
Goldhagen hat aber auf fast 700 Seiten seine Sicht der Dinge ausgebreitet, sodass man darauf doch noch eingehen sollte. Eine wesentliche Leistung des Autors besteht darin, der Wissenschaft einen neuen Begriff geschenkt zu haben, mit dem sie nun versuchen kann, das, was Goldhagen meint, wissenschaftlich zu analysieren: Es ist der Begriff des „Eliminationismus“. Wer Goldhagens Erstlingswerk „Hitlers willige Vollstrecker“ gelesen hat, dem dürfte der Begriff bekannt vorkommen. Hatte er doch schon damals simplifizierend „den“ Deutschen ein antisemitisches Gen in Form eines „eliminatorischen Antisemitismus“, der sich in Form des antisemitischen Nationalcharakters zeigte, anzudichten versucht.
Noch problematischer wird die Sache, wenn sich Goldhagen auf einem Terrain tummelt, das außerhalb seines Fachgebietes angesiedelt ist. Der Begriff „Völkermord“ wird reduziert auf eine Subkategorie des Eliminationismus. Unter dem neuen „Wissenschafts-“Begriff „Eliminationismus“, haben sich die Experten in Zukunft abzuarbeiten. Der Autor subsumiert darunter Folgendes: Transformation, Unterdrückung, Vertreibung, Reproduktionsverhinderung und Vernichtung. Die Schauplätze der Völkermorde liegen in Europa, der Sowjetunion, China, Indonesien, Bosnien, Irak, Guatemala, Ruanda usw. Wo bleibt die Ausrottung der Indianer? Bei diesen Genoziden kamen nach Schätzungen des Autors bis zu 175 Millionen Menschen ums Leben. Dass der Autor zu Beginn des Buches den 33. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, als „Massenmörder“ bezeichnet, überrascht, obgleich er damit völlig richtig liegt, da Truman wusste, dass der Abwurf der beiden Atombomben „Zehntausende japanischer Zivilisten töten würde, die keine unmittelbare Bedrohung der Amerikaner darstellten“.
Im Kapitel „Auftakt zur Zukunft“ lässt der Autor endlich die Katze aus dem Sack. Es geht gegen den „Politischen Islam“, den Goldhagen als „eingestandnermaßen totalitär“ bezeichnet. Der folgende Satz zeigt, dass der Autor einem ideologischen Popanz aufsitzt und von der komplexen Realität islamischer Gesellschaften nur unzureichende Kenntnisse besitzt. „Der Politische Islam ist heute die gefährlichste eliminatorische politische Bewegung. Er weist alle Erkennungszeichen eliminatorischer Kulturen auf: tyrannische Regime, eliminatorisch ausgerichtete Anführer, eschatologische Transformationsvisionen, einen überaus hohen Verbreitungsgrad eliminatorischer Überzeugungen und Leidenschaften in der Bevölkerung, die zudem wie ihre Anführer glaubt, sie könne diese straflos umsetzen, sowie die Tatsache, dass Eliminationismus im Zentrum des normalen politischen Repertoires und der gegenwärtigen politischen Praxis steht.“ Dagegen wirkte George W. Bush geradezu aufgeklärt. Sein Weltbild war einfach gestrickt; jeder konnte sich darunter etwas vorstellen. So bizarr geht es über Seiten weiter: „Überall in der islamischen Welt sind Führer (und Anhänger) in einen eliminatorischen Diskurs verstrickt und stehen unter dem Einfluss von Anschauungen, nach denen die Vernichtung oder völlige Niederwerfung ihrer vielen realen und vermeintlichen Feinde eine politische Notwendigkeit und heilige Pflicht ist; daher halten sie eliminatorische und exterminatorische Maßnahmen für eine reale Option.“ Diesem Zerrbild soll der Iran entsprechen? Als eine logische Konsequenz dieser völlig aberwitzigen Beschreibungen islamischer Gesellschaften bliebe nur eine Konsequenz übrig, nämlich der sofortige Angriff.
Nach diesem Strickmuster genügten „minimale Merkmale“, einem „Staat der Verfolgung einer eliminatorischen Politik“ zu überführen. Zeichne sich tatsächlich ein Völkermord ab, könne man das Land aus dem Äther nehmen, es mit Flugblättern aus der Luft aufklären oder es mit Emails überschwemmen. Reichten diese Maßnahmen nicht aus, müssten „unverzüglich“ die Waffen sprechen. Als Interventionsinstrument böte sich die Nato an. Sollte der Staat versagen, darf jeder töten, und zwar die Täter. „Solange der Krieg gegen die Menschheit andauert, ist das Töten der Täter ein defensiver Akt, der den Teil der Menschheit beschützt und bewahrt, der angegriffen oder unmittelbar gefährdet wird.“ Die Kopfprämien könnten die reichen Länder leicht aufbringen.
Goldhagen schüttet das Kind mit dem Bade aus, denn mit der vom Autor benutzten Begrifflichkeit wie „Notsituation“ oder „legales, ja notwendiges Töten“ öffnet er der Gewalt Tür und Tor, die er doch gerade eindämmen möchte. Gerade am Verhalten der Bush-Regierung hätte Goldhagen studieren können, wohin eingebildete Bedrohungen ein Land führen können, dass auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Souveränität großen Wert legt. Die Opferung dieser Werte würde dem Genozid, gegen den Goldhagen mit Recht zu Felde zieht, eine „Legitimation“ liefern, die man nicht wollen darf.
Goldhagens Ansichten über die Vereinten Nationen – sie seinen „zum Zweck der Untätigkeit“ gegründet worden, entbehrt jeglichen Kommentars. Ähnlich seine Ansichten über das Völkerrecht, das „Führern erlaubt, die eigene Bevölkerung niederzumetzeln, bis die UN dies Völkermord nennt, was nicht passieren wird“, so im Interview mit Spiegel Online. Denkt man diese Ansicht zu Ende, sollte wohl das „Recht des Stärkeren“ gelten, das nur im Interesse imperialer Mächte zum Zwecke der Ausbeutung und Unterdrückung schwächerer Staaten liegen würde.
Weniger Überzeugungseifer wäre mehr gewesen. Das Buch ist ein wissenschaftliches und politisches Ärgernis.
Ebenso erschienen in: Der Semit. Unabhängige jüdische Zeitschrift, (2010) 3, S. 66 f.