Samstag, 12. April 2014

"Der NSA-Komplex" - Droht ein neuer Totalitarismus?

Die National Security Agency, besser bekannt unter ihrem Kürzel „NSA“, bedroht durch ihre weltweite Überwachung und Abschöpfung des gesamten Internetdatenverkehrs nicht nur die Freiheit jedes Einzelnen, sondern transformiert die Demokratie in einen Überwachungs- bzw. Polizeistaat. Die USA befinden sich spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf dem Weg in einen solchen, wenn man profilierten US-amerikanischen Kritikern Glauben schenken kann. 

Es ist also Gefahr im Verzug für alle Staaten und jeden Bürger, denn wer das Internet flächendeckend ausspioniert, kontrolliert das 21. Jahrhundert. Die große Mehrheit der politischen Klasse in Deutschland scheint von dieser Erkenntnis noch Lichtjahre entfernt zu sein. Das politische Hickhack, das es um die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Vorfeld gegeben hat, wurde nur noch dadurch getoppt, dass kurz nach der Wahl des CDU-Abgeordneten Clemens Binninger zum Ausschussvorsitzenden dieser die Brocken wieder hingeworfen hat. Er und mit ihm fast die gesamte CDU-Bundestagsfraktion hatte sich gegen die Ladung Edward Snowdens als Zeuge ausgesprochen, da dieser ja nichts mehr zur Aufklärung beitragen könne! Wer, wenn nicht Snowden, der den Jahrhundertskandal aufgedeckt hat, seinen Job und seine Freiheit dafür geopfert hat, wäre besser zur Aufklärung und Aufarbeitung geeignet, wenn große Teile der politische Klasse in Deutschland an einer solchen wirklich interessiert wären. Neben Snowden könnte der Ausschuss den Ex-NSA-Chef Keith Alexander oder dessen Nachfolger Michael Rogers laden, die über die Spionagearbeit der NSA mehr Wissen zur Verfügung stellen könnten als Snowden. Würde Snowden nach Berlin kommen, muss er in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden, weil er sonst in die Fänge eines der 17 US-Geheimdienste geraten könnte.

Wie die politische Klasse - mit Ausnahme der Parteien Die Grünen und Die Linke - bisher mit dem NSA-Skandal umgegangen ist, kann nur als unprofessionell und dürftig bezeichnet werden. Als der Skandal ruchbar wurde, spielte die damalige Regierung ihn herunter. Als damalige Oppositionspartei forderte die SPD noch die Einvernahme Snowdens vor einem Untersuchungsausschuss, wovon sie heute als Regierungspartei fast nichts mehr wissen will. Als sich im Juni der Chef der NSA, Keith Alexander, und der Chef des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, zum einem Arbeitsfrühstück in einem Club am Gendarmenmarkt trafen, mutete das Treffen an, „als würde Volkswagen-Chef Martin Winterkorn sich mit einem lokalen Vertragshändler zusammensetzen“, schreiben die Autoren.

Zu Beginn des Skandals schickte man Bundesbeamte nach Washington, die dort vorstellig werden sollten. Als diese unverrichteter Dinge wieder heimkehrten, reist der Innenminister, der Geheimdienstkoordinator zusammen mit deutschen Geheimdienstgrößen nach Washington, um Eindruck zu schinden, auch sie kehrten ebenfalls mit leeren Händen zurück. Danach verabreichte der Innenminister politisches Valium und Sedativa nach dem Motto, alles sei in bester Ordnung, die Bürger/innen müssten ihren Computer nur ordentlich schützen! Erst als bekannt wurde, dass das Handy der Bundeskanzlerin über Jahre hinweg abgehört worden ist, wachte die Regierung zwar auf, betrieb aber die Aufklärung mit angezogener Handbremse, um den „Großen Bruder“ nicht weiter zu verärgern. Eine Einladung Snowdens nach Deutschland wäre also ein politischer Tritt vors Schienbein von Obama, den die Kanzlerin vor ihrem Besuch beim US-„Freund“ im Mai sich nicht leisten will. Solange jedoch dem „Großen Bruder nicht mit Konsequenzen gedroht, und diese dann auch durchgesetzt werden, wird sich am Vasallen-Status des Landes nichts ändern. 

Die Spiegel-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark haben den besten „Politthriller“ des Jahres geschrieben, in dem es aber nicht um Fiktion, sondern um die brutale Wirklichkeit geht. Das exzellent recherchierte Buch gibt Einblicke in eine Überwachungsorgie der NSA, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigt. Niemand ist vor der Überwachung durch die NSA sicher: Auch der britische Geheimdienst GCHQ, der australische DSD, der kanadische CSE sowie die Neuseeländer beteiligen sich an der weltweiten Ausspähung der so genannten Freunde. In diesem exklusiven Fünfer-Club ist die „mächtigste Frau der Welt“ aber nicht willkommen. 

In Deutschland dürfte sich die Einsicht langsam durchgesetzt haben, dass das US-Imperium nicht bereit ist, weder ein so-genanntes No-Spy-Abkommen mit Deutschland abzuschließen, noch das Ausspähen der politischen Elite weltweit einzustellen. „Es ist nicht die Zeit, sich zu entschuldigen“, so Mike Rogers, der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus. Das politische Gerede von den „Freunden“ und den „gemeinsamen Werten“ taugen für Sonntagsreden, aber nicht zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Staaten, denn diese haben keine Freunde, sondern nur Interessen. 

Wenn Deutschland gegenüber den USA irgendetwas erreichen will, dann muss es US-Einrichtungen schließen, den Austausch von Daten und die Zugriffsmöglichkeiten auf Server stoppen, Spione oder Diplomaten, die Spionage betreiben, auszuweisen, US-Militäreinrichtungen, von denen aus Drohnen zur Tötung unschuldiger Menschen gestartet oder navigiert werden, schließen. Ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem US-Imperium darf es nicht geben. Es scheint aber, dass die Bundesregierung vor solchen Schritten zurückschreckt, weil sie dann den Anschein von Souveränität erwecken könnte.

Mit den getroffenen Maßnahmen, die die USA nach dem 11. September 2001 eingeleitet haben, sei der Rechtsstaat weitgehend außer Kraft gesetzt und eine „Überwachungsideologie entstanden, die grundrechtliche Standards in ihr Gegenteil verkehrt haben, schreiben die Autoren. Snowden und Julien Assange verstünden sich als zeitgemäße Variante des „klassischen Freiheitskämpfers“. Dass Snowden in den USA keinen fairen Prozess bekommt, da er nach einem antiquierten Spionagegesetz aus dem Jahre 1917 angeklagt werden würde, darauf weisen die Autoren ebenfalls hin. 

Die Behandlung von Chelsea „Bradley“ Manning oder die Jagd auf Julien Assange zeigen, dass die USA jegliches rechtsstaatliches Augenmaß verloren haben. Wie man mit dem Patriot Snowden am liebsten umgehen würde, machte der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden im Herbst 2013 deutlich, in dem er Snowdens Name gerne auf der „Todesliste der US-Streitkräfte“ sähe. Oder der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey, ein neokonservativer Scharfmacher, forderte, Snowden als Verräter den Prozess zu machen und nach einem Schuldspruch der Jury „sollte man ihn am Genick aufhängen, bis er tot ist“. Der notorisch extremistische Neokonservative John Bolton, UN-Botschafter unter George W. Bush, plädierte dafür, Snowden „an einer großen Eiche baumeln zu lassen“. Obwohl sich Obama als Präsidentschaftskandidat noch für einen besonderen Schutz für Informanten (Whistleblower) ausgesprochen hatte, wurden unter seiner Präsidentschaft die meisten Informanten angeklagt, verfolgt und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, wie unter allen US-Präsidenten zusammengenommen. Aber Obama hat als Kandidat vieles versprochen, das er als Präsident nicht gehalten hat. 

Nach Meinung der Autoren haben die Amerikaner, und man kann getrost dies für die Deutschen ebenfalls konstatieren, immer noch nicht verstanden, wie viel sich durch die Snowden-Enthüllungen verändert hat. Seit Sommer 2013 habe ein neues „Zeitalter“ begonnen, schreiben die Autoren. Möge die politische Klasse des US-Imperiums Snowden auch noch so verwünschen und Obama ihn als „unpatriotisch“ verunglimpfen, so hält der Rest der Welt ihn für einen Helden, US-Patrioten und ein Vorbild an Mut und Zivilcourage, dem Deutschland Asyl gewähren sollte, da er in den USA keinen fairen Prozess erwarten kann und er in irgendeinem Gefängnis auf immer verschwinden dürfte.

Der „Politthriller“ führt den Lesern vor Augen, wie die USA ein Verbrechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgenutzt haben, um die Freiheit des Einzelnen für eine vermeintliche Sicherheit zu opfern. Die USA haben das totalitärste Überwachungs- und Schnüffelsystem geschaffen, dem gegenüber das des KGB und der Stasi mittelalterlich anmutet. Die Macht der Geheimdienste über die Politik erscheint total. Der neue Totalitarismus scheint nur einen Steinwurf entfernt zu sein. „Der NSA-Komplex“ verhindert auch, dass das Häppchenweise Veröffentlichen von neuen NSA-Skandalen zur Abstumpfung führt, womit die politische Klasse rechnet.

Jeder politisch Interessierte sollte dieses Buch lesen. Besonders zu empfehlen ist es den Mitgliedern des NSA-Untersuchungsausschusses, damit diese begreifen, wie groß die Bedrohung der Freiheit schon ist. Dieses Buch zerstört auch noch die letzten Illusionen über die Nützlichkeit von Geheimdiensten.