Donnerstag, 17. September 2009

Hitler besiegen

„Oft frage ich mich, ob es ohne die Deutschen und ihre Barbarei überhaupt einen Staat Israel geben würde“, so eine der vielen provokanten Fragen und Thesen von Avraham Burg in seinem aufrüttelnden Buch „Hitler besiegen“. Diese Frage scheinen die Historiker bereits hinlänglich beantwortet zu haben: Auch ohne die Shoah wäre es zur Gründung Israel gekommen. Die Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ - sprich eines jüdischen Staates - stand seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Tagesordnung der internationalen Staatengemeinschaft. Folgerichtig wurde die Gründung eines jüdischen und arabischen Staates auch aufgrund eines Beschluss der UNO vom November 1947 gefasst und am 14. Mai 1948 durch die Proklamation Israels realisiert. Jedem Volk steht also ein völkerrechtlicher Anspruch auf Selbstbestimmung zu. Um die Identität des Staates Israel dreht sich das Buch von Burg, der die Fundierung israelischer Staatsraison auf einer Katastrophe als Identität stiftende Quelle für eine Sackgasse hält. Fast zu gleichen Teilen betrifft das Buch aber auch die Deutschen.

Als das Buch 2007 in Israel erschien, hat es einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zum ersten Mal hatte ein führender Vertreter des politischen Establishments alle zentralen Prinzipien israelischer Staatsraison in Frage gestellt. Avraham Burg ist nicht irgendwer in Israel. Er war Abgeordneter der Arbeitspartei in der Knesset, dem israelischen Parlament, zuletzt dessen Präsident. Was aber noch viel bedeutsamer ist, er war Vorsitzender des Präsidiums der Jewish Agency und der zionistischen Weltorganisation. Abraham Burg, der aus einem jüdisch-nationalen Elternhaus stammt, versuchte in seiner politischen Laufbahn immer wieder das Politische mit dem Religiös-Geistigen zu verbinden.

Sein Vater, Josef Burg, war seit 1948 dreißig Jahre lang Innen- und Religionsminister. Als ein in Dresden geborener deutscher Jude konnte er gerade noch 1939 Nazi-Deutschland verlassen und nach Palästina emigrieren. Bis zu diesem Zeitpunkt organisierte er die Ausreise von jüdischen Deutschen nach Palästina und rettete so Tausende vor den Klauen der Nazi-Schergen. Die Mutter von Avraham Burg lebte in der siebten Generation in Hebron, von wo sie wegen des Pogroms 1928/29 gegen die dortigen palästinensischen Juden fliehen musste.

Avraham Burg hat in „Hitler besiegen“ den Versuch unternommen, ein neues Selbstverständnis für Israel zu formulieren, das für ihn jenseits der Shoah angesiedelt sein sollte. Es muss humanistisch-universalistisch ausgerichtet sein, gemäß der jüdischen Tradition; das nationalistisch-zionistische ist ihm zu parochial. Israel sollte sich wieder dem Judentum als Identität stiftender Quelle zu- und vom Zionismus abwenden; beide stellen unvereinbare Gegensätze dar. Dazu lese man das aufschlussreiche Werk von Jakov M. Rabkin „A Threat from within. A Century of Jewish Opposition to Zionism“.

Das Anliegen des Autors ist von großer Sorge um den Bestand Israels bestimmt. Er wolle mit diesem Buch „Herzen, Mund und Augen für eine neue Vision öffnen“. Die Ausführungen sind ein „Zeugnis der Gebrechen Israels und eine Reaktion auf seinen Hilferuf“. Burg hat die politische Bühne verlassen, weil „Israel zu einem Reich ohne Prophezeiung geworden ist“. Der Autor will die Israelis weg vom Trauma zu neuer Hoffnung in alle Menschen führen. „Von meiner persönlichen Geschichte zum Universellen, das für alle Völker und Nationen gilt.“ Diesen Weg versucht Burg aufzuzeigen. Provokant ist sein ausführlicher Vergleich des Zustandes Israels mit dem Deutschlands während der Weimarer Republik. Dieses Kapitel habe ihm viele schlaflose Nächte bereitet. Die Argumente, die der Autor vorträgt, sind sehr überzeugend; ebenso die Lehre, die beide Länder daraus ziehen sollten: „Nie wieder, niemand, nicht nur keine Juden. Nie wieder Mord und Vernichtung von Menschen.“ Dies sei die universelle Lehre aus der tragischen Beziehung zwischen Juden und Deutschland, „die wir aus ´unserem Holocaust` ziehen wollen für eine bessere Welt für alle Menschen, für alle, die nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden“.

Der Autor greift aber auch die israelische Staatsraison frontal an: Er fordert das Ende der Holocaust-Erinnerung. Der Zionismus müsse gegenüber einer humanistischen Weltsicht in den Hintergrund treten. Das Rückkehrrecht sei aufzugeben, das allen Juden auf der Welt automatisch die israelische Staatsbürgerschaft garantiert, wenn sie nach Israel einwandern. Die Jewish Agency sei aufzulösen. Israel solle ein Staat aller seiner Bürger werden. Die Besatzung müsse unverzüglich beendet und ein Staat Palästina müsse in den Grenzen von 1967 gegründet werden. Die Zukunft Israels könne nur in einem Zionismus à la Ahad Ha´am liegen. Herzls Zionismus müsse ad acta gelegt werden. Als sei dies noch alles nicht genug, empfiehlt Burg allen Israelis, sich eine zweite Staatsbürgerschaft zuzulegen. Der Autor selbst hat die französische.

Israels Existenz werde von der Shoah bestimmt. Sie ist “wie ein Ozonloch: nicht zu sehen, aber immer präsent, abstrakt, aber folgenschwer.“ Für den Autor ist „die Shoah zu einer theologischen Stütze der modernen jüdischen Identität geworden und eine der größten Herausforderungen für das jüdische Volk in der Moderne“. Israel sei der „Auschwitz-Staat“, dessen Kultur ein Trauma und dessen Seele ein Hort des Schreckens sei, und die „Shoah ist in unserem Leben präsenter als Gott“, schreibt Burg. „Israel übernahm das Vermächtnis der Unsicherheit, die typisch für Traumaopfer ist. Seither leben wir unter ständigem Druck und in dem Widerspruch, die innere Ohnmacht und Existenzangst mit endloser Aufrüstung zu kompensieren. Wir sind zu einer Nation der Opfer geworden, und unsere Staatsreligion besteht in der Verehrung und Pflege von Traumata, als ob Israel auf immer seinen letzten Weg ginge.“ Der Autor bestreitet nicht den Wert von Erinnerung für sein Land, aber wie das Gedenken in Israel instrumentalisiert werde, „verwandelt es diese heilige Erinnerung in ein lächerliches Sakrileg und lässt brennenden Schmerz hohl und kitschig werden“. Israel sei heute wesentlich abhängiger als bei seiner Gründung und stärker vom Holocaust geprägt als drei Jahre, nachdem die Todesfabriken der Nazis geschlossen wurden, so Burg. Im Kapitel „Shoah-Epidemie“ kommt der Autor auf die Ängste, die Paranoia und die Schuld zu sprechen, die Israels politisches Leben dominieren, und schlussfolgert daraus: „Ein Staat, der mit dem Schwert regiert und seine Toten glorifiziert, muss in einem ständigen Ausnahmezustand leben, weil jeder eine Nazi, jeder ein Araber ist, alle uns hassen und die ganze Welt gegen uns ist.“

Burg stört auch die Definition Israels als „jüdisch“, ja er hält einen „jüdischen Staat“ für „Dynamit“, („To define the State of Israel as a Jewish state is the key to its end. A Jewish state is explosive. It's dynamite"), mehr noch, er hält ihn für „Nitroglycerin“, wenn er sich als „jüdisch-demokratisch“ definiert („But 'Jewish-democratic' is nitroglycerine."), wie er in dem Interview mit Ari Shavit in der Tageszeitung „Haaretz“ vom Juni 2007 erklärte. Die jüdische Ausrichtung Israes habe das Land für den radikalen Messianismus geöffnet, der mit den demokratischen Grundsätzen Israels nicht mehr zu vereinbaren sei. Die Kritik des Autors richtet sich nicht nur gegen die religiösen Extremisten, sondern zielt auf die politische Elite, die es zugelassen habe, das Israel gegen die jüdische Tradition der Toleranz und der Weltoffenheit verstoßen und sich einem militaristischen und kriegerischen Kurs verschrieben habe. Burg geißelt auch insbesondere den weit verbreiteten „Araberhass“, der sich aber nicht nur gegen diese, sondern generell gegen alle Goyim (Nicht-Juden) richte.

Klafft nicht zwischen Burgs Kritik am jüdischen Charakter Israels und seiner permanenten Verwendung des Terminus „jüdisches Volk“ ein Widerspruch? Hat nicht erst kürzlich der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch „The Invention of the Jewish People“ die These vertreten, das es ein solches gar nicht gebe? Diesen Widerspruch löst Avraham Burg in seinem Buch nicht auf. Er konnte es auch nicht, weil sein Buch zwei Jahre vor dem Sands erschienen ist.

Wenn ein Mitglied der politischen Elite Israels alle „heiligen Kühe“ der israelischen Staatsraison „schlachtet“, stellt sich die Frage, ob er noch Zionist ist. Im herkömmlichen Sinne kann er es nicht mehr sein, da er Israels Zukunft in einem Kulturzionismus à la Ahad Ha´am sieht, der nichts mit dem real existierenden Zionismus zu tun hat, weil ihm die geistig-religiöse Dimension fehlt. In dem bereits zitierten Interview antwortet Burg auf die Frage, ob er immer noch Zionist sei: "I am a human being, I am a Jew and I am an Israeli. Zionism was an instrument to move me from the Jewish state of being to the Israeli state of being. I think it was Ben-Gurion who said that the Zionist movement was the scaffolding to build the home, and that after the state's establishment it should be dismantled." Ob er denn bestätigen könne, dass er nicht länger Zionist sei, wollte Shavit wissen, worauf Burg antwortete: "Already at the First Zionist Congress, Herzl's Zionism was victorious over the Zionism of Ahad Ha'am. I think that the 21st century should be the century of Ahad Ha'am. We have to leave Herzl behind and move to Ahad Ha'am."

“Hitler besiegen” ist mehr als eine Kritik an der Verfasstheit des Staates Israel. Es ist auch eine Hommage an seine Eltern. Josef Burg verkörperte das Judentum, seine in Palästina geborene Mutter „die israelische Identität“. „Im Israelischsein war sie ihm immer weit voraus“. Aus beiden historischen Narrativen und seiner religiösen Überzeugung formt der Autor ein neues Selbstverständnis für seine israelischen Landsleute. Bevor sie dafür empfänglich werden, muss sich in Israel aber einiges grundsätzlich ändern, so wie z. B. die Klassenfahrten israelischer Schüler nach Auschwitz. „Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die für Israelis verpflichtenden Gedenkreisen zu den Vernichtungslagern in Polen für verfehlt und gefährlich halte. Da dieses Erlebnis emotional überwältigend ist, kultivieren wir eine unbewusste mentale Realität, die sämtliche Schrecken der Vergangenheit rekonstruiert und klont, damit zukünftige Generationen sie auffrischen und perpetuieren. Es ist wie eine kollektive Reinkarnation. Statt aus dem pathologischen Kreislauf auszubrechen, setzen wir ihn fort. Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns selbst. Statt zu vergessen, kratzen wir unsere Wunden auf, damit sie immer wieder bluten.“ Bereits Yehuda Elkana hat am 8. März 1988 in der „Haaretz“ dazu aufgerufen, dass Israel den Holocaust vergessen solle. Die Israelis sollten den historischen Mahnruf „Zachor“ über ihr Leben abschütteln und sich der Zukunft zuwenden, anstatt sich von früh bis spät mit den Sinnbildern, Zeremonien und den Lehren der Shoah zu beschäftigen. Auch Burg tritt für die Behandlung der Shoah als eines abgeschlossenen historischen Ereignisses ein, das nicht die nationale Identität der Menschen völlig dominieren dürfe.

Burg hat ein prophetisches Buch für Israelis und Deutsche geschrieben. Es weist endlich einen gangbaren Weg jenseits der bekannten rhetorischen Stereotype auf. Wenn die politische Elite in Deutschland und die Verbandsfunktionäre diesen Weg nicht beschreiten wollen, sollte es die Zivilgesellschaft tun. Die Deutungshoheit über die Zukunft beider Völker muss dem Souverän übertragen werden.


Dienstag, 8. September 2009

Between the Lines: Readings on the "war on terror"

Die Zerstörung einer Nation ist kein alltäglicher Vorgang in den internationalen Beziehungen. Eine solche findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit seit dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 in Palästina statt und geht mit dem Bau einer acht Meter hohen Mauer und eines Schutzwalles seiner Vollendung entgegen. Als „Palästinenserstaat“ übrig bleiben werden Gefängnis-ähnliche Gebilde, die weiterhin von den israelischen Besatzern bewacht werden dürften. Hat die palästinensische Bevölkerung diese als die Erfüllung ihrer Träume von einem eigenen Staat schon immer ersehnt?

Die Israelin Tikva Honig-Parnass und der US-amerikanische Palästinenser Toufic Haddad haben in Anlehnung an ihre Zeitschrift „Between the Lines“ unter gleichnamigem Titel einen Sammelband herausgegeben, der an die kritische Tradition dieser Zeitschrift anknüpft. Einige der Beiträge sind Nachdrucke. War diese Zeitschrift deshalb so „gefährlich“, weil sie den westlichen Medien den Spiegel vorhielt, dass in Israel und Palästina nicht zwei „gleichberechtigte“ Partner gegen die „Extremisten“ in ihren Reihen kämpften, sondern es um die Auseinandersetzung zwischen einem „Kolonisierungsprojekt“ und dem Widerstand eines „kolonisierten Volkes“ ging, wie die Herausgeber hervorheben? Dieser Verwischung der realen Konfrontationslinien war es wohl geschuldet, dass im Westen der Widerstand eines unterdrückten und kolonisierten Volkes als „Terror“ porträtiert und verdammt worden ist, wohingegen die Kolonialmacht nur „Frieden“ wollte und „bereit war zu verhandeln“.

Die Meinung der Herausgeber im Vorwort lässt erahnen, warum diese Zeitschrift nicht mit westlicher Unterstützung überleben konnte. „Es besteht kein Zweifel, dass die politische Ausrichtung von Between the Lines auf unserer antiimperialistischen und antizionistischen Position und unserem Klassenbewusstsein beruht.“ Die Beiträge setzen sich kritisch mit der Fortsetzung des „zionistischen Kolonisierungsprojektes“ und dessen Unterstützung durch den „US-Imperialismus“ auseinander. Gerade an diesem Analyseraster dürfte die Überzeugungskraft einiger dieser Beiträge leiden. So ist die Einleitung, welche die Ereignisse bis zum Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada beschreibt, sehr klar und mutig. Eine weite Verbreitung könnte zu einer realitätsnäheren Einschätzung der Ereignisse beitragen.

Die Beiträge des ehemaligen Knesset-Abgeordneten Azmi Bishara, der es aufgrund von fragwürdigen Anschuldigungen vorgezogen hat, sein Abgeordnetenmandat niederzulegen und nicht nach Israel zurückzukehren, oder von Adi Ophir, Professor für Philosophie an der Universität von Tel Aviv, Salah Abdel Jawwad, Professor für Geschichtswissenschaft an der Bir-Zeit-Universität, Ilan Pappe, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Haifa und augenblicklich im Exil in Großbritannien lehrender Israeli, dem britischen Israel-Korrespondenten Graham Usher sowie dem Abgeordneten des palästinensischen Parlaments Husam Khader, u. a. m. stellen unverblümt den Nahostkonflikt und die repressive Besatzungspolitik Israels dar. Daneben gibt es noch weitere Beiträge des Herausgeber und der Herausgeberin.

Die Beiträge dieses Sammelbandes liegen quer zur Sichtweise des politischen Mainstreams. Die Sympathien der Autoren und Autorinnen sind auf Seiten der unterdrückten Palästinenser. Die Al-Aqsa-Intifada wird als ein „humaner“ Versuch gesehen, das israelische Besatzungsregime abzuschütteln. „The Al Aqsa Intifada ist a testament to the determined human will to challenge enormous powers of oppression.“ Die Aussage des ehemaligen israelischen Außenministers Silvan Shalom wird kritisiert, der den Widerstand der Palästinenser in einen „globalen Kampf gegen den Terrorismus“ einordnete. Der Widerstand der Hamas wird nicht als „Terrorismus“ oder als Herausforderung des Westens verstanden. Toufic Haddad schreibt abschließend: „Weder Scheich Yassin noch Hamas hatten jemals etwas zu tun mit Huntingtons ´Clash of civilization`“. Er zitiert aus einem Beitrag der Journalistin Amira Hass, die in Haaretz vom 2. April 2004 Yassin wie folgt zitiert: „Kein Palästinenser sagt, dass wir die Juden ins Meer treiben wollen. Die Palästinenser sagen nur, dass sie im Land ihre Vorfahren leben wollen und dass alle von uns - Muslims, Juden und Christen – im Geiste der Demokratie zusammen leben wollen. Das Problem besteht darin, dass die Juden den anderen nicht ihre Rechte zugestehen wollen. Sie wollen ein rassistisches Regime etablieren (…). Wir haben niemals anderen unsere Prinzipien aufgezwungen, noch wollen wir diese durch Gewalt anderen diktieren. Es wird kein Diktat geben. Es geht um die Lehre der eigenen Religion in einem Staat, der die Menschenrechte respektiert.“ Selbst Yassin ging es primär um die nationalen Rechte der Palästinenser. “Obwohl Israel dies verstanden hat, unterzeichnete es sein Todesurteil“, so der Autor.

Dieser Band bietet eine Vielzahl kritischer Beiträge, die in den westlichen Medien in dieser Form niemals veröffentlicht worden wären, da sie Israels Besatzungsherrschaft in seiner unverblümten Form darstellen. So meinen die Herausgeber, dass das „zionistische Kolonisierungsprojekt“ ohne die Protektion des „US-amerikanischen Imperialismus“ nicht möglich gewesen wäre. Sein Ziel sei die „Eliminierung der palästinensischen Nation“. Wenn diese Einsicht zur Horizonterweiterung der Öffentlichkeit beitragen würde, hätte das Buch seinen Zweck erfüllt.

Israel´s Dilemma in Palestine

Zwei Rabbiner besuchten 1897 Palästina und entdeckten, dass das Land wie eine Braut sei, aber leider bereits „mit einem anderen Man verheiratet“. Sie meinten damit, dass, wenn in Palästina eine jüdische „Heimstätte“ geschaffen werden sollte, die einheimische Bevölkerung und die Besitzer des Landes verschwinden müssten. Diese Quadratur des Kreises stellt bis heute Israels Dilemma dar. Sie ist aber auch die Ursache der Katastrophe für die Palästinenser. Der Zionismus war niemals in der Lage, diesen Widerspruch des „anderen Mannes“ aufzulösen. Entweder der „andere Mann“ müsse „ausgerottet“ oder das Projekt eines jüdischen Staates aufgegeben werden. Israel hat weder das eine noch das andere getan. 1948 habe Israel einen großen Teil der Bevölkerung vertrieben oder zur Flucht gezwungen, es war aber nie in der Lage, das ganze Land „ethnisch zu säubern“. Der fundamentale Irrtum des zionistischen Projekts bestand darin, dass das ganze Land jüdisch sei und es sich bei den tatsächlichen Bewohnern nur um „fremde Eindringlinge“ handele. Alles in allem war das zionistische Projekt für seine jüdische Bevölkerung relativ erfolgreich, für die Palästinenser jedoch bedeutete es bis heute eine Katastrophe.

Ghada Karmi zählt zu den bekanntesten Radio- und TV-Kommentatorinnen zum Nahostkonflikt in Großbritannien. Sie wurde in Jerusalem geboren und 1948 aus ihrem Land vertrieben. Sie wuchs in England auf; wurde Ärztin, Wissenschaftlerin und Schriftstellerin. Augenblicklich arbeitet Karmi am Arab and Islamic Studies Institute at the University of Exeter.

Die Autorin zeigt, dass die Kosten des „zionistischen Projektes“ für die Palästinenser enorm waren und heute noch sind. Sie gibt dem Westen, besonders aber den USA einen Teil der Mitschuld, weil sie die permanente Verweigerungshaltung der israelischen politischen Elite über Jahrzehnte geduldet haben. Auch der Schaden für die Arabische Welt sei groß gewesen. Trotzdem wurde von den Arabern erwartet, “Frieden mit Israel zu schließen und es darüber hinaus auch noch zu lieben”. Karmi fragt sich in dem Kapitel, „Warum Juden Israel unterstützen“? wie es kommen konnte, dass trotz der Nichtnachvollziehbarkeit und der zerstörerischen Wirkung des Projektes für andere, es trotzdem so erfolgreich sein konnte. Diese Unterstützung setze sich auch denn fort, wenn die Verbrechen gegen die Palästinenser und die Missachtung des Völkerrechts für alle offensichtlich sind. Die Autorin nennt einige Gründe wie den Holocaust mit seinen Traumata und Schuldgefühlen, die machtpolitischen Bedürfnisses westlicher Regionalpolitik, religiöse Mythologien, so genannte gemeinsame Werte und Israel als „die einzige Demokratie des Nahen Ostens“. Auch die Unterstützung durch den Westen ist vielfältig. Das Kapitel ist spannend zu lesen. Die Autorin weist auf die große Unterstützung durch die „Israel Lobby“ hin. Besonders erwähnt sie die bizarre und obskure Weltanschauung der „Christlichen Zionisten“, die für ein Armageddon im Nahen Osten beten, damit das Kommen des Messias beschleunigt werde und es zu einer Massenkonversion der Juden komme. Dieser offensichtliche Antisemitismus scheint aber die Vertreter amerikanisch-jüdischer Interessengruppen von einer Zusammenarbeit nicht abzuhalten sowie israelische Politiker wie Natanyahu und früher Ariel Scharon nicht daran zu hindern, vor diesen „christlichen“ Foren aufzutreten.

Ghada Karmi kritisiert besonders scharf den „Neuen Historiker“ Benny Morris, der nach Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada eine 180-Grad-Wendung in seinen Ansichten vollzog und sich als glühender Zionist offenbarte. In weiteren Kapiteln kritisiert die Autorin den „Friedensprozess“, Arafats Rolle bei der Zerstörung seines Volkes und die Wiederbelebung der „Jordanischen Option“. Der kürzlich verstorbene israelische Soziologe Baruch Kimmerling hat die Politik Scharons treffend mit „Politizid“ beschrieben.

Das Buch gibt einen guten Überblick samt Begründung für die zerstörerische Besatzungspolitik, die ihre Begründung durch die zionistische Ideologie erfährt. Es eröffnet eine überzeugende alternative Sicht auf den Nahostkonflikt jenseits aller einseitigen Pro-Israel-Darstellungen. Es ist ein unbedingtes Muss für jeden, dessen Sicht auf diesen unendlichen Konflikt noch nicht völlig durch Propaganda benebelt ist.

Antisemitismus und Islamophobie

In der Bundesrepublik Deutschland wird von in die Jahre gekommenen „Intellektuellen“, dubiosen Figuren, die sich „Journalisten“ nennen, und christlichen Fundamentalisten sowie obskuren Websites, die zum Teil anonym agitieren (Lizas Welt), eine Dämonisierung des Islam und ihrer Gläubigen betrieben, welche unter anderem Vorzeichen die längst vergangen geglaubten dunklen Zeiten wieder zum Leben erwecken. Die Vorbereitung von Fremdenhass und Rassismus, das Schüren von Ressentiments und die Stigmatisierung des Anderen und vermeintlich Fremden als „anders“ war schon immer die Vorstufe zur Hölle. Dass dieses Islam-Bashing nach einem ähnlichen Muster abläuft wie weiland die Dämonisierung der Juden in Deutschland und von israelischen, islamophoben Europäern und US-amerikanischen Parteigängern sowie zum Neokonservativismus konvertierten Salonlinken und Linksextremisten betrieben wird, macht das Besondere dieser Melange aus.

Lässt sich die Entstehung von antisemitischen Denkschablonen und Vorurteilen mit dem Entstehen von antiislamischen Denkmustern und Ressentiments wissenschaftlich vergleichen? Natürlich, weil die Wissenschaft vom Vergleich lebt. Dieser Selbstverständlichkeit fühlen sich auch die Autorin und der Autor verpflichtet. Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen, was die Autoren auch nicht tun. Sie sind sich der Problematik eines solchen Vergleichs bewusst und weisen auch mehrmals darauf hin. Sie wollen nur Ähnlichkeiten und Strukturmerkmale aufzeigen, die bei beiden gesellschaftlichen Phänomenen auftreten.

Sabine Schiffer, Leiterin des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen, und Constantin Wagner, der in Frankfurt Soziologie und Religionswissenschaft studiert hat, haben sich mit dem Vergleich zwischen Antisemitismus und Islamophobie auf ein politisch vermintes Gelände gewagt. Kreise, die vor islamophober Agitation nicht zurückscheuen, aber Kritik an israelischer Besatzungspolitik mit Antisemitismus gleichsetzen, fühlen sich in ihrem Treiben gestört und enttarnt. Der Seriosität der Studie von Schiffer und Wagner ist es geschuldet, dass sie unbeschadet aus diesem wissenschaftlichen Minenfeld herauskommen werden. Ihre Gegner haben außer Polemik und Verleumdungen nichts Substantielles zu bieten. Handelt es sich doch bei diesen „Islamwissenschaftlern“ um solche, denen es nicht um die Wirklichkeit geht. Sie sind die Treibriemen in einer Medienkampagne, die aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter macht.

Ein US-amerikanischer „Wissenschaftler“ hat in seiner „Dissertation“ einmal versucht, den Deutschen ein eliminatorisch-antisemitisches Gen anzudichten. Mit diesem Wissenschaftshokuspokus haben die beiden Autoren natürlich nichts am Hut. Sie zeigen im Gegenteil auf, dass der Antisemitismus wie jede Form von Rassismus auch in Deutschland nicht unvermittelt vom Himmel gefallen ist, sondern ein fruchtbares Fundament erst gelegt werden musste. Dazu haben die Intellektuellen der damaligen Zeit ihren „Beitrag“ mehr als geleistet. In diesem Kapitel vollbringen beide Autoren eine Fleißarbeit. Sie arbeiten Literatur auf, die für das Verstehen vom Aufkommen des Antisemitismus in Deutschland wesentlich ist (Jacob Katz). Was Schiffer/Wagner hier zutage fördern, ist schier unglaublich. Durch die sich über Jahrhunderte hinziehende permanente Dämonisierung der jüdischen Bürger wurde schließlich „das Bett“ für eine Nazi-Bande bereitet, die ihren perversen Vernichtungsphantasien nur noch freien Lauf lassen brauchte. Das Ergebnis ist bekannt: ein historisch einmaliges Verbrechen am europäischen Judentum. All dies ist den Autoren mehr als bewusst, und sie gehen folglich auch mit dem Vorwurf, Kritik der israelischen Regierungspolitik sei „antisemitisch“ sehr verantwortungsvoll um. Auch für sie und jeden anderen seriös Argumentierenden handelt es sich um Antisemitismus, wenn „das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird“, wenn „Praktiken in Israel mit Praktiken in Nazi-Deutschland verglichen werden“ und wenn „Kritik an Israel kollektiv auf ´die Juden` übertragen wird“. Übrigens, kein seriöser Intellektueller hat sich jemals dieses Vergehens schuldig gemacht. Gegen Polit-Hasardeure ist leider nichts zu machen.

Die Dämonisierung des Islam und der Muslime begann lange vor den Anschlägen vom 11. September 2001. Wesentlich dazu haben diverse christlich-fundamentalistische Gruppierungen beigetragen. Bereits Mitte der 1990er Jahre habe die Partei „Christliche Mitte“ (CM) in ihren Publikationen das Ziel angegeben, „die Bewahrung unseres Volkes vor der Islamisierung“. Liest man deren Publikationen, so fühle man sich wie auf einem Anti-Islam Blog im Jahre 2009. Was die Autoren über den Rassismus der CM zutage fördern, lässt die heutigen anti-islamischen Kampagnenjournalisten und Wissenschaftler wie Waisenknaben aussehen. Das Schüren von anti-islamischen Vorurteilen und die Islamophobie sind heute „in“ und werden unter dem Recht auf Meinungsfreiheit abgebucht. Gerade diejenigen, die ihr Recht auf Meinungsfreiheit in diesem anti-muslimischen Diskurs einfordern, machen Kritikern der israelischen Besatzungspolitik justament dieses Recht streitig. Im Kapitel über das Aufkommen der Islamophobie trifft der Leser auf alte Bekannte. Es ist schon erstaunlich, wer sich auf dem Feld des anti-islamischen Rassismus so alles tummelt. Diese „feine Gesellschaft“ wittert überall Antisemiten, zieht aber mit den gleichen Mitteln der Diffamierung über Muslime her, so die Autoren. Es werde ein Popanz der Bedrohung aufgebaut, indem über die angestrebte Weltherrschaft des „Djihadismus“ ständig gefaselt, aber die weltweiten Unterdrückungsmechanismen von Neo-Kolonialismus und Globalisierung im westlich-demokratischen Gewande geschwiegen werde.

So wie der Antisemitismus nichts über Juden aussagt, sondern viel über die Mentalität der Antisemiten, so lehrt uns die Islomophobie nichts über den Islam, sondern sagt viel über die „geistige“ Verfasstheit der Islam-Basher aus. Sie werden alle von den Autoren namentlich genannt. Neben dem Buch „Islamfeindschaft und ihr Kontext“ war das Buch von Schiffer/Wagner überfällig, um der antimuslimischen Hetze mit Argumenten zu begegnen. Auch für den Bildungsbereich sind beide Bücher ein Muss, da auch dort das Virus der „Islamophobie“ bereits Fuß zufassen scheint.