelische Rechte in ihrer Gesamtheit kann nicht für den Mord an Rabin verantwortlich gemacht werden, sondern nur die Mafdal-Partei und ihr Ausbildungssystem.

Sie gehören zu den schärfsten Kritikern des Zionismus. Mögen Sie deshalb den sogenannten Postzionismus?

Nein. Ich bin Antizionist.

Sind die Postzionisten nicht auch Antizionisten?

Es ist eine vage Bewegung. Auch die ersten Zionisten waren Mitglieder einer schlechten Bewegung, weil sie Land kauften mit der Intention, dass es nur Juden gehören dürfe, und sie kündigten sofort das rassistische Prinzip der „jüdischen Arbeit“ an. Das heißt, dass ein jüdischer Arbeitgeber nur jüdische Arbeiter einstellen sollte. Das ist purer Rassismus.

Stellen nicht die Postzionisten viele zionistische Geschichtsmythen in Frage?

Dies gilt auch für den Zionismus. Wir haben eine sehr positive Bewegung von „neuen Historikern“, die alles, die gesamte Geschichte, in Frage stellen nicht nur die letzten hundert Jahre. Dieses Verhalten ist nicht nur beschränkt auf den Postzionismus, sondern gilt für große Bereiche der israelischen Gesellschaft. Es gibt viele Zionisten, die das gleiche tun. Benni Morris ist ein überzeugter Zionist und hat Bücher geschrieben, welche die Geschichte gewisser Perioden verändert haben.

Moshe Zimmermann argumentiert, dass die Periode des klassischen Zionismus mit der Ermordung Rabins zu Ende gegangen sei und dass die Feinde des Zionismus, die ethnozentrische Variante des Zionismus, die Macht übernommen habe. Diese Vertreter seien die wirklichen Postzionisten. Wie stehen Sie zu dieser Interpretation?

Dies ist neu für mich. Er hat diese These wahrscheinlich in Deutschland vorgetragen und nicht in Israel. Ich teile nicht seine Meinung. Der klassische Zionismus existiert weiter. Er hat mächtige Feinde, die nicht-messianischen religiösen Parteien. Die Shas-Partei hat gegenüber der Nationalreligiösen-Partei den Vorteil, dass sie den Zionismus ablehnt, weil der Zionismus gegen die jüdische Religion in ihrer ursprünglichen Form verstoße.

Ich möchte zu einem anderen Themenbereich wechseln. Sollten die deutsch-israelischen Beziehungen normal sein wie z.B. die Beziehungen zwischen den USA und Israel oder gibt es da immer noch etwas Besonderes zwischen unseren beiden Ländern?

Da gibt es nichts Besonderes, außer für Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Nach deren Meinung sind es keine besonderen Beziehungen, sondern individuelle. Ich kenne Menschen, welche die deutsche Kultur nicht mögen. Ich mag sie nicht nur, sondern kenne sie auch ziemlich gut. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Zwischen den beiden Staaten sollte es normale Beziehungen geben, weil der Nazismus kein antijüdisches, sondern ein universelles Phänomen ist. Die Anzahl der Menschen, Deutsche eingeschlossen, die unter der Naziherrschaft getötet worden sind, war größer als die Zahl der getöteten Juden. Ich vergesse nicht die Juden, die getötet wurden - zu denen auch Mitglieder meiner Familie gehörten -, und weil Nazismus überall entstehen kann. Wenn die messianischen Juden Israel regieren, werden wir ein Nazi-Israel haben. Damit der Nazismus niemals wieder entstehen kann, muss man normale Beziehungen mit Deutschland unterhalten.

Wie weit sollte der Holocaust noch unsere Beziehungen beeinflussen?

Die Erinnerung an den Holocaust muss wach gehalten werden, aber es ist eine universale Erinnerung. Die jüdische Erinnerung an den Holocaust ist konzentriert auf Polen. Die meisten Juden, die sich an den Holocaust erinnern wollen, fahren nach Polen. Von den sechs Millionen Juden, die getötet wurden, waren drei Millionen polnische Juden. Auch Juden aus anderen Ländern wurden nach Polen transportiert und umgebracht. Praktisch konzentriert sich also die Holocaust-Erinnerung auf Polen und nicht auf Deutschland. An zweiter Stelle der Erinnerung steht Deutschland. Es ist ganz natürlich, sich so zu verhalten.

Was halten Sie von der deutschen Debatte und Intention eine Holocaust-Mahnmal zu errichten?

Falls die Menschen ein Mahnmal errichten wollen, sollen sie es tun und andere sollten sie nicht daran hindern. Ich bin gegen eine solche Idee. Mahnmale sind nicht wichtig, ebenso sind Fahnen und Symbole nicht wichtig. Die Verehrung von Symbolen legt den Grundstein für Fanatismus. Die zentrale Frage für mich ist die Trennung des Nazismus vom Deutschsein und der deutschen Vergangenheit. Nazismus hat keinerlei Verbindung zur deutschen Vergangenheit, er ist Teil einer neuen Bewegung, die das christliche Europa ablehnte. Was immer das Christentum oder der Islam dem Judentum angetan hat, beide haben immer zwei Prinzipien respektiert: Erstens wurde ein Jude, der zum Christentum oder zum Islam übertrat, sofort als „Bruder“ angesehen. Er konnte sogar Erzbischof werden. Es gibt keinen impliziten Hass gegen Juden, wenn es einen solchen Hass gab, dann nur solange, solange Jesus oder Mohammed verleugnet wurden. Dies ist eine völlig andere Haltung, als sie die Nazis hatten. Sie haben nicht nur nicht die Juden vernichtet, sondern in ihrer Ideologie behauptet, dass ein Jude sich nie ändern würde. Das ist etwas völlig anderes. Zweitens: Alle antisemitischen Bewegungen, die modernen ausgenommen, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind, und aus denen der Nazismus entstanden ist, waren nicht für die Vernichtung der Juden, sondern für deren Diskriminierung. Keine dieser historischen antisemitischen Bewegungen hat die Vernichtung der Juden und ihrer Kinder propagiert. Nur die Nazis taten dies. Bevor der Entstehung des Nazismus gab es keinen Deutschen, der die Vernichtung der Juden verlangt hätte. Das Wichtigste, das ich den Deutschen raten würde, ist die Trennung des Nazismus von der deutschen Vergangenheit.

Ist es legitim zu unterscheiden zwischen dem Holocaust einerseits und der Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern andererseits? In Deutschland gibt es immer die Tendenz, die israelische Politik mit dem Phänomen des Holocaust zu rechtfertigen. Ist dies legitim oder sollten beide Dinge nicht strickt getrennt werden?

Dieses Anliegen ist völlig legitim. Alles sollte kritisiert werden, denn wenn man eine Ausnahme macht, wird eine zweite, dritte usw. folgen. Es ist völlig in Ordnung, Israel zu kritisieren. Das Holocaust-Argument geht in eine völlig andere Richtung. Der Holocaust war nur möglich, weil die Deutschen nicht über den Holocaust Bescheid wussten. Es gibt einen Beweis für diese These. Die Nazis versuchten, die Massentötungen der geistig und körperlich Behinderten zu verschleiern. Sofort als der katholische und protestantische Klerus es erfahren hatten, protestierten er dagegen. Selbst Hitler musste in dieser Frage zurückstecken. Das heißt, dass es den größten Widerstand gegen den Nazismus und andere Grausamkeiten gibt, wenn die Menschen darüber Bescheid wissen und ihre Stimme dagegen erheben. Sie können nichts mehr für die Toten tun, sie sind tot. Man kann nur einen bevorstehenden Massenmord an Lebenden verhindern, und dies durch eine allumfassende Kritik, Israel darin eingeschlossen.

Glauben Sie, dass die Oslo-Abkommen Israel Frieden bringen und zu einem Palästinenserstaat führen werden?

Wenn sie meinen, dass das Gebilde, was entsteht, als ein Palästinenserstaat bezeichnet werden kann, wie man die Transkei (ein ehemaliger Bantustanstaat in Südafrika L. W.) einen souveränen Staat genannt hat, dann ja. Ein Vorteil von Natanyahu ist, dass er gegenüber den USA willfähriger reagiert als jeder seiner Vorgänger. Wenn sich Clinton von seinen Skandalen erholt haben wird und Druck auf Israel ausübt, um Israel zur Anerkennung eines so genannten palästinensischen Staates zu veranlassen, wird Netanyahu der erste sein, der zustimmt. Falls der US-Präsident Netanyahu einen Befehl gibt, wird dieser ihn ausführen. Der US-Präsident schätzt Israel als ein Instrument amerikanischer Politik viel mehr als die Palästinenser oder alle arabischen Staaten zusammengenommen. Der Grund ist, Israel ist stark und reich. Israels GNP pro Kopf beträgt 16 900 US-Dollar. Die israelische Armee ist sehr stark. In Israel kann die Regierung laut Gesetz einen Krieg beginnen, ohne die Zustimmung der Knesset, des Parlaments. Israel sieht sich selber als Garant von Stabilität im westlichen Auftrag. Kann Arafat etwa die Stabilität des Nahen Ostens garantieren? Er kann gerade mal die Stabilität in seinen Enklaven sichern. Eine imperiale Macht wie die USA schätzt natürlich Israel viel mehr. Israel ist sehr wichtig für den geopoltischen Einfluß der USA in der Region. Dies ist wichtiger als der Einfluß der jüdischen Lobby in den USA. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, dass die USA Druck auf Israel ausüben werden. Was immer von Arafat gegründet wird, es wird ein Art Transkei sein.

Glauben Sie, dass die USA Israel brauchen, um ihre imperialen Ziele im Nahen Osten durchsetzen zu können?

Ja, weil die israelische Armee bereit ist, falls nötig, in Saudi-Arabien zu intervenieren, um die saudische Dynastie zu retten; dies wäre mit der israelischen Armee am schnellsten zu bewerkstelligen. Wir können nicht erwarten, dass der amerikanische Kongreß oder der Deutsche Bundestag Truppen entsenden würde, um eine interne Revolution in Saudi-Arabien zu unterdrücken und niederzuschlagen. Der Golfkrieg war nur möglich, weil Saddam Hussein ein Land der UNO besetzt und nach der Besetzung es versäumt hatte, eine Marionetten-Regierung zu installieren; er annektierte es nur. Er benahm sich nicht wie die Sowjets oder die Amerikaner, als sie in andere Länder einmarschierten. Stellen Sie sich vor, die Sowjetunion hätte 1956 Ungarn annektiert.

Sind Arafat und seine Leute nur eine „Bande“ von korrupten Politikern, die auf Kosten ihrer Bevölkerung leben?

Ja. Diese Lage ist bisher historisch einzigartig. Die Frage ist, wann sie zu solchen Menschen wurden? Arafat war es bestimmt nicht 1965. Ich glaube, er wurde korrupt, als er die Hälfte des Libanon regierte. Heute ist er genau das, was Sie gesagt haben.

Falls sich diese Ausbeutung der eigenen Bevölkerung fortsetzt, könnte es dann nicht zu einem wirklichen Volksaufstand gegen Arafat kommen, der sich dann aber auch zusammen mit der palästinensischen Behörde gegen Israel richten könnte?

Ich glaube, dass es einen Volksaufstand gegen Arafat geben wird. Zu Beginn wird es einen quasi anarchistischen Aufstand à la Intifada geben. Er war nicht gesteuert, sondern verbreitete sich durch Nachahmung. Ich glaube, dass Ähnliches Arafat passieren könnte. Arafats Regime ist aber viel stärker als unserer Geheimdienst jemals in den Gebieten war, weil es sich modernster Technik bedient. Arafat hat ein Computersystem installiert, das alle Daten von Personen erfasst und analysiert. Eine solche Totalerfassung gab es vor 30 Jahren noch nicht. Hinzukommt noch, dass er ein palästinensischer und kein fremder Diktator ist. Und seine Männer sind palästinensische Gangster. Unser Geheimdienst war nicht nur schlimm, sondern er war auch sehr dumm. Er glaubte, alles über die Palästinenser zu wissen, aber tatsächlich wußte er nichts. Arafat dagegen kennt die eigene Bevölkerung und weiß, sie zu beherrschen. Er ist ein cleverer Despot.

In Kürze wird Israel 50. Was wünschen Sie sich für Ihr Land?

Eine Entzionisierung. Die Beseitigung von Apartheid und Diskriminierung. Seit Jahren sage ich, dass Israel ein Apartheid-Staat ist und es gegenüber Nicht-Juden diskriminiert. Ich wünsche mir, dass unser Land diese Art der Diskriminierung beendet. Ich bin kein Utopist. Ich meine die legale Diskriminierung und die offizielle Unterdrückung. Dies wäre eine gute Grundlage für einen „kalten Frieden“ im Nahen Osten. Ich erwarte keinen „warmen Frieden“ für die Region. Ich bin für einen „kalten Frieden“ wie er zwischen Griechenland und Mazedonien existiert. Beide mögen sich nicht, führen aber auch keinen Krieg gegeneinander. Die erste Bedingung für diese Art des Friedens ist die Entzionisierung Israels. Sonst wird es über kurz oder lang wieder zu Kriegen kommen. Ich bin weiterhin für die Beseitigung der Kluft zwischen reich und arm. Israel steht, was die Einkommensunterschiede anbelangt, and dritter Stelle. Ich erinnere auch an den Holocaust. Die legalen Diskriminierungen von Gruppen erinnern mich an diese Ursachen, die zum Holocaust geführt haben. Der erste Schritt der Nazis war nicht die Vernichtung der Juden, sondern die Entlassung aller Juden, auch derjenigen, die konvertiert waren. Bis zu diesem Moment waren sie deutsche Patrioten.

Als Deutscher möchte ich dieser Antwort widersprechen, weil der Holocaust für mich in der Geschichte einzigartig ist. Was Sie gesagt haben, war aber sehr provokativ für deutsche Ohren.

Als moderater Pessimist kann ich sagen, dass Ruanda, Kambodscha und Bosnien gezeigt haben, dass der Holocaust immer wieder vorkommen kann. Es ist nur die Existenz von ziviliiserten imperialen Mächten, die einen Holocaust verhindern. Falls sich einmal keine imperiale Macht mehr für die Welt verantwortlich fühlen sollte, könnte es wieder einen Holocaust geben.

Professor Shahak ich danke Ihnen für das Gespräch.

Foto: Palästina-Portal