Endlich hat auch der politisch wichtigste Akteur der Bush-Krieger-Troika, der ehemalige US-Vizepräsident Dick Cheney, seine Erinnerungen vorgelegt. Assistiert wurde er bei diesem Unterfangen von seiner eloquenten und streitlustigen Tochter Liz. Cheney hat definitiv „more brains and balls“ als sein Ex-Boss, US-Präsident George W. Bush.
Auf diese Rechtfertigungsschrift scheint das politische Washington gewartet zu haben. Bisher sind aber noch keine „heads exploded“, weil niemand mit wirklich bahnbrechenden Enthüllungen bei dieser Polit-Prosa gerechnet hat. Was die US-Leser vorgesetzt bekommen, ist die alte, abgestandene, kriegslüsterne neokonservative Rechtfertigungsrhetorik, die kein seriöser Politiker mehr hören kann, und welche die USA ins Unglück gestürzt hat.
Cheney war bis 2006 der wichtigste „Strippenzieher“ hinter dem „Boy-Emperor from Crawford, Texas“. Der Rückgang seines Einflusses korrespondierte mit dem zufälligen Anschuss seines Jagd-Kumpels. Am Ende seiner Präsidentschaft hatte sich Bush jedoch von Cheneys sinisterem Einfluss freigeschwommen; leider etwas zu spät. Dies zeigte sich auch darin, dass er Cheneys Buddy, Lewis „Scooter“ Libby, sein „pardon“ verweigerte. Bis 2006/07 steuerte Cheney Bush wie eine „Puppet on A String“. Aufgrund seines labilen Gesundheitszustandes, lagerte seit März 2001 ein Rücktrittsschreiben Cheneys im Safe seines Büros; außer Bush wusste nur noch ein weiterer Mitarbeiter des Vizepräsidenten davon.
Der Vizepräsident hat seine Erinnerungen in zwei Teile gegliedert: Seine Kindheit und Jugend in Wyoming, seine Zeit als Abgeordneter im US-Repräsentantenhaus und seine steile politische Karriere unter den US-Präsidenten Nixon, Ford und Bush Vater. Im zweiten Teil beschreibt er die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001; dies ist der wesentlichere. 9/11 ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Rolle als US-Vizepräsident; diese Ereignisse dürften ihn auch radikalisiert haben. War er unter Bush Vater noch einer der Besonnenen, die gegen einen Durchmarsch nach Bagdad waren, so konnte er nach 9/11 nicht schnell genug Saddam von der Macht vertreiben. Über das politische Desaster, das die USA im Irak angerichtet haben, äußert er sich nur auf zwei Seiten. Wenn Cheney von den jubelnden Irakern schreibt, die angeblich dem US-Überfall applaudierten, scheint er wohl an die „Jubelperser“ vom Schlage der Chalabis gedacht zu haben.
Cheney, seinem Kriegsminister-Kollegen Donald Rumsfeld gleichtuend, bedauert natürlich nichts; alles wurde immer richtig gemacht. Selbst die Foltermethode des „waterboarding“ für Terrorverdächtige wird gerechtfertigt. Und er würde diese “Verhörmethode” immer wieder mit aller Kraft unterstützen „if we had a high value detainee and that was the only way we could get him to talk”. Waterboarding, ein Euphemismus für brutale Folter, soll weiterhin ein „Instrument“ im Folter-Repertoire des US-Imperiums bleiben, wenn es nach Cheney ginge. Der Autor scheint es tatsächlich Ernst mit seiner Ansicht zu meinen, dass das Gefangenenlager ein „Modellgefängnis“ sei „sicher, sauber und menschlich“! Nicht das Folter-Lager habe dem Ruf der USA geschadet, sondern es sind die Kritiker, die über dieses Fünf-Sterne-Wellness-Hotel einfach die „Unwahrheit“ geschrieben hätten.
Was würde wohl Cheney dazu sagen, wenn die US-Folterer in Guantanamo Bay einmal das von ihm befürwortete „simulierte Ertrinken“ an ihm selber testen würden? Wie sagte er doch so nett: Es sei der einzige Weg, um einen Häftling zum Sprechen zu bringen! Wenn selbst einige Kriegsveteranen meinten, diese Verhörmethode stelle keine Folter dar, sollte die US-Regierung ihnen einen kostenlosen Guantanamo Bay-Urlaub finanzieren, „waterboarding“ und eine Audienz bei Fidel Castro eingeschlossen.
Massiv kritisiert Cheney Colin Powell, Condoleezza Rice und George Tenet; von dieser unqualifizierten Kritik nahm „Dank“ des Wirbelsturms „Katrina“ niemand Notiz außer Powell. Der Vize-Präsident wusste, dass er sehr umstritten war, und er habe US-Präsident Bush mehrmals seinen Rücktritt angeboten, den Bush aber nach einiger Bedenkzeit immer wieder abgelehnt habe. 2007 sprach sich Cheney für die Bombardierung eines angeblichen syrischen Nuklearreaktors aus, und Bush fragte die versammelte Mannschaft „Does anyone here agree with the Vice-President? Not a single hand went up around the room.“ Hier neigte sich Cheneys unsäglicher Einfluss bereits dem Ende zu. Die israelische Luftwaffe erledigte schließlich die völkerrechtswidrige Bombardierung des Reaktors.
So wie sein Kollege Rumsfeld liefert auch Cheney nur Rechtfertigungen für seine zum Teil als „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu klassifizierenden Taten. Es gibt keinerlei Entschuldigung bei den Familien, die aufgrund der Lügen über Irak das Leben ihrer Soldaten sinnlos geopfert haben. Aber in der Gedankenwelt eines gewissenlosen Machtpolitikers scheint es keine Kategorie für „Sorry“ zu geben. Für ihn war selbst der Überfall auf den Irak in 2003 „vernünftige Politik“. Die angeblichen Massenvernichtungswaffen und die nicht-existente Al-Kaida-Verbindung von Saddam Hussein sind die US-Märchen-Version aus 1001 Nacht.
Die Frage ist an Bush zu richten: Warum hat er Cheney nicht abserviert oder gehen lassen? Es scheint nicht nur, dass Cheney im Hintergrund die Fäden des Bush-White-Hauses gezogen und ihm eingeflüstert hat, was er zu tun habe, sondern auch, dass er den Vizepräsidenten als Blitzableiter für seine bizarren politischen Entscheidungen benötigte. Cheneys Nachricht an seine neokonservativen Fans in Washington und Bewunderer in der ganzen Welt ist klar: Komme, was da wolle, steht zu eurem Land und zu euren Überzeugungen, mögen sie auch noch so bizarr sein. Sein fragwürdiges Vermächtnis für seine Familie und Nachkommen kann durch die Schönfärbereien „In my time“ nicht getilgt werden. Vielleicht hat er deshalb seine Tochter Liz als Ko-Autorin mitschrieben lassen. Geschichte vergisst aber trotzdem nichts.
Cheneys Selbstgerechtigkeit verletzt zutiefst die so genannten amerikanischen Werte wie z. B. die Rechtsstaatlichkeit (rule of law), die Menschenrechte oder das amerikanische Rechtsempfingen von „richtig und falsch“. Diesen Grundüberzeugungen wurden durch die Bush-Cheney-Regentschaft schwerster Schaden zugefügt. Das Weiße Haus unter der Bush-Präsidentschaft muss wohl von Obskuranten besetzt gewesen sein, wenn man Aussagen, wie die von Bush über den Ex-Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, hört, dass er in seinem Gesicht „einer Ahnung von seiner Seele“ gehabt habe, oder zynischer Cheney, der in Putins Augen einen „erfahrenen KGB-Mann“ erkannt haben will. Von Bushs direktem Draht zum „the almighty“ gar nicht zu reden. Von solchen „Visionären“ wurde einst die letzte „Hypermacht“ regiert.
Das politische Washington wartet nun gespannt auf die Memoiren von Condoleezza Rice. Sie kann einiges zurechtrücken, was Bush, Rumsfeld und Cheney durch Realitätsverweigerung in ihren Erinnerungen verkorkst haben. Ob sie auch ihr Vermächtnis so selbstgerecht verteidigt wie ihre Memoiren-Kollegen? Professoren/innen sind doch in der Regel Persönlichkeiten, die meinen, die Realität sachgerecht abzubilden. Warten wir es ab, ob endlich einmal eine selbstkritische Aufarbeitung dieser unsäglichen US-Präsidentschaft von einer Insiderin erfolgen wird.
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