Erinnerungskultur genießt einen hohen Stellwert in
Deutschland. Jetzt liegen die Lebenserinnerungen des jüdischen Verlegers Joseph
Melzers vor. In ihnen wird ein jüdisches Leben
im 20 Jahrhundert entfaltet, das in jeder Beziehung als außergewöhnlich
bezeichnet werden kann. Der Autor habe
"neun Leben gelebt". Diese
Behauptung macht neugierig.
Joseph Melzer wurde 1907 in Kuty, einem Städtchen in
Galizien, in die K. u. K.-Monarchie (Donaumonarchie) geboren. Am Ende des Ersten
Weltkrieges fiel ein Teil Galiziens an Polen und Melzer war fortan Pole. Kaiser
Franz Joseph wurde als Vaterfigur verehrt. "Der Kaiser schützte seine
Juden, und die Juden liebten ihren Kaiser." In dieser "kleinen
Welt" gab es keinen Antisemitismus. Judenhass wurde so wahrgenommen
"wie Sommer und Winter". "Judenhass habe ich erst viel später im
Deutschland der zwanziger und frühen dreißiger Jahre kennengelernt."
Neben seiner lebenslangen Liebe zu Büchern - besonders den antiquarischen-,
beschäftigte die "jüdische Frage" Melzers gesamtes Leben, da sie ihn
"unmittelbar betraf" und eine "gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei".
In der Frühzeit der kommunistischen Bewegung glaubte Melzer noch an die These,
dass die "soziale Frage" auch die "Judenfrage" lösen würde.
Desillusioniert stellt er vierzig Jahre später fest, "dass der sowjetische
Sozialismus weder die soziale noch die jüdische Frage zu lösen imstande
war." Da das Problem ungelöst geblieben sei und sich nach dem Holocaust
die Frage der Emigration nach Israel als "einzigen Ausweg" anbot, sympathisierte
Melzer für kurze Zeit auch mit dem Zionismus.
Obgleich er Mitglied einer zionistischen Organisation war, dachte
niemand daran, nach Palästina auszuwandern. "Eigentlich wollten wir alle
gute Deutsche sein." Nach zwei Aufenthalten in Israel (1933-1936 und 1948-1958) kehrte Melzer desillusioniert
in sein insgeheim geliebtes Deutschland zurück.
Die Unaufrichtigkeit des Zionismus erlebte Melzer bereits
während seines ersten Aufenthalts in Palästina. Mit seinen Bekannten aus David
Ben-Gurions Arbeiterpartei "Mapai" organisierte er ein Treffen mit
dem palästinensischen Intellektuellen Raghib al-Naschaschibi über die Rolle des
Zionismus in Palästina. Walter Klingnow, ein engagierter Zionist, wollte al-Naschaschibi die Vorteile des Zionismus für
Land und Leute erklären. So wolle der Zionismus die einheimische Bevölkerung
mit der westlichen Zivilisation vertraut machen und den "gebildeten
Arabern die europäische Kultur nahebringen".
Ruhig erwiderte al-Naschaschibi auf diese zionistische
Überheblichkeit und Arroganz: "Ich verstehe die Argumente der Juden, aber
die Araber haben keinen anderen Weg, als sich gegen die Überflutung des Landes
durch jüdische Einwanderer zu wehren, denn sie stellen die Existenz des
palästinensischen Volkes in Frage." Auf jüdischer Seite konnte er keine
Kompromissbereitschaft erkennen, im Gegenteil: "Ein Judenstaat bedeutet
für uns, dass ganz Palästina der Herrschaft der Juden ausgeliefert sein wird
und dass die Palästinenser allenfalls geduldet blieben. In einem souveränen und
eigenständigen jüdischen Staat werden Araber nicht die gleichen Rechte haben
können. Auch für sie sei es darum eine Frage des Überlebens, eine Frage auf
Leben und Tod."
Der überwiegende Teil von Melzers "neun Leben" war
von Elend, Leid, Hunger, Verzweiflung aber immer auch "Glück"
gekennzeichnet. Er war nicht nur mit zahlreichen Intellektuellen seiner Zeit befreundet,
sondern selbst in scheinbar aussichtslosesten Situationen setzte er immer
wieder auf Geduld und Beziehungen. Dies
half ihm besonders in Paris, "der schönsten Zeit meines Lebens".
Tagsüber lebte Melzer in seiner Buchhandlung, abends im Café du Dome. Dort traf
er auch Joseph Roth, der im galizischen Dorf Brody geboren wurde. Unter "Galizianern"
bestand nach Melzer eine "tiefe und verlässliche Solidarität wie in einer
großen Familie". Beide sprachen oft über die "jüdische Frage"
und den Zionismus. Für Roth konnte der Zionismus diese Frage nicht lösen; er
könne nur eine "Teillösung der Judenfrage" darstellen. Roth
befürchtete auch, dass "das Antisemitismusproblem in einem jüdischen Staat
in Palästina weit gefährlichere Probleme hervorbringen werde".
Joseph Melzer überlebte die sibirische Verbannung, Samarkand
und das Lager für Displaced Persons (DP) in Österreich und gelangte schließlich
mit seiner Frau Mirjam und seinen Söhnen Abraham und Zwi-Simon 1948 nach
Israel, wo seine Tochter Judith geboren wurde. Obgleich er sich wieder eine
Existenz als Buchhändler aufgebaut hatte, zog es ihn samt seiner Familie nach
Deutschland zurück, obwohl seine Frau Mirjam partout nicht im Länder der Täter
leben wollte, wurde doch ihre komplette Familie von den Nazis vernichtet.
In Köln angekommen konnte sich Melzer der Neugründung seines
Verlages widmen, die durch eine kleine Entschädigung seitens des deutschen Staates
für sein verlorenes Vermögens in Paris möglich geworden war. Er brachte eine Ludwig
Börne-Gesamtausgabe heraus, die sich aber schwer verkaufen ließ. Ein Verkaufsschlager
wurde hingegen das Buch von Pauline Réage "Geschichte der O.", die
seinerzeit zu Unrecht als Pornographie galt. Verlagsinterne Intrigen eines
gewissen Jörg Schröder, den Gründer des März-Verlages, trieben letztendlich den
Melzer-Verlag in den Konkurs. Abraham (Abi) Melzer hauchte dem altehrwürdigen
Melzer-Verlag mit einem zeitgemäßen Konzept neues Leben ein. Joseph Melzer
baute in seinen letzten Lebensjahren noch einmal ein beachtliches Antiquariat
auf, bevor er in Januar 1984 an Krebs verstarb.
Diese Lebenserinnerungen sind sowohl als zeitgeschichtliches
als auch kulturhistorisches Dokument von großer Bedeutung. Obgleich Melzer mit
dem Zionismus anfänglich sympathisierte, entschied er sich für das humane
Judentum und seine universalistischen Werte und gegen das engstirnige
zionistische Stammesdenken. Das Durch- und Überleben der schrecklichen
Katastrophen des 20. Jahrhunderts machen diese Memoiren so wertvoll.