Donnerstag, 17. Juni 2010

Keine Piraterie, sondern ein "Aggressions-" und "Kriegsakt"

Interview mit der israelischen Menschenrechtsanwältin Lynda Brayer. Die Fragen stellte Ludwig Watzal, Bonn.

Was bedeutet nach Völkerrecht die gewaltsame Beschlagnahme von Schiffen unter türkischen oder anderen Flaggen in internationalen Gewässern, die humanitäre Güter und viele internationale Aktivisten zu den eingesperrten Menschen des Gazastreifens bringen wollten? War dies Piraterie? Ein „Kriegsverbrechen“ oder ein Akt von „Staatsterrorismus“?

Es war keine Piraterie, weil Piraterie von Personen begangen wird, um zu plündern. Man kann sagen, der Grund, weshalb ein Schiff angegriffen wird, besteht darin, dessen Kostbarkeiten zu rauben. Dies wird weder unter dem Schutz, noch unter der Federführung eines Staates ausgeführt.

Nach internationalem Recht stellen ein solcher Angriff, wenn er von einem Staat ausgeführt wird, einen Aggressions- und Kriegsakt dar. Gemäß den Gesetzen, die den Beginn eines Kriegs regeln und „ius ad bellum“ (Recht zum Krieg) genannt werden, im Gegensatz zu den humanitären oder Kriegsgesetzen, die "ius in bello" (Recht im Krieg) genannt werden und das Verhalten der Kombattanten im Krieg regeln, handelt es sich in diesem Falle um einen Kriegsakt.

Der Begriff „Terrorismus“ oder „Terrorist“ ist kein Rechtsbegriff! Das bedeutet, dass es keine gesetzlichen Vorschriften oder Verbote gibt, an die jeder der Akteure – ob Staat oder Einzelperson – als Terrorist - gebunden ist! Er ist ein Produkt der "agit-prop"(Agitationspropaganda) des Westens. Ich glaube, man hat ihn zur Delegitimierung des Guerilla-Kampfes nationalen Befreiungsbewegungen erfunden. Ich meine, man benutzte ihn z. B. im Hinblick auf die kenianische MauMau-Bewegung.

Das Problem ist, dass er zu einer extra-legalen Kategorie gehört. Es ist ein "privi-lege"(privates Gesetz)-Begriff - was bedeutet, er liegt außerhalb des Gesetzes. Wenn kein Gesetz "Terrorist" oder „Terrorismus" regelt, dann ist der Gebrauch (des Begriffs) und die Definition, wonach diese Aktionen "Terrorakte" sind und die Schritte, die gegen die willkürlich so definierten "Terrorakte" unternommen werden, willkürlich.

Wenn ein Staat außerhalb des Gesetzes handelt und Aggressionsakte begeht, handelt es sich dabei um Kriegsakte. Sie als Terrorakte zu definieren, bedeutet, ihre Bedeutung abzuschwächen. Dies betrifft Staaten. Wenn ein Staat gegen Terrorismus vorgeht, ist das Einzige, was er tut, zu zeigen und zu beweisen, dass Macht Recht ist! Wenn Personen schreckliche Taten begehen, können diese Taten Piraterie oder einfach Verbrechen sein.

Das Verwischen von Unterschieden, indem man nicht-gesetzliche Begriffe einführt, ist nur ein Vorteil für denjenigen, der sie eingeführt hat – der Westen. Es ist Teil eines Mechanismus, der erfunden wird, um eine materielle, militärische und wirtschaftliche Vormachtstellung über diejenigen auszuüben, deren Eigentum und Ressourcen man plündern will!

Kann das Töten von neun türkischen Bürgern – einer von ihnen besitzt einen US-amerikanischen Pass – als Mord gelten? Eine Person wurde vier Mal in den Kopf geschossen. Wer soll dafür zur Verantwortung gezogen werden?

Dies ist nicht nur ein Mord, sondern Aktionen wie diese auf hoher See bedeuten eine Kriegserklärung. Zweifelsohne kann der Staat, der diese ausführt, vor Gericht gestellt werden, oder sie können als Eröffnungssalve zum Krieg angesehen werden. Der angegriffene Staat darf sich selbst gegen den Staat, der den Mord verübt hat, verteidigen.

Es ist allgemein in Vergessenheit geraten, dass Israel eine Art "Tradition" im Entführen von Booten in internationalen Gewässern hat. Von 1984 bis 1987 hat die israelische Marine 14 Boote auf hoher See beschlagnahmt. Welche Reaktion wäre eigentlich von der internationalen Gemeinschaft auf diese Aktionen hin zu erwarten gewesen?

Ein Teil dieses Problems ist die so genannte "internationale Gemeinschaft". Was die USA und Europa angeht – sind sie größere Kriminelle und Gangster als Israel. Der Zweite und Dritte Welt weiß dies, hat jedoch nicht genügend Macht, um sie aufzuhalten! Übrigens, sehen Sie auf die amerikanische Bilanz!

Israel behauptet, es handele in Selbstverteidigung. Ergibt diese Behauptung irgendeinen Sinn?

Keineswegs. Sie wussten, womit die Schiffe beladen waren. Sie wussten, dass sie aufgrund deren Ladung inspiziert worden waren, insbesondere um zu sehen, ob Waffen an Bord waren. Schifffrachtbriefe sind vorhanden. Die Selbstverteidigungsbehauptung ist ein beständiger Teil der israelischen Propaganda-Maschinerie und muss als solche verstanden werden! Israel benimmt sich wie der kleine Junge, der die ganze Zeit "Wolf" schreit.

Manchmal behauptet Israel, dass der Gazastreifen nicht mehr besetzt und Israel nicht für das Wohl der dort lebenden Menschen verantwortlich sei. Andererseits blockiert Israel den Gazastreifen vom Land und von der See. Es scheint so, als ob die internationale Gemeinschaft alles hinnimmt, was Israel ihr präsentiert. Sollte es hinsichtlich der Schiffsentführung eine internationale Untersuchung, wie z. B. die Goldstone-Kommission geben, die einen Bericht über ein "Massaker" veröffentlichte, das Israel an den Menschen im Gazastreifen verübt hat?

Die Israelis bleiben der Kriegführende Besatzer. Das Problem bei Ihrer Frage ist, dass Sie nicht deutlich machen, oder nicht verstehen, dass Israel keine separate Entität ist! Es ist Agent des Imperialismus und internationalen Monopols des Kapitalismus im Nahen Osten. Es ist nur hier, um deren Interessen zu vertreten. Wenn es damit beginnt, deren Interessen zu schaden, zählt kein Holocaust und kein Bibeldiskurs mehr. Dies sind Geschichten und Sprüche, um den Hauptgrund des Vorhandenseins zu verbergen, – der den Kapitalisten ermöglicht, die Ressourcen der Region zu ihrem eigenen Wohl auszubeuten. Wer ist also die "internationale Gemeinschaft"? Ich glaube, dass sie beides ist, eine falsche und sehr irreführende Missdeutung.

Frau Brayer, vielen Dank für das Interview.

Lynda Brayer ist Anwältin für Menschenrechte, die sich auf Kriegs- und Völkerrecht spezialisiert hat und die Palästinenser vertritt. Sie lebt in Haifa, Israel. E-Mail: lyndabrayer@yahoo.com.

Foto: MWC News

Übersetzung ins Deutsche: Inga Gelsdorf, Bonn.

Erstveröffentlichung in Englisch hier.