Donnerstag, 18. September 2014

"Israel ist eine ethnische jüdische Demokratie und ein Apartheid-Staat"

Die jüdische Zeitschrift "DER SEMIT" ist nach zweijähriger Unterbrechung wieder erschienen, und zwar Online. Eine unabhängige, andere jüdische Stimme wurde in den letzten Jahren in Deutschland schmerzlich vermisst, weil die Berichterstattung der Konzern- und staatlich-alimentierten Medien uniform geworden ist. Eine kritische Berichterstattung über die brutale Besatzungspolitik Israels und das Massaker an der Zivilbevölkerung und die Verwüstungen im Gaza-Streifen ist nur noch in einer relativierenden Terminologie möglich, weil jede fundamentalere Kritik an dieser völkerrechtswidrigen Politik als "Antisemitismus" stigmatisiert wird. Ein Beispiel dieser politischen Groteske fand kürzlich vor dem Brandenburger Tor in Berlin statt, als dort gegen "Judenhass" und "Antisemitismus" protestiert worden ist, wo es schlicht und ergreifend um Kriegsverbrechen der israelischen Besatzungsmacht hätte gehen sollen. Diese Verleumdungsstrategie dient dazu, die brutale Besatzungspolitik und Unterdrückung des palästinensischen Volkes durch den Staat Israel gegen jegliche Kritik zu immunisieren. Zu dem Komplex "Israelkritik", "Antisemitismus", "Judenhass" u. v. a. m. äußert sich der Chefredakteur von "DER SEMIT", Abraham Melzer, gegenüber "BETWEEN THE LINES".

Ludwig Watzal: Endlich, so könnte man sagen, gibt es die Zeitschrift "DER SEMIT" wieder, dieses Mal aber nur Online. Warum das, und was sind Ihre Motive, die Zeitschrift gerade zu diesem Zeitpunkt wieder zu beleben? 

Abraham Melzer: Nun, der Grund warum ich die Zeitschrift nur online mache, liegt doch auf der Hand. Die Mittel für eine gedruckte Ausgabe sind nicht vorhanden und ich habe mich überzeugen lassen, dass man auch mit einem Online-Magazine viele Menschen erreichen kann. In einer Zeit, in der Printmedien schließen und nur noch online erscheinen, liegen wir gut im Trend. 

Am 14. September gab es in Berlin vor dem Brandenburger Tor eine Veranstaltung gegen "Judenhass" und "Antisemitismus" in Deutschland, die vom Zentralrat der Juden organisiert worden ist. Haben Sie als deutsch-jüdischer Publizist auch daran teilgenommen? Gibt es "Judenhass" und "Antisemitismus" in Deutschland, wie dies die jüdischen Lobby-Organisationen und andere behaupten? 

Ich habe an dieser Veranstaltung nicht teilgenommen, da sie mir nicht wertvoll genug erschien, die Reise von Frankfurt nach Berlin auf mich zu nehmen und die Kosten noch dazu. Ich hielt die Kundgebung für überflüssig und, wenn schon, dann sollte sie nicht vom Zentralrat der Juden organisiert werden. Ich hätte verstanden, wenn die Bundesregierung oder die Gewerkschaften eingeladen hätten, aber nicht die vermeintlichen Opfer, die sich damit den Tätern angebiedert haben. Ich glaube aber grundsätzlich, dass die Kundgebung überflüssig war, da es in Deutschland weder „Judenhass“ noch „Antisemitismus“ gibt und es der jüdischen Lobby-Organisation nur darum ging, Stimmung für Israel zu machen und von Israels Kriegsverbrechen abzulenken. 

Glaubt man den Worten des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann, dann durchlebe Deutschland heute "die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära". Müsste folglich nicht jeder jüdische Deutsche sofort das Land verlassen? Sollten Sie nicht rasch nach Israel auswandern? Wie wäre es, wenn Sie dabei gleich Ihren "Glaubensbruder" Henryk M. Broder mitnähmen, der scheinbar auch hinter jedem Busch einen "Antisemiten" hervorgucken sieht? Hat er nicht schon einmal "Aliya" nach Israel gemacht? 

Wer Graumanns Worten glaubt, ist selber schuld. Ich kann nichts für seine Paranoia und möchte davor nur warnen. Er tut so, als ob das Dritte Reich wieder auferstanden sei. Ich lebe schließlich auch in diesem Land und mir ist all das, was Graumann moniert, nicht aufgefallen. Ich sehe aber auch nicht in jedem Deutschen einen potentiellen Antisemiten und habe auch nicht vor, dieses Land zu verlassen. Mir geht es hier ganz gut und ich denke im Traum nicht daran, Deutschland gegen Israel zu vertauschen, und schon gar nicht zusammen mit dem paranoiden Juden Henryk M. Broder gemeinsam auszuwandern. Broder ist ja schon einmal ausgewandert und war schnell wieder zurückgekehrt. Offensichtlich hat es ihm nicht gefallen. Ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass Broder „Aliya“ machen will. Was er vermutlich will, ist, dass andere „Aliya“ machen sollen. 

Wenn Deutschland nach Graumanns Worten "die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära" durchlebt, muss man sich fragen, warum zwischen 20 000 und 30 000 Israelis ihr Land für Berlin verlassen haben? 

Ich möchte über deren Motive nicht spekulieren. Aber warum stellen Sie diese Frage nicht dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland? 

In Israel regiert im Augenblick eine Regierung, die man noch nicht einmal seinem ärgsten Feinde wünscht. Sie haben in Israel gelebt und in der israelischen Armee gedient und im Krieg das Land verteidigt. Im Gegensatz zu den zionistischen Großsprechern in Deutschland haben Sie ihr Leben für Israel riskiert. Ist das augenblickliche Israel noch der "Zufluchtsort" vor deutschen "Antisemiten", von dem die zionistischen Lobbyisten immer wieder reden? 

Erstens sehe ich in Deutschland keine Antisemiten, die mich zwingen könnten, nach Israel auszuwandern. Sollte ich aber doch einmal auswandern müssen oder wollen, dann bestimmt nicht nach Israel, wo ich auf eine verlogene und heuchlerische Gesellschaft treffen werde, die mir höchst unsympathisch ist. Ich möchte auch nicht in einem Land leben, dass ein anderes Volk unterdrückt und mit Gewalt beherrscht. 

Die zionistischen Lobbyisten reden immer von der Delegitimierung Israels und verweisen auf die BDS-Kampagne, die sich für den Boykott israelischer Waren aus den illegalen Siedlungen starkmacht. Betreibt aber nicht die rechtsnationalistische Netanyahu-Lieberman-Regierung die eigentliche Selbstdelegitimierung durch ihre rassistische und expansionistische Politik? 

Natürlich ist das so und wer es nicht so sieht oder so sehen will, belügt sich selbst. Israels Politik ist der größte Feind Israels und eine solche Politik delegitimiert diejenigen, die dafür verantwortlich sind. 

Israel hat sich schon lange von den Idealen seiner Gründer entfernt. Kann das Land überhaupt noch anhand der klassischen westlichen demokratischen Kriterien gemessen werden, oder sollte man hier nicht eher von einer "ethnischen" und "jüdischen Demokratie" sprechen? 

Nun, auch die Ideale seiner Gründer waren nicht so moralisch und demokratisch, dass man sie hoch halten sollte. Aber selbst von den relativ moralischen Idealen seiner Gründer hat sich Israel weit entfernt. Israel kann sich gegenüber den Diktaturen und Schurkenstaaten dieser Welt als demokratischer Staat ausloben, aber nicht gegenüber wirklich demokratischen Staaten. Israel ist eine ethnische jüdische Demokratie und ein Apartheid-Staat. Ein Staat kann aber nicht gleichzeitig jüdisch und demokratisch sein. In einer Demokratie ist die Trennung von Religion und Staat eine wesentliche Voraussetzung. 

Die zionistische Propaganda will die Kritiker der israelischen Besatzungspolitik als "Antisemiten" stigmatisieren, weil sie den Finger in die Wunde dieses Unrechts legt, das durch die israelische Regierungspolitik gegenüber den Palästinensern begangen wird. Sind diese Kritiker wirklich alle "Antisemiten" oder - wie in Ihrem Fall oder dem von Felicia Langer - "jüdische Selbsthasser"? 

Die Kritiker Israels bzw. seiner Politik sind weder Antisemiten noch, falls sie Juden sind, jüdische Selbsthasser. Man muss kein Antisemit sein, um Israels Politik zu kritisieren. Man muss nur einen kritischen, moralischen und gesunden Menschenverstand haben und das Motto des antiken jüdischen Philosophen Hillel befolgen: Tue deinen Nachbarn nicht das an, was du nicht willst, dass man es dir antut. Das allein würde schon reichen. 

Was würden Sie der deutschen Politikerklasse im Falle von Israel raten? Soll es auch einen Boykott der Europäischen Union gegenüber dem israelischen Besatzungsregime geben wie weiland gegenüber Russland im Falle der Ukraine? 

Ja, das würde ich persönlich und auch meine Freunde von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost sehr begrüßen. Was für Russland gilt, sollte auch gegenüber Israel angewendet werden. Aber seltsam genug, die Welt hat vor Israel mehr Angst als vor Russland. Die Frage ist: Warum? 

Wie sieht Ihre Vision für Israel/Palästina aus? In welcher staatlichen Formation sollten beide Völker leben? 

Grundsätzlich fände ich die Lösung in einem demokratischen Staat für erstrebenswert. Ich fürchte aber, dass eine solche Lösung noch unrealistischer ist als eine Zwei-Staaten-Lösung, deshalb würde mir auch eine solche vorerst genügen. Beide Staaten müssen aber vollkommen gleichberechtigt sein und keiner darf den anderen dominieren.