Als von zehn Jahres auf dem Bonner Petersberg die erste Afghanistan-Konferenz stattfand, waren die Veranstalter mit ihren handverlesenen afghanischen „Partnern“ noch voller Euphorie, was die demokratische Zukunft des Landes betraf. Nachdem die USA die Regierung der Taliban und ihrem „Islamischen Emirat Afghanistan“ nach einigen Wochen Dauerbombardement samt Al-Qaida-Terroristen ein Ende bereitet hatten, schickte sich der Westen an, ein neues Protektorat zu errichten, in dem Frieden, Demokratie, die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Frauenrechte garantiert sein sollten.
Wenn man sich in illusterer Runde nach zehn Jahren am 5. Dezember 2011 wieder an altbekanntem Ort auf dem Petersberg zum Stelldichein trifft, dürfte auch dem letzten Teilnehmer klar sein, dass nichts von den proklamierten Zielen auch nur im Entferntesten erreicht worden ist. Die westlichen Besatzungstruppen samt ihrem Söldnerheer und den Tausenden von NGO-Mitarbeitern sollten ihr Scheitern eingestehen. Weder wird am Hindukusch die Freiheit Deutschlands verteidigt, noch das Westminister-Modell einer Demokratie eingeführt. Milliarden von US-Dollar und Euros haben sich in den Bergen und Tälern Afghanistans regelrecht verflüchtigt. Auf dieser zweiten Petersberger-Konferenz kann es nur um einen schnellen Abzug des Westens gehen, wenn dieser auch noch „in Würde“ zu bewerkstelligen ist, umso besser für die Psychohygiene des Westens.
Nach zehn Jahren Krieg sind die Taliban überall. „Taliban“ ist zu einer Chiffre für Widerstand gegen die westliche Besatzung geworden. Folglich sind alle diejenigen Afghanen „Taliban“, die nicht von dem Besatzungsregime profitieren. Diese Tatsache wird immer noch nicht von den westlichen Medien wahrgenommen. Sie hantieren mit Begriffen, die der Asservatenkammer der politischen Propaganda entstammen. „Gotteskrieger“, „fanatische“ und „archaische Krieger“, die das Land ins Mittelalter zurückführen wollen. Jede Gräueltat sei ihnen Recht, die zur Errichtung ihres „Gottesstaates“ führe. In der Wirklichkeit sind es die westlichen Besatzungstruppen und das von ihnen ausgehaltene Söldnerheer, die neben den Widerstandskämpfern überwiegend Zivilisten töten. Als besonders verwerflich gilt in den Augen der Menschen der Drohnenkrieg des US-Friedensnobelpreisträgers Barack Obama.
Der Westen scheint nicht mehr genau zu wissen, gegen wen oder um was er eigentlich kämpft. Das vorliegende Buch von Conrad Schetter, Privatdozent am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, und Jörgen Klußmann, Studienleiter der Evangelischen Akademie im Rheinland, hat Autoren/innen versammelt, die eine realistische Bestandsaufnahme des Taliban-Komplexes vorgelegt haben. Den Mitgliedern der Afghanistan-Konferenz kann es nur empfohlen werden.
Für die westlichen Besatzungstruppen waren die Taliban der Inbegriff der Intoleranz, sie verachteten alle Werte, für die der Westen steht. Die Kenntnisse über die „Neo-Taliban“ und ihren national-islamischen Politikansatz haben sich noch nicht im Denken der westlichen Militärs durchsetzen können. Zu diffus ist das Netzwerk, das mit „Taliban“ nur sehr unzureichend beschrieben wird.
Auf drei Themenfelder konzentrieren sich die Buchbeiträge: Wer sind die Taliban? Die Rolle der Taliban sowie der militärische Einsatz. Die Autoren/innen trauen der Nato nicht zu, das Blatt militärisch noch wenden zu können. Obgleich haushoch überlegen, steigt die Zahl gefallener Soldaten, von den zivilen Toten gar nicht zu sprechen. Deren Zahl steigt permanent, was die sowieso geringe Legitimität der Karzai-Regierung weiter untergräbt. Obgleich die westlichen Truppen viele Taliban-Kämpfer töten, scheint deren Zahl weiter zuzunehmen; Schätzungen bewegen sich um die 35 000 Kämpfer. Über deren Motive, Motivation bzw. Ideologie gehen die Meinungen auseinander, wie der Beitrag über die ideologischen Facetten der Taliban zeigt.
In ihrer nüchternen Analyse konstatieren die Autoren/innen, dass die Taliban auf allen Gebieten professioneller geworden sind, insbesondere in der Anwendung neuster Kommunikationstechnologien. Die Grenzen Afghanistans sind umstritten, die Kriegsfürsten haben die Herrschaft über Afghanistan unter sich aufgeteilt, und im Grenzgebiet herrscht eine Auseinandersetzung zwischen Stamm und Staat, schreibt Conrad Schetter. Zahlreiche Konfliktfelder überlagern sich in Afghanistan. Da ist die Rolle Pakistans, Indiens, Irans und anderer Akteure. Ein undurchsichtiges Netzwerk von Kriegsfürsten teilt sich das Drogengeschäft; sie alle verfolgen ihre eigene Agenda. Schetter und Klußmann befürchten, dass der US-Drohnenkrieg einen Vorgeschmack auf die Kriege der Zukunft gibt und dazu führen könnte, dass weiteren Gesellschaften eine „Talibanisierung“ drohen könnte.
Die Aussichten für den Westen sind in Afghanistan nicht rosig. Ökonomisch lässt sich das Abenteuer keine weiteren zehn Jahre durchhalten. Allein die USA zahlen pro Monat in Afghanistan sieben Milliarden US-Dollar. Ohne eine Einbeziehung der „Taliban“ in Verhandlungen, die zum vollständigen Abzug der Nato-Truppen führen müssen, wird es kein Ende des Konfliktes geben. Wie sagen die Taliban: „Der Westen hat die Uhren, wir haben die Zeit.“ Was aus der afghanischen „Zivilgesellschaft“ wird, bleibt unklar. Sie ist noch zu schwach entwickelt, als dass Teile dieser neuen politischen Elite das Karzai-Regime ersetzen könnten.
Das Buch liefert eine sehr differenzierte, nüchterne und realistische Bestandsaufnahme des westlichen Afghanistan-Abenteuers. Einen Königsweg aus der Schlamassel bietet es nicht. Was es jedoch deutlich macht, ist das Ende westlicher Träumereien von Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte für die Völker Afghanistans. Der "Patient Afghanistan" ist im Verlauf der Operation gestorben. Darüber sollte auch auf der bevorstehenden Afghanistan-Konferenz in Bonn gesprochen werden. Das Buch hebt sich wohltuend von den in den Medien verbreiteten Klischees über das Land und dessen Bewohner ab.
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