Interview mit der israelischen Menschenrechtsanwältin Frau Linda Brayer, Haifa, Israel.
Seit dem 11. September 2001 stehen wir einer Art neokolonialem Déjà-vu-Erlebnis gegenüber. Die alten imperialistischen und kolonialen Mächte sind überall und besetzen an ihrer Peripherie ein Land nach dem anderen, und die so genannte kritische und fortschrittliche Zivilgesellschaft schweigt oder applaudiert sogar bei dieser Art offener Aggression. Bitte könnten Sie den nationalen und internationalen Rahmen für diesen nie da gewesenen Prozess der Wiedereroberung der früheren Kolonien beschreiben?
Tatsächlich begann dieser Neokolonialismus unmittelbar nach dem Zusammenbruch der früheren UdSSR. Der erste Golfkrieg fand statt, weil die USA keine Einmischung mehr von Seiten der Sowjets fürchteten. Der Mangel eines Machtgleichgewichtes in der Welt scheint alle neokolonialen Abenteuer zu erklären, von denen alle als Folge der ständigen Ansammlung von Kapital stattgefunden haben. Da wir wissen, dass das Kapital seinen Höhepunkt in den frühen 1970er-Jahren erreichte und seitdem nach Wegen sucht, um Profit zu machen, ist die Globalisierung die letzte Manifestation des monopolitischen Kapitalismus oder Imperialismus. Ich mag den Ausdruck „zivile Gesellschaft“ überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was damit eigentlich gemeint ist. In Palästina z. B. spricht man von Zivilisten im Unterschied zu wem? Oder was? Zu Hamas? Zu Widerstandkämpfern?
Es ist meine feste Überzeugung, dass die Gehirnwäsche im Westen, die tatsächlich eine Fortsetzung der Kriegspropaganda des Zweiten Weltkrieges ist, der Grund für das Schweigen derjenigen ist, die wir einmal „Intellektuelle“ genannt haben. Aber vielleicht gibt es sie nicht mehr. Wenn man israelische Zeitungen oder auch die New York Times liest, glaube ich, dass eine permanente Erwähnung des Holocaust stattfindet. Ich denke, dass dies die Leute denken lässt, dass „sie“ - in diesem Fall die Deutschen – böse sind, während „wir“ die Guten sind, als ob dies konstante Werte wären. Es ist Teil der Propaganda, die George W. Bush anwendete, als er den Iran und den Irak beschrieb, die ein Teil der „Achse des Bösen“ sind. Der Begriff „Achse“ weist indirekt auf die „Achsenmächte“ des Zweiten Weltkrieges und den Horror des Holocaust. Die Menschen im Westen, der jetzt auch Deutschland einschließt, betrachten sich als die „Alliierten“, „die guten Kerle“. „Gut“ zu sein, ist ein Status – nicht die Beschreibung eines Verhaltens.
Aber grundsätzlich denke ich, dass liberale Politik immer ein Deckmantel für Kapitalismus gewesen ist. Es ist das kapitalistisch politische Projekt, das die Barbarei des Kapitalismus’ verbirgt. Natürlich wurde dies durch die Diffamierung der UdSSR und die Verfolgung der Kommunisten, Anarchisten und Sozialisten in den USA erreicht. Eugene Debs, der sozialistische Führer im frühen 20. Jahrhundert, wurde verhaftet, Sacco und Vanzetti wurden aufgehängt, weil sie Anarchisten waren, und die Rosenbergs wurden hingerichtet, weil sie Kommunisten waren. Die McCarthy-Ära hat linkes Denken in den US völlig eliminiert.
In Europa führte die CIA verdeckte Terroroperationen (Operation Gladio L. W.) durch, um den Kommunismus zu delegitimieren. Marx wird heute im Westen kaum noch studiert und in den USA nur von Leuten am Rande des politischen Spektrums. Es ist die totale Verständnislosigkeit des Kapitalismus und seine fortdauernde Verfolgung jener, die ihm widerstehen. Diese Haltung hat die unkritische „Zivilgesellschaft“ geschaffen, die weder zivil ist noch viel mit einer Gesellschaft zu tun hat.
Der Westen versucht, seine Besatzungspolitik mit Ausdrücken wie „Krieg gegen Terror“, „humanitäre“ Intervention oder im Falle von Libyen mit „Verantwortung zum Handeln“ zu rechtfertigen. Wie verhalten sich diese Slogans zum Völkerrecht?
Gar nicht. Sie sind erfunden worden, um das Völkerrecht zu umgehen und haben stattdessen das eingeführt, was in den internationalen Beziehungen Barbarei genannt wird. Die Gesetze, welche die Erklärung eines Krieges und dessen Durchführung regeln, sind völlig an den Rand gedrängt worden. Darüber hinaus sehen wir, dass das Konzept und die Praxis außer Gefecht gesetzt wurden, d. h. dass ein Teil der Bevölkerung, und zwar die überwältigende Mehrheit, die als unbewaffnete Zivilisten keine geschützte Gruppe mehr sind. Allein dies bedeutet totale Barbarei.
Versuchen die USA und ihre westlichen Spießgesellen die Regeln, die das internationale Verhalten seit 1648 beherrscht haben, zu zerstören? Wünschen sie Chaos anstelle von Rechtsstaatlichkeit?
Eine der größten Illusionen im Westen ist der liberale politische Kurs, der sich nicht auf die Macht und den Impetus des Kapitalismus bezieht. Die Menschen denken, dass Religion Kriege verursachen; sie tut es gewöhnlich nicht. Es ist der Wunsch, die Ressourcen und ihre Verteilung zu kontrollieren, was die Ausübung von Macht erfordert und Kriege verursacht. Was wir als Menschen Chaos nennen, ist für das Kapital wunderbar. Denn wenn das Kapital das Chaos verursacht und kontrolliert, d. h. die Macht für seine eigenen Interessen ausübt - offensichtlich auf Kosten der meisten Menschen - dann wird das „Chaos“ (wie man es nennt) den Aufstieg einer anderen Macht verhindern. Zu Beginn des zweiten Golfkrieges im Irak wurde mir klar, wie die Zerstörung der Ordnung im Irak und das dadurch geschaffene Chaos dem Kapital dienten und natürlich nicht dem irakischen Volk. Wir werden dasselbe Chaos in Libyen erleben, wie es den westlichen kapitalistischen Interessen dient und das Volk einen sehr hohen Preis dafür zahlt.
In Anbetracht der augenblicklichen Machtstrukturen im internationalen System kann man fragen, ob es für die palästinensische Behörde der richtige Zeitpunkt ist, die UN um die Anerkennung ihrer Eigenstaatlichkeit zu bitten?
Bei der augenblicklichen politischen Situation eines unbegrenzten Einflusses der US-Regierung, ihrer Dominanz der UN, der Nato und anscheinend auch der EU sind wir Zeugen der Bedeutungslosigkeit der nationalstaatlichen Souveränität. Die USA zusammen mit der NATO haben gerade die Gaddafi-Regierung gestürzt, ohne dass es irgendeine Provokation seitens der libyschen Regierung gegeben hätte. Libyen ist ein souveräner Staat. Was hat das also zu bedeuten? Man ist dabei, Bashar al-Assad in Syrien zu stürzen, und wir wissen, dass man darauf wartet, den Iran anzugreifen. Diese drei Länder haben Armeen, aber wie wir in Libyen sahen, kann sie einem Angriff der NATO nicht standhalten. Unter diesen Bedingungen muss man fragen, was da palästinensische Eigenstaatlichkeit heute bedeuten kann? In Bezug auf die USA und Israel? Ich fürchte nicht viel.
Die so genannten Friedensverhandlungen seit 1993 haben zu nichts geführt. Die Palästinenser scheinen es satt zu haben. Welchen Einfluss würde eine offizielle Anerkennung eines Staates Palästina von der UN bei dieser Realität vor Ort haben? Welche palästinensischen Argumente könnten sie überzeugen?
Ich glaube nicht, dass ein palästinensischer Staat möglich ist, solange eine jüdische Kolonialsiedlung in Palästina besteht, die Staat Israel genannt wird. 62 Jahre Nichtstaatlichkeit sowie eine wachsende und expandierende jüdische Kolonisierung scheinen dies zu bestätigen.
Dies ist eine sehr radikale Ansicht, mit der ich mich nicht identifizieren kann. Aber lassen wir Meinungsunterschiede beiseite: Die USA und der Rest der Welt sind sehr zögerlich gewesen, etwas gegen die Besetzung Palästinas zu tun. Welches sind die Gründe für solch ein Verhalten? Widerspricht nicht Israels Politik aller westlichen Rhetorik über die so genannten westlichen Werte?
Der Westen und die USA sind an einem palästinensischen Staat nicht interessiert. Sie hoffen zusammen mit den Israelis, dass die Palästinenser verschwinden werden. Die Blockade des Gazastreifens ist eine Art genozidaler Strafe und alle Aktionen, die von Israel gegen die Palästinenser unternommen werden, zielen darauf ab, Schaden anzurichten, die Gesellschaft zu teilen und sie möglichst zu zerstören. Dies ist eine Art Genozid – das Töten eines Volkes - im Gegensatz zum Töten von Individuen. Die westliche Rhetorik ist genau dies – bedeutungslos. Sie sind Lügner.
Ist Israel ein nützliches westliches Instrument in der imperialen Strategie des Westens, um Spannungen im Nahen Osten zu erzeugen, um seine Kontrolle über die Ölressourcen dieser Region zu verfestigen?
Ich glaube, Israel ist im Nahen Osten, um die Spannungen zu kontrollieren und nicht, um sie zu schaffen. Die Spannungen entstehen durch den westlichen imperialistischen Diebstahl der nahöstlichen Ressourcen. Und die Unterstützung der Regierungen, die zugunsten kapitalistischer Imperialisten und nicht zugunsten ihres Volkes herrschen. Dies ist es, was die Aufstände in Tunesien und Ägypten verursachte. Israel ist dabei, zu verhindern, dass sich so etwas nicht wiederholt.
Denken Sie, dass in nächster Zukunft ein unabhängiger palästinensischer Staat möglich ist?
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, so zu denken. Ich glaube, wir sollten in der Richtung denken, wie man dem Imperialismus im Nahen Osten widerstehen kann. Die Unterdrückung der Palästinenser ist imperialistische Politik.
Welches sind die größeren Hindernisse für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes? Ist es die zionistische Ideologie oder ist es die israelische und US-amerikanische Unnachgiebigkeit?
Es ist der Kapitalismus. Die Selbstbestimmung wurde von Präsident Wilson erfunden, um die damals bestehenden Imperien zu zerstören - Österreich-Ungarn und das Ottomanische Reich. Aber es war nie eine universal angewandte Doktrin oder Praxis gewesen. Die zionistische Ideologie ist ein Werkzeug des Kapitalismus.
Ich glaube, dass die politischen Entitäten von Nationalstaaten nicht die Machtzentren sind, in denen die großen Entscheidungen getroffen werden. Sie sind die Exekutivzentren. Die Entscheidungen werden in den Zentren des Kapitals getroffen – unter Bankiers und großen Kapitalisten – Öl- und die großen Konzerne, wie Halliburton etc. Unsere Frage sollte sein, wie demontieren wir diese Entitäten, die zum Schaden der Menschheit unsere Welt kontrollieren.
Nachdem alle Strategien gegen Israels brutale Besatzung gescheitert sind, haben einige Palästinenser und große Teile der zivilen Gesellschaft rund um die Welt die BDS-Bewegung (Boykott, Divestment und Sanktionen) begonnen. Sie benützen dasselbe Mittel, das anscheinend das Apartheidregime in Südafrika in die Knie gezwungen hat. Wird diese Kampagne Erfolg haben?
Ich denke, dass man die BDS-Bewegung als marginal ansehen muss, weil ihre Organisatoren kein ernsthaftes und tiefes Verständnis für die aktuellen Problemen bewiesen haben, denen die Palästinenser in der von mir beschriebenen Weise gegenüberstehen. Außerdem brachten die Sanktionen gegen Südafrika, die ja das Vorbild sind, das südafrikanische Apartheidregime nicht an sein Ende. Zum Ende des offenen rassistischen Regimes führten vielmehr die stillschweigende Übereinstimmung und das Abkommen des ANC und der südafrikanischen kommunistischen Partei zur Weiterführung des neoliberalen kapitalistischen Regimes sowie der Verzicht auf Enteignungen von Besitz und Land und deren Rückgabe an die schwarze Bevölkerung. Keine Vorbereitung für eine Übergabe von Land in Form landwirtschaftlicher Trainingskurse für schwarze Farmer, um einen Rückgang der Nahrungsmittelvorräte zu verhindern (wie in Zimbabwe). Es fand auch kein Training im öffentlichen Dienst entsprechend den Umständen statt. Im Südafrika von heute geht die Aufteilung in Klassen so weiter wie vorher ohne den rechtlichen Rahmen eines wohl überlegten Rassismus wie während der Apartheid. Eine schwarze Plutokratie dient als Feigenblatt für jene, die mit großer Ungleichheit des Reichtums und der Macht fortfahren, die unter der Apartheid bestand und die niemals verbessert worden ist. Die tragische Ironie ist, dass der durchschnittliche Schwarze jetzt schlimmer dran ist als er (oder sie) es unter dem verhassten Afrikaanisch-Nationalistischem Regime waren. Die palästinensischen Unterhändler könnten leicht mit der schwarzen südafrikanischen Plutokratie verglichen werden; denn was sie anzubieten haben – so glaube ich – kann und wird nur eine Fortsetzung der schrecklichen Lebensbedingungen in Gaza und in der Westbank sein, wenn nicht schlimmer.
Einige ihrer Protagonisten rufen auch nach einer Ein-Staaten-Lösung für Israel und Palästina. Wenn man die zionistische Geisteshaltung kennt, scheint diese Idee völlig fehl am Platz zu sein. Welche Chance würden Sie dieser Idee als israelische Bürgerin geben? Und wie viele Israelis würden das unterstützen?
Als ein Teil des Widerstandes würde ich stattdessen einen ernsthaften Versuch machen, über die Unrechtmäßigkeit der jüdischen Siedlerkolonie in ganz Palästina zu theoretisieren und ihr nicht den Status eines legitimen souveränen Staates in irgendeinem Teil gewähren. Sie muss als illegitime politische Entität betrachtet werden, die dazu diente, ausländischen Juden in Palästina ganz bewusst auf Kosten der einheimischen Bevölkerung Privilegien zu geben.
Das herrschende Prinzip für das zukünftige politische System im Nahen Osten muss das Prinzip der Vereinigung sein. Es müsste sehr klar verstanden werden, dass es bei dem Kampf der einheimischen Bevölkerungen gegen die Teilungen und Zersplitterung geht, die der Region von ausländisch imperialistisch kapitalistischen Mächten auferlegt wird. Vereinigung steht dem imperialistischen Motto von „Teile und herrsche“ gegenüber. Meine besondere/ spezielle politische Neigung geht dahin, dass man sich der politischen Frage eines „Syrien-Tabiyya“ oder „Balady Shams“, dem semitisch-arabischen Land öffnet. Um des Volkes in der Region willen, sollte es eine Rückkehr zum vereinigten Territorium von Großsyrien geben, so wie es vor der Teilung durch die imperialistischen Mächte Frankreich und England war. Das Zerstückeln von Großsyrien hatte verheerende Konsequenzen für die lokale Bevölkerung und hat seine Entwicklung und sein allgemeines Wohlbefinden verhindert. Es hat die Region auch seines kosmopolitischen Charakters beraubt, wie es vor seiner Teilung und besonders endgültig nach der 1948er-Teilung bestanden hat, als der jüdische Staat in Palästina herausgetrennt wurde. Nur wenige Juden würden damals dieser Idee zugestimmt haben. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die arabische Bevölkerung dies sehr schätzen würde.
Hier hätte ich wieder Einwände. Der Staat Israel wird von drei Vierteln der UN-Mitglieder anerkannt. Wie kann er illegitim sein? Doch lassen Sie uns das Interview fortsetzen. Wenn alle diese Strategien fehlschlagen, einen palästinensischen Staat herbeizuführen, was bleibt dann? Gibt es eine alternative Kraft im Abbas-Regime und würden sie eine Veränderung im Verhalten der israelischen politischen Klasse herbeiführen können?
Die USA und Israel lassen eine unabhängige Führung nicht zu. Sie sind das Problem. Solange sie an der Macht sind, wird es keine Lösung geben. Die Israelis und Palästinenser und ihre Unterstützer, die einen freien und unabhängigen und sozialistischen Nahen Osten haben wollen, müssen ihren Kampf gemeinsam weiterführen.
Was denken Sie, werden die Aufstände in der arabischen Welt den Palästinensern auf ihrem langen Weg helfen?
Wenn sie es fertig bringen, das kapitalistische Regime zu stürzen, dann ja. Aber am Ende mögen die Kapitalisten stürzen, weil sie wie der Pelikan sind, der seine eigenen Jungen auffrisst. Um ihre Profite anzuhäufen, müssen sie zerstören – und hoffen wir, sie zerstören sich selbst, bevor sie uns zerstören.
Frau Brayer, danke für das Interview.
Die Fragen stellte Ludwig Watzal, Bonn.
Übersetzung ins Deutsche: Ellen Rohlfs, Leer.
Zuerst erschienen in Englisch und hier auf Deutsch.
Seit dem 11. September 2001 stehen wir einer Art neokolonialem Déjà-vu-Erlebnis gegenüber. Die alten imperialistischen und kolonialen Mächte sind überall und besetzen an ihrer Peripherie ein Land nach dem anderen, und die so genannte kritische und fortschrittliche Zivilgesellschaft schweigt oder applaudiert sogar bei dieser Art offener Aggression. Bitte könnten Sie den nationalen und internationalen Rahmen für diesen nie da gewesenen Prozess der Wiedereroberung der früheren Kolonien beschreiben?
Tatsächlich begann dieser Neokolonialismus unmittelbar nach dem Zusammenbruch der früheren UdSSR. Der erste Golfkrieg fand statt, weil die USA keine Einmischung mehr von Seiten der Sowjets fürchteten. Der Mangel eines Machtgleichgewichtes in der Welt scheint alle neokolonialen Abenteuer zu erklären, von denen alle als Folge der ständigen Ansammlung von Kapital stattgefunden haben. Da wir wissen, dass das Kapital seinen Höhepunkt in den frühen 1970er-Jahren erreichte und seitdem nach Wegen sucht, um Profit zu machen, ist die Globalisierung die letzte Manifestation des monopolitischen Kapitalismus oder Imperialismus. Ich mag den Ausdruck „zivile Gesellschaft“ überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was damit eigentlich gemeint ist. In Palästina z. B. spricht man von Zivilisten im Unterschied zu wem? Oder was? Zu Hamas? Zu Widerstandkämpfern?
Es ist meine feste Überzeugung, dass die Gehirnwäsche im Westen, die tatsächlich eine Fortsetzung der Kriegspropaganda des Zweiten Weltkrieges ist, der Grund für das Schweigen derjenigen ist, die wir einmal „Intellektuelle“ genannt haben. Aber vielleicht gibt es sie nicht mehr. Wenn man israelische Zeitungen oder auch die New York Times liest, glaube ich, dass eine permanente Erwähnung des Holocaust stattfindet. Ich denke, dass dies die Leute denken lässt, dass „sie“ - in diesem Fall die Deutschen – böse sind, während „wir“ die Guten sind, als ob dies konstante Werte wären. Es ist Teil der Propaganda, die George W. Bush anwendete, als er den Iran und den Irak beschrieb, die ein Teil der „Achse des Bösen“ sind. Der Begriff „Achse“ weist indirekt auf die „Achsenmächte“ des Zweiten Weltkrieges und den Horror des Holocaust. Die Menschen im Westen, der jetzt auch Deutschland einschließt, betrachten sich als die „Alliierten“, „die guten Kerle“. „Gut“ zu sein, ist ein Status – nicht die Beschreibung eines Verhaltens.
Aber grundsätzlich denke ich, dass liberale Politik immer ein Deckmantel für Kapitalismus gewesen ist. Es ist das kapitalistisch politische Projekt, das die Barbarei des Kapitalismus’ verbirgt. Natürlich wurde dies durch die Diffamierung der UdSSR und die Verfolgung der Kommunisten, Anarchisten und Sozialisten in den USA erreicht. Eugene Debs, der sozialistische Führer im frühen 20. Jahrhundert, wurde verhaftet, Sacco und Vanzetti wurden aufgehängt, weil sie Anarchisten waren, und die Rosenbergs wurden hingerichtet, weil sie Kommunisten waren. Die McCarthy-Ära hat linkes Denken in den US völlig eliminiert.
In Europa führte die CIA verdeckte Terroroperationen (Operation Gladio L. W.) durch, um den Kommunismus zu delegitimieren. Marx wird heute im Westen kaum noch studiert und in den USA nur von Leuten am Rande des politischen Spektrums. Es ist die totale Verständnislosigkeit des Kapitalismus und seine fortdauernde Verfolgung jener, die ihm widerstehen. Diese Haltung hat die unkritische „Zivilgesellschaft“ geschaffen, die weder zivil ist noch viel mit einer Gesellschaft zu tun hat.
Der Westen versucht, seine Besatzungspolitik mit Ausdrücken wie „Krieg gegen Terror“, „humanitäre“ Intervention oder im Falle von Libyen mit „Verantwortung zum Handeln“ zu rechtfertigen. Wie verhalten sich diese Slogans zum Völkerrecht?
Gar nicht. Sie sind erfunden worden, um das Völkerrecht zu umgehen und haben stattdessen das eingeführt, was in den internationalen Beziehungen Barbarei genannt wird. Die Gesetze, welche die Erklärung eines Krieges und dessen Durchführung regeln, sind völlig an den Rand gedrängt worden. Darüber hinaus sehen wir, dass das Konzept und die Praxis außer Gefecht gesetzt wurden, d. h. dass ein Teil der Bevölkerung, und zwar die überwältigende Mehrheit, die als unbewaffnete Zivilisten keine geschützte Gruppe mehr sind. Allein dies bedeutet totale Barbarei.
Versuchen die USA und ihre westlichen Spießgesellen die Regeln, die das internationale Verhalten seit 1648 beherrscht haben, zu zerstören? Wünschen sie Chaos anstelle von Rechtsstaatlichkeit?
Eine der größten Illusionen im Westen ist der liberale politische Kurs, der sich nicht auf die Macht und den Impetus des Kapitalismus bezieht. Die Menschen denken, dass Religion Kriege verursachen; sie tut es gewöhnlich nicht. Es ist der Wunsch, die Ressourcen und ihre Verteilung zu kontrollieren, was die Ausübung von Macht erfordert und Kriege verursacht. Was wir als Menschen Chaos nennen, ist für das Kapital wunderbar. Denn wenn das Kapital das Chaos verursacht und kontrolliert, d. h. die Macht für seine eigenen Interessen ausübt - offensichtlich auf Kosten der meisten Menschen - dann wird das „Chaos“ (wie man es nennt) den Aufstieg einer anderen Macht verhindern. Zu Beginn des zweiten Golfkrieges im Irak wurde mir klar, wie die Zerstörung der Ordnung im Irak und das dadurch geschaffene Chaos dem Kapital dienten und natürlich nicht dem irakischen Volk. Wir werden dasselbe Chaos in Libyen erleben, wie es den westlichen kapitalistischen Interessen dient und das Volk einen sehr hohen Preis dafür zahlt.
In Anbetracht der augenblicklichen Machtstrukturen im internationalen System kann man fragen, ob es für die palästinensische Behörde der richtige Zeitpunkt ist, die UN um die Anerkennung ihrer Eigenstaatlichkeit zu bitten?
Bei der augenblicklichen politischen Situation eines unbegrenzten Einflusses der US-Regierung, ihrer Dominanz der UN, der Nato und anscheinend auch der EU sind wir Zeugen der Bedeutungslosigkeit der nationalstaatlichen Souveränität. Die USA zusammen mit der NATO haben gerade die Gaddafi-Regierung gestürzt, ohne dass es irgendeine Provokation seitens der libyschen Regierung gegeben hätte. Libyen ist ein souveräner Staat. Was hat das also zu bedeuten? Man ist dabei, Bashar al-Assad in Syrien zu stürzen, und wir wissen, dass man darauf wartet, den Iran anzugreifen. Diese drei Länder haben Armeen, aber wie wir in Libyen sahen, kann sie einem Angriff der NATO nicht standhalten. Unter diesen Bedingungen muss man fragen, was da palästinensische Eigenstaatlichkeit heute bedeuten kann? In Bezug auf die USA und Israel? Ich fürchte nicht viel.
Die so genannten Friedensverhandlungen seit 1993 haben zu nichts geführt. Die Palästinenser scheinen es satt zu haben. Welchen Einfluss würde eine offizielle Anerkennung eines Staates Palästina von der UN bei dieser Realität vor Ort haben? Welche palästinensischen Argumente könnten sie überzeugen?
Ich glaube nicht, dass ein palästinensischer Staat möglich ist, solange eine jüdische Kolonialsiedlung in Palästina besteht, die Staat Israel genannt wird. 62 Jahre Nichtstaatlichkeit sowie eine wachsende und expandierende jüdische Kolonisierung scheinen dies zu bestätigen.
Dies ist eine sehr radikale Ansicht, mit der ich mich nicht identifizieren kann. Aber lassen wir Meinungsunterschiede beiseite: Die USA und der Rest der Welt sind sehr zögerlich gewesen, etwas gegen die Besetzung Palästinas zu tun. Welches sind die Gründe für solch ein Verhalten? Widerspricht nicht Israels Politik aller westlichen Rhetorik über die so genannten westlichen Werte?
Der Westen und die USA sind an einem palästinensischen Staat nicht interessiert. Sie hoffen zusammen mit den Israelis, dass die Palästinenser verschwinden werden. Die Blockade des Gazastreifens ist eine Art genozidaler Strafe und alle Aktionen, die von Israel gegen die Palästinenser unternommen werden, zielen darauf ab, Schaden anzurichten, die Gesellschaft zu teilen und sie möglichst zu zerstören. Dies ist eine Art Genozid – das Töten eines Volkes - im Gegensatz zum Töten von Individuen. Die westliche Rhetorik ist genau dies – bedeutungslos. Sie sind Lügner.
Ist Israel ein nützliches westliches Instrument in der imperialen Strategie des Westens, um Spannungen im Nahen Osten zu erzeugen, um seine Kontrolle über die Ölressourcen dieser Region zu verfestigen?
Ich glaube, Israel ist im Nahen Osten, um die Spannungen zu kontrollieren und nicht, um sie zu schaffen. Die Spannungen entstehen durch den westlichen imperialistischen Diebstahl der nahöstlichen Ressourcen. Und die Unterstützung der Regierungen, die zugunsten kapitalistischer Imperialisten und nicht zugunsten ihres Volkes herrschen. Dies ist es, was die Aufstände in Tunesien und Ägypten verursachte. Israel ist dabei, zu verhindern, dass sich so etwas nicht wiederholt.
Denken Sie, dass in nächster Zukunft ein unabhängiger palästinensischer Staat möglich ist?
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, so zu denken. Ich glaube, wir sollten in der Richtung denken, wie man dem Imperialismus im Nahen Osten widerstehen kann. Die Unterdrückung der Palästinenser ist imperialistische Politik.
Welches sind die größeren Hindernisse für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes? Ist es die zionistische Ideologie oder ist es die israelische und US-amerikanische Unnachgiebigkeit?
Es ist der Kapitalismus. Die Selbstbestimmung wurde von Präsident Wilson erfunden, um die damals bestehenden Imperien zu zerstören - Österreich-Ungarn und das Ottomanische Reich. Aber es war nie eine universal angewandte Doktrin oder Praxis gewesen. Die zionistische Ideologie ist ein Werkzeug des Kapitalismus.
Ich glaube, dass die politischen Entitäten von Nationalstaaten nicht die Machtzentren sind, in denen die großen Entscheidungen getroffen werden. Sie sind die Exekutivzentren. Die Entscheidungen werden in den Zentren des Kapitals getroffen – unter Bankiers und großen Kapitalisten – Öl- und die großen Konzerne, wie Halliburton etc. Unsere Frage sollte sein, wie demontieren wir diese Entitäten, die zum Schaden der Menschheit unsere Welt kontrollieren.
Nachdem alle Strategien gegen Israels brutale Besatzung gescheitert sind, haben einige Palästinenser und große Teile der zivilen Gesellschaft rund um die Welt die BDS-Bewegung (Boykott, Divestment und Sanktionen) begonnen. Sie benützen dasselbe Mittel, das anscheinend das Apartheidregime in Südafrika in die Knie gezwungen hat. Wird diese Kampagne Erfolg haben?
Ich denke, dass man die BDS-Bewegung als marginal ansehen muss, weil ihre Organisatoren kein ernsthaftes und tiefes Verständnis für die aktuellen Problemen bewiesen haben, denen die Palästinenser in der von mir beschriebenen Weise gegenüberstehen. Außerdem brachten die Sanktionen gegen Südafrika, die ja das Vorbild sind, das südafrikanische Apartheidregime nicht an sein Ende. Zum Ende des offenen rassistischen Regimes führten vielmehr die stillschweigende Übereinstimmung und das Abkommen des ANC und der südafrikanischen kommunistischen Partei zur Weiterführung des neoliberalen kapitalistischen Regimes sowie der Verzicht auf Enteignungen von Besitz und Land und deren Rückgabe an die schwarze Bevölkerung. Keine Vorbereitung für eine Übergabe von Land in Form landwirtschaftlicher Trainingskurse für schwarze Farmer, um einen Rückgang der Nahrungsmittelvorräte zu verhindern (wie in Zimbabwe). Es fand auch kein Training im öffentlichen Dienst entsprechend den Umständen statt. Im Südafrika von heute geht die Aufteilung in Klassen so weiter wie vorher ohne den rechtlichen Rahmen eines wohl überlegten Rassismus wie während der Apartheid. Eine schwarze Plutokratie dient als Feigenblatt für jene, die mit großer Ungleichheit des Reichtums und der Macht fortfahren, die unter der Apartheid bestand und die niemals verbessert worden ist. Die tragische Ironie ist, dass der durchschnittliche Schwarze jetzt schlimmer dran ist als er (oder sie) es unter dem verhassten Afrikaanisch-Nationalistischem Regime waren. Die palästinensischen Unterhändler könnten leicht mit der schwarzen südafrikanischen Plutokratie verglichen werden; denn was sie anzubieten haben – so glaube ich – kann und wird nur eine Fortsetzung der schrecklichen Lebensbedingungen in Gaza und in der Westbank sein, wenn nicht schlimmer.
Einige ihrer Protagonisten rufen auch nach einer Ein-Staaten-Lösung für Israel und Palästina. Wenn man die zionistische Geisteshaltung kennt, scheint diese Idee völlig fehl am Platz zu sein. Welche Chance würden Sie dieser Idee als israelische Bürgerin geben? Und wie viele Israelis würden das unterstützen?
Als ein Teil des Widerstandes würde ich stattdessen einen ernsthaften Versuch machen, über die Unrechtmäßigkeit der jüdischen Siedlerkolonie in ganz Palästina zu theoretisieren und ihr nicht den Status eines legitimen souveränen Staates in irgendeinem Teil gewähren. Sie muss als illegitime politische Entität betrachtet werden, die dazu diente, ausländischen Juden in Palästina ganz bewusst auf Kosten der einheimischen Bevölkerung Privilegien zu geben.
Das herrschende Prinzip für das zukünftige politische System im Nahen Osten muss das Prinzip der Vereinigung sein. Es müsste sehr klar verstanden werden, dass es bei dem Kampf der einheimischen Bevölkerungen gegen die Teilungen und Zersplitterung geht, die der Region von ausländisch imperialistisch kapitalistischen Mächten auferlegt wird. Vereinigung steht dem imperialistischen Motto von „Teile und herrsche“ gegenüber. Meine besondere/ spezielle politische Neigung geht dahin, dass man sich der politischen Frage eines „Syrien-Tabiyya“ oder „Balady Shams“, dem semitisch-arabischen Land öffnet. Um des Volkes in der Region willen, sollte es eine Rückkehr zum vereinigten Territorium von Großsyrien geben, so wie es vor der Teilung durch die imperialistischen Mächte Frankreich und England war. Das Zerstückeln von Großsyrien hatte verheerende Konsequenzen für die lokale Bevölkerung und hat seine Entwicklung und sein allgemeines Wohlbefinden verhindert. Es hat die Region auch seines kosmopolitischen Charakters beraubt, wie es vor seiner Teilung und besonders endgültig nach der 1948er-Teilung bestanden hat, als der jüdische Staat in Palästina herausgetrennt wurde. Nur wenige Juden würden damals dieser Idee zugestimmt haben. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die arabische Bevölkerung dies sehr schätzen würde.
Hier hätte ich wieder Einwände. Der Staat Israel wird von drei Vierteln der UN-Mitglieder anerkannt. Wie kann er illegitim sein? Doch lassen Sie uns das Interview fortsetzen. Wenn alle diese Strategien fehlschlagen, einen palästinensischen Staat herbeizuführen, was bleibt dann? Gibt es eine alternative Kraft im Abbas-Regime und würden sie eine Veränderung im Verhalten der israelischen politischen Klasse herbeiführen können?
Die USA und Israel lassen eine unabhängige Führung nicht zu. Sie sind das Problem. Solange sie an der Macht sind, wird es keine Lösung geben. Die Israelis und Palästinenser und ihre Unterstützer, die einen freien und unabhängigen und sozialistischen Nahen Osten haben wollen, müssen ihren Kampf gemeinsam weiterführen.
Was denken Sie, werden die Aufstände in der arabischen Welt den Palästinensern auf ihrem langen Weg helfen?
Wenn sie es fertig bringen, das kapitalistische Regime zu stürzen, dann ja. Aber am Ende mögen die Kapitalisten stürzen, weil sie wie der Pelikan sind, der seine eigenen Jungen auffrisst. Um ihre Profite anzuhäufen, müssen sie zerstören – und hoffen wir, sie zerstören sich selbst, bevor sie uns zerstören.
Frau Brayer, danke für das Interview.
Die Fragen stellte Ludwig Watzal, Bonn.
Übersetzung ins Deutsche: Ellen Rohlfs, Leer.
Zuerst erschienen in Englisch und hier auf Deutsch.