„Palästina – Innenansichten einer Belagerung“ ist keine Chronik israelischer Besatzungspolitik oder des Widerstandes, sondern eine Darstellung des alltäglichen Belagerungszustandes der Menschen in Palästina, die einem auf Militärrepression gegründeten Besatzungsregime ausgesetzt sind. Die konzisen Ausführungen des Autors, der als Professor englische Literatur und vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California (UCLA) in Los Angeles lehrt, zeigen, dass kein normales Leben in der Westbank und dem Gaza-Streifen möglich ist. Die tagtäglichen Erniedrigungen, Misshandlungen und gewaltsamen Übergriffe des israelischen Militärs und der Besatzungsbehörden berauben die Menschen ihrer Würde und Menschenrechte und machen sie zu Objekten einer unberechenbaren Willkürherrschaft, die das Ziel verfolgt, den Widerstandswillen eines ganzen Volkes zu brechen und es zur Aufgabe und Auswanderung zu bewegen.
Das Besondere an der israelischen Besatzungsherrschaft über das palästinensische Volk besteht in der allumfassenden Durchdringung aller Lebensbereiche mit Hilfe einer erdrückenden Bürokratie, einem System von Genehmigungen und Pässen und einem Geflecht vom Militär auferlegter Verordnungen und Erlassen, denen die Menschen Folge leisten müssen, um überhaupt ein Leben führen zu können, schreibt der Saree Makdisi. Das von Israel besetzte Palästina ist der einzige Ort auf der Erde, an dem die inhärente tagtägliche Gewalt am deutlichsten sichtbar wird. Dieser Belagerungszustand durchzieht und bestimmt jeden Aspekt des Lebens der Menschen von der Wiege bis zur Bahre.
Das Buch gliedert sich in drei Kapitel: Außen, Innen und Koda. In dem Abschnitt „Außen“ beschreibt der Autor die Kontrollpraktiken, durch die Israel die Bewegungsfreiheit und den Kontakt der Menschen zur Außenwelt verhindert, während die Enteignung der Existenzgrundlagen forciert vorangetrieben wird, um Siedlerkolonien nur für jüdische Israelis zu bauen, deren Bewohner dann auf Straßen fahren, die nur jüdischen Israels vorbehalten sind. Das „Straßensystem“ für die Palästinenser dagegen ist mit Kontrollposten übersät.
Im Abschnitt „Innen“ konzentriert sich der Autor auf die Auswirkungen der Besatzung auf die Familien. Neben einer Politik der Häuserzerstörung versucht die israelische Regierung alles, um z. B. Familienzusammenführungen von Palästinensern, die in Ost-Jerusalem und der Westbank leben, zu verhindern. Ebenso zielt die Politik darauf ab, die Aufenthaltsgenehmigungen von Palästinensern besonders in Ost-Jerusalem zu annullieren. Diverse Gesetze sichern der jüdischen Bevölkerung Israels Privilegien gegenüber der nicht-jüdischen. Diese institutionalisierte Diskriminierung findet in zirka 30 Gesetzen ihren „legalen“ Ausdruck.
Im letzten Abschnitt „Koda“ vergleicht Makdisi das gescheiterte Apartheid-Regime in Südafrika und das militärische Besatzungsregime, das die Palästinenser beherrscht. Die Ausführungen zeichnen sich durch unzählige Einzelfallbeispiele und persönliche Berichte von Betroffenen aus. Besonders verheerend wirkt sich der völkerrechtswidrige Bau der Mauer und des Sicherheitszaunes auf das tägliche Leben der Menschen aus.
Obgleich die vierte Genfer Konvention von 1949 genau regelt, was eine Besatzungsmacht tun darf und was nicht, werden diese völkerrechtlichen Grundregeln durch die israelischen Regierungen missachtet, ignoriert bzw. ihnen zuwidergehandelt. Dies trifft zum Beispiel auf den Transfer von israelischen Staatsbürgern in die besetzten Gebiete wie die Westbank und die ebenfalls völkerrechtswidrig besetzten und annektierten Gebiete wie Ost-Jerusalem und die Golan-Höhen zu. Die Strangulierung des Völkerrechts wird an mehreren Stellen des Buches ausführlich behandelt. Makdisi weist zu Recht darauf hin, dass der Konflikt durch die Umsetzung von Völkerrecht einfach zu lösen wäre: Israel müsse sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, seine Siedlerkolonien auflösen, deren Bewohner mitnehmen und die Verweigerung der Menschenrechte sowie der politischen Rechte der Palästinenser beenden. Danach könnten sich beide Staaten völkerrechtlich anerkennen.
Das Osloer-Friedensprozess-Drehbuch diene nur israelischen und US-amerikanischen Interessen. Den Palästinenser weist es nur die Hilfssheriff-Funktion für Israels Sicherheit zu. Der pro-israelische Berater von Bill Clinton und bis vor kurzem auch von dessen Gattin, der derzeitigen US-Außenministerin Hillary Clinton, Dennis Ross, hat die eindeutigen Bestimmungen des Völkerrechts immer als zweitrangig angesehen, wenn nicht sogar als „irrelevant“ abqualifiziert, so der Autor. Der US-Völkerrechtler Richard Falk hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Israelis sich weigern, das Völkerrecht und den wiederholt zum Ausdruck gebrachten Willen der Institutionen der internationalen Staatengemeinschaft zu akzeptieren. Trotz dieser permanenten Völkerrechtsverstöße gewährt die Europäische Union Israel quasi den Status eines Mitgliedsstaates wider alle Prinzipien der Staatengemeinschaft.
Entgegen der Behauptung der Israelis, dass die Lösung des Nahostkonfliktes ungemein kompliziert und Israel ein außergewöhnliches Land sei, vertritt Makdisi die gegenteilige Meinung. Es gehe nicht um Religion, nicht um Sicherheit und nicht um Terrorismus, sondern nur um Land. Das Problem der Zionisten habe von Beginn ihrer Kolonisierung darin bestanden, dass das Land bereits von Nicht-Juden bewohnt ist – 93 Prozent waren in den 1920er-Jahren Araber. Zur Realisierung des zionistischen Projektes hat Vladimir (Ze´ev) Jabotinsky 1923 in seinem Beitrag „The Iron Wall“ die Strategie geliefert. Die „eiserne Mauer“ war als Metapher gedacht und stand für kompromisslose Unterdrückung der Palästinenser, um das Kolonisierungsprojekt zu verwirklichen. „Zionistische Kolonisation, selbst in sehr beschränktem Ausmaß, muss entweder aufgegeben oder gegen den Will der einheimischen Bevölkerung durchgesetzt werden. Diese Kolonisation kann deshalb nur unter dem Schutz einer von der lokalen Bevölkerung unabhängigen Macht fortgesetzt und entwickelt werden – einer eisernen Wand, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann. Das ist in toto unsere Politik gegen die Araber. Es auf irgendeine andere Weise zu formulieren wäre Heuchelei“, so der Stratege es revisionistischen Zionismus, in dessen Tradition u. a. auch Benjamin Netanyahu steht. Zur „eisernen Mauer“ ist seit einigen Jahren eine acht Meter hohe Mauer aus Beton hinzugekommen.
Die schockierenden Ausführungen zeigen, dass die Tragödie der Palästinenser nicht zufällig entstanden ist, sondern durch zielgerichtete Politik verursacht worden ist. Die Vorgänge im besetzten Palästina sind ungeheuerlich. Wer behauptet, der Nahostkonflikt sei so komplex, sitzt politischer Propaganda auf. Der Konflikt ist simpel, was komplex ist, ist die brutale Besatzungsherrschaft. Sie dient dazu, die Existenzgrundlage eines ganzen Volkes zu zerstören, und dies mit massiver Unterstützung des Westens. Die beschriebene Brutalität des israelischen Besatzungsregimes kann nur durch einen persönlichen Augenschein noch getoppt werden. Ein ausgezeichnetes, informatives und aufrüttelndes Buch, das nichts mit den zahlreichen „Märchenbüchern“ zum Nahostkonflikt gemein hat, die den deutschen Buchmarkt überfluten. Ob es zu einem einzigen, demokratischen und säkularen Staat in der Region kommt, wie der Autor hofft, oder am Ende Israel überall ist, wird die Zukunft zeigen.