Donnerstag, 3. Juni 2010

Die Erde habt Ihr uns genommen - revisited

Dem Internet und der modernen Technik sei Dank. Wissenschaftliche Publikationen, die längst der Vergessenheit der Bibliotheken anheim gefallen sind, erwachen wieder zu neuem Leben. Ihre oft weitsichtigen Analysen und ihre politische Brisanz erscheinen in Retrospektive als geradezu revolutionär. „Die Erde habt Ihr uns genommen“, ist solche ein Fundstück. Der Titel des Buches stammt aus einer Erzählung des palästinensischen Dichters Mahmud Darwish. Viktoria Waltz und Joachim Zschiesche, zwei ehemalige Planer/In an der Universität Dortmund, haben aus dem Blickwinkel der Raumplanung eine Untersuchung über „100 Jahre zionistische Siedlungspolitik in Palästina“ vorgelegt.

So heißt es in einer Einleitung für die Online-Stellung des 1986 erschienen Buches, dass längst alles gesagt sei. Die Nakba – die Katastrophe - begann nicht erst 1948, sondern nach Ansicht der Autoren/in 1897, das heißt, mit dem ersten Zionistenkongress in Basel. Auf der Grundlage des vorliegenden Materials sei das heutige Drama vorhersehbar gewesen. Die vier Darstellungen Palästinas von 1946 bis zum Jahr 2000 lassen erkennen, dass sich der palästinensische Anteil an ihrem Land zusehends verflüchtig, gleich einem Stück Zucker im Tee. Die Ursache für diese Entwicklung liege in der „zionistischen Ideologie“, „die im Kern rassistisch und auf die Vertreibung der Nicht-Juden, also der Palästinenser hinauslaufen muss“. Dies werde in der vorliegenden Publikation hinreichend nachgewiesen. Dieses Buch weist noch einmal auf den zentralen Stellenwert der Raumplanung hin. Boden- und Planungsrecht, Siedlungsbau, Infrastrukturentwicklung, Denkmalschutz und Architektur seien nur Mittel zur Kolonisierung und Vertreibung, so die Autoren/in.

Die fünf Kapitel des Buches behandeln die Entstehung der zionistischen Ideologie, die zionistische Kolonisierung Palästinas bis zur Gründung Israels, die „innere Kolonisation“ in Israel, die de-facto-Annexion der 1967 besetzten Gebiete sowie die „Entarabisierung“ und die „Judaisierung“ am Beispiel von Hebron und Jerusalem. Ein umfassender Anhang rundet das Werk ab. Die vorliegende Untersuchung sei der erste wissenschaftliche Versuch, die historischen Zusammenhänge zwischen Siedlungspolitik, Staatsbildung und Besatzung in Palästina zu untersuchen sowie die Konsequenzen für das palästinensische Volk darzustellen. Eine Lösung des Palästina-Konfliktes werde mit dieser Untersuchung nicht beabsichtigt, weil es an Israel liege, die Schritte zu tun, die die nationale Existenz des palästinensischen Volkes sowie seine legitimen nationalen Rechte anerkennen würden. Voraussetzungen dafür seien ein Ende der Siedlungspolitik, der Annexion und der Expansion.

Nach Ansicht der Autoren/In seien die Kolonisierung und die Inbesitznahme Palästinas von der zionistischen Bewegung langfristig geplant worden und keiner Laune der Geschichte entsprungen. Dies wird anhand zahlreicher Aussagen von führenden Vertretern dieser Bewegung belegt. Wie sich diese Landnahme konkret ausgewirkt hat, zeigen unzählige Karten und Statistiken, welche die politischen Schlussfolgerungen der Autoren/In belegen. Die Zentren der Kolonisierung vor der Staatsgründung seien zunächst die Küste, das MarjIbn Amer (später Yezrael-Ebene) und das Hula Gebiet gewesen.

Jerusalem nehme erst seit den Teilungsplänen Gestalt an. Wie diese „Vision“ aussehen sollte, hielt Theodor Herzl in seinem Tagebuch fest: „Bekommen wir jemals Jerusalem, u. kann ich zu der Zeit noch etwas bewirken, so würde ich es zunächst reinigen. Alles, was nicht Heiligthum ist, liesse ich räumen, würde Arbeiterwohnungen außerhalb der Stadt errichten, die Schmutznester leeren, niederreissen, die nicht heiligen Trümmer verbrennen und die Bazare anderswohin verlegen. Dann unter möglicher Beibehaltung des alten Baustyls eine comfortable, ventilirte, canalisirte neue Stadt um die Heiligthümer herum errichten.“

Und so dachte David Ben-Gurion über Jerusalem: “Die Jerusalemfrage hat nichts mit Argumenten oder Politik zu tun, Jerusalem hat erste Priorität und ist eine Frage des Besitzes und der Macht. Besitzen wir die militärische Kraft

a. die Altstadt einzunehmen?

b. eine breite Verbindung zwischen Tel Aviv und Jerusalem herzustellen, nicht nur wegen des besseren Zugangs, sondern auch um Raum für Siedlungen zuschaffen, der Jerusalem fest mit dem jüdischen Staat verbinden wird?

c. den räumlichen Zusammenhang der arabischen Gemeinden im „Dreieck‟ zu zerstören? Erst wenn wir das erreicht haben, können wir behaupten, dass wir, Israel, Jerusalem befreit
haben.”

Parallel zur Kolonisierung verweisen die Autoren/In auf die flankierende Einwanderung, die von der Jewish Agency organisiert worden sei. In deren Gründungserklärung von 1948 heißt es: „Unser Ruf ergeht an das jüdische Volk in allen Ländern der Diaspora, uns auf dem Gebiete der Einwanderung und des Aufbaues zu helfen und uns im Streben nach der Erfüllung des Traumes von Generationen - der Erlösung Israels – beizustehen.“ Die Umkehrung der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse wurde durch eine Kombination von Immigrations- und Bodenpolitik sowie durch Raumplanung und der Errichtung von Kolonien erreicht, so die Autoren/In. Die palästinensische Existenz werde durch Gestaltung zerstört, die sich durch eine Trias von militärischen, geographischen und demographischen Elementen zusammensetze.

Die Autoren/In ziehen folgendes Resümee über eine solche Art der Politik: „Nach Funktion und Planung pervertiert zionistische Raumplanung zum Erfüllungsgehilfen im Grunde rassistischer Politik und ist durch ihre Zielrichtung auf die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft an destruktiven und aggressiven Kriterien orientiert.“ Es herrsche „Destruktivität anstelle von konstruktivem Aufbau, Ausgrenzung statt gemeinsamer demokratisch bestimmter Entwicklung, Planung für das zionistische System und nicht für die Entwicklung der dort wohnenden, lebenden Menschen“ vor; „das sind die Kriterien zionistischer Raumentwicklung.“

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zur politisch motivierten Raumplanung wie die von Eyal Weizman bestätigen die Befunde der Autoren/In und schreiben diese bis in die Gegenwart fort. Für die Autoren/In sei der Zionismus das Hauptproblem, das einem Frieden im Wege stehe. Seit fast 25 Jahren ein hochaktuelles Buch.

Online verfügbar hier.