Mitte September waren die Vereinten Nationen Schauplatz eines der wenigen wirklichen historischen Momente in ihrer Geschichte als Mahmoud Abbas, der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, vor die Vollversammlung trat und in einer Rede den Antrag auf Aufnahme Palästinas als 194. Mitgliedstaat angekündigt hat. Das formale Aufnahmegesuch hatte er bereits an den UN-Generalsekretär mit der Bitte um Weiterleitung an den UN-Sicherheitsrat gerichtet. In seiner Rede schilderte Abbas die zum Himmel schreiende Lage seines Volkes unter einer 44-jährigen brutalen israelischen Besatzungsherrschaft. Diese palästinensische Tragödie begann aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entscheidung der zionistischen Bewegung, im Lande eines anderen Volkes einen jüdischen Staat zu gründen. Da die Vereinten Nationen sich 1947 angemaßt haben, das Land eines anderen Volkes willkürlich zu teilen, haben sie auch heute die politische und vor allem die moralische Pflicht, dem palästinensischen Volk zu seinem Recht auf Eigenstaatlichkeit und Selbstbestimmung zu verhelfen.
Zwei Tage vor Abbas redet US-Präsident Obama und unmittelbar nach Abbas sprach Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Ein Blick in die Reden beider Politiker genügt, um festzustellen, dass sie ähnliche Politphrasen gegenüber den Palästinensern geäußert haben. Von Netanyahu ist man nichts anderes gewöhnt, aber dass Obama sich ebenfalls einer so abweisenden Sprache gegenüber den legitimen Rechten der Palästinenser bediente und sich als Propagandist israelischer Interessen betätigte, lässt die Frage aufkommen, ob beide Politiker den gleichen Redenschreiber gehabt haben könnten. Beide Redner dokumentierten ihre Verweigerungshaltung gegenüber der palästinensischen Sache, die die USA und Israel seit dem Ende der Eisenhower-Präsidentschaft wider das Völkerrecht an den Tag gelegt haben. Hatte sich nicht kurz vor seinem Ausscheiden der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert Gates über die „Undankbarkeit“ des israelischen Alliierten beklagt? Was erwarten die USA von ihrem „Albatros like ally“ eigentlich? Ein ums andere Mal demütigt Netanyahu US-Präsident Obama, und dieser scheint damit kein Problem zu haben. Obama ist Netanyahus „puppet on a string“. Es scheint als benötige er die „Jewish vote“ für seine Wiederwahl, die alles andere als gesichert gilt.
Noch bei der letztjährigen UN-Generalversammlung klang Obama optimistisch: Vollmundig erklärte er damals, dass bis Ende 2011 ein Staat Palästina das Licht der Welt erblicken könne; er vergaß hinzuzufügen: Wenn Israel dem zustimmt! 2010 sagte er, dass die Palästinenser „einen Staat verdienten“. Unter Obama haben die USA bei der Entwicklung in Israel und Palästina nur noch wenig mitzubestimmen; sie sind dort höchstens noch Getriebene. Den Gang der Entwicklung bestimmen allein Netanyahu und seine rechtsnationalistische Regierung. Wie diese Regierung mit dem engen Verbündeten umspringt, musste US-Vizepräsident Joseph Biden bei seinem Besuch in Israel erfahren. Und Netanyahus Empfang im US-Kongress im Mai diesen Jahres hat für alle offenbart, auf welcher Seite die US-amerikanischen Abgeordneten stehen: nicht auf der Seite ihres Präsidenten sondern Netanyahus. Bei der reaktionär-nationalistischen Rede Netanyahus waren sie geradezu aus dem Häuschen und sprangen wie von der Tarantel gestochen 29 Mal zu einem frenetischen geradezu transhaften Beifallstaumel von ihren Sitzen auf. Eine deutlichere Ohrfeige hätten sie ihrem Präsidenten nicht verpassen können. Obama hat das Signal endgültig verstanden, wie seine diesjährige Rede vor der UN-Generalversammlung gezeigt hat.
Obamas Hauptanliegen war die Sicherheit Israels, als ob ein unter dem Joch des israelischen Besatzungsregime leidendes wehrloses Volk die Sicherheit der viertstärksten Militärmacht der Welt bedrohen könnte. Er betonte, dass man Friede nicht durch UN-Resolutionen erreichen könne, sondern nur durch harte Arbeit, sprich Verhandlungen. Er erweckte tatsächlich den Eindruck, als stünden sich bei diesen Verhandlungen zwei ebenbürtige Partner gegenüber, die um Gebiete verhandelten, auf die beide Völker das gleiche Anrecht haben. Vielleicht dachte auch Obama, dass Friede durch die geballte militärische Macht der USA und Israels herbeigeführt werden könne.
Sodann pries er Amerikas Engagement für die Sache der Palästinenser: “We seek a future where Palestinians live in a sovereign state of their own, with no limit to what they can achieve. There’s no question that the Palestinians have seen that vision delayed for too long. It is precisely because we believe so strongly in the aspirations of the Palestinian people that America has invested so much time and so much effort in the building of a Palestinian state, and the negotiations that can deliver a Palestinian state.”
Unmittelbar darauf erteilte er der UN-Generalversammlung eine Lektion über die wirklichen Sorgen und Interessen der USA: “But understand this as well: America’s commitment to Israel’s security is unshakeable. Our friendship with Israel is deep and enduring. And so we believe that any lasting peace must acknowledge the very real security concerns that Israel faces every single day.” Und er fuhr fort in Worten, die Netanyahu nicht besser hätte formulieren können: “Israel is surrounded by neighbours that have waged repeated wars against it. Israel’s citizens have been killed by rockets fired at their houses and suicide bombs on their buses. Israel’s children come of age knowing that throughout the region, other children are taught to hate them. Israel, a small country of less than eight million people, looks out at a world where leaders of much larger nations threaten to wipe it off of the map. The Jewish people carry the burden of centuries of exile and persecution, and fresh memories of knowing that six million people were killed simply because of who they are. Those are facts. They cannot be denied.” Hier hat Obama nichts anderes getan, als den zionistischen Narrative zu wiederholen, der aber nur aus Mythen besteht.
Natürlich hat Obama Recht, wenn er fordert, das Israel normale Beziehungen zu seinen Nachbarn benötige. Er vergaß aber zu erwähnen, dass Israel der „belligerent occupier“ ist, der die Gebiete in einem präventiven Angriffskrieg 1967 von den Arabern erobert hat. Obama sollte sich einmal von seinem Department of Defense oder State Department aufklären lassen, dass die damalige Johnson-Administration grünes Licht für den Angriff gegeben hat und man dafür maximal fünf bis sechs Tage veranschlagt hatte. Mit keinem Wort hat Obama die 44-jährige Besatzungsherrschaft und die gewaltsame „Judaisierungspolitik“ in Ost-Jerusalem gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte erwähnt. Auch sollte Obama wissen, dass die 2000jährige Rückkehr des „jüdischen Volkes“ ein zionistischer Mythos ist. Shlomo Sands Buch „The Invention of the Jewish People“ könnte da Licht ins amerikanische Dunkel bringen. Was würde er wohl sagen, wenn die Indianer ihre Rückkehr ins „historische Heimatland“ verlangen würden? Oder die Aborigines in Australien? Schon gar nicht können angebliche historische Rechte durch eine religiöse Mythologie begründet werden.
Was Obama über das Nuklearprogramm Irans sagte, hätte er besser zu seinem israelischen Alliierten gesagt. Iran hat bisher alle internationalen Regeln befolgt, Inspektionen seiner Anlagen zugelassen und den nuklearen Nicht-Verbreitungsvertrag unterzeichnet. Nichts davon hat Israel bisher getan. Obgleich es die Spatzen von den Dächern pfeifen, gibt Israel nicht zu, über ein riesiges Nuklearwaffenpotenzial zu verfügen. Liegt die Bedrohung dieser Region in den virtuellen Nuklearwaffen Irans oder in den über 200 Atomsprengköpfen Israels? Verlangt nicht Israel bei jeder Gelegenheit, Irans Atomanlagen militärisch anzugreifen?
Benjamin Netanyahus UN-Rede war scheinheilig. Er sei zu den Vereinten Nationen gekommen, um die „Wahrheit“ zu sagen, da diese Organisation zu lange ein „Ort der Finsternis für mein Land” gewesen sei. Obama und Netanyahu sprachen in ähnlichen Formeln über Frieden und Sicherheit. “Peace must be anchored in security. The truth is that we cannot achieve peace through U.N. resolutions, but only through direct negotiations between the parties.” Und er fuhr fort: “The truth is that Israel wants peace with a Palestinian state, but the Palestinians want a state without peace.” Israel habe immer seine Hand zum Frieden ausgestreckt, aber keiner der Nachbarn wollte sie ergreifen. Diese Legende wurde in dem Buch “Israeli Rejectionism” von Zalman Amit und Daphna Levit eindeutig widerlegt. Tatsache ist, dass die diversen israelischen Regierungen niemals „Frieden“ als im israelischen Interesse liegend betrachtet haben.
Wie Obama so dämonisierte Netanyahu ebenfalls Iran. Das Land sei die finstere Macht hinter den extremistischen Islamisten von Hamas und Hisbollah, die den Staat Israel zerstören wollten. Er stellte Iran als eine Bedrohung nicht nur für seine Nachbarn, sondern für die ganze Welt dar. Bis heute ist nicht bekannt, dass die iranische Führung irgendein Land jemals bedroht hat. Die Führung Irans wird höchstens von ihrer eigenen Bevölkerung bedroht, die demokratische Rechte einfordert. Die Armageddon-Fantasien scheinen jedoch nur unter den politisch-militärischen Eliten der USA und Israel weit verbreitet zu sein. Sefi Rachlevsky warnte in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 27. September 2011, dass „Netanyahus Messianismus“ könne zu einem Überfall auf den Iran führen. Dass sich Netanyahu ausdrücklich auf einen obskuren „Lubavitscher Rebbe“ in seiner Rede als Quelle der „Inspiration“ berief, lässt tief blicken.
“The Lubavitcher Rebbe was famous for his vehement opposition to even the tiniest withdrawal from any territory ever held by the Israel Defense Forces, even in the framework of full peace. He even opposed withdrawing from territory on the other side of the Suez Canal. In his view, not one inch of the Holy Land could be given to the Arabs. He based this opposition on both security concerns - that missiles would be deployed on any vacated territory - and religious-historical arguments. Netanyahu reiterated both claims in his speech to the United Nations.”
Netanyahu sah das Haupthindernis für Frieden nicht in der fortwährenden israelischen Kolonisierung palästinensischen Landes, des illegalen Transfers von israelischen Staatsbürgern in die besetzten palästinensischen Gebiete oder in der Weigerung Israels, die 1948 und 1967 vertriebenen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, sondern in der Weigerung der palästinensischen Führung, Israel als „jüdischen Staat“ anzuerkennen. Jedermann weiß, dass kein Land der Welt Israel als „jüdischen Staat“ anerkannt hat, sondern nur als „Staat Israel“, was völkerrechtlichem Standard entspricht. Selbst Israels bester Freund, die USA, haben durch US-Präsident Harry S. Truman Israel als „State of Israel“ anerkannt. In dem vom US-Department of State vorgefertigten Anerkennungsschreiben hat Truman eigenhändig „Jewish State“ durchgestrichen und durch „State of Israel“ ersetzt. Aber vielleicht ist Obama auch noch dazu zu bringen, die völkerrechtliche Anerkennungsformel durch eine ethnozentrische zu ersetzen.
Der Antrag der Palästinenser auf Aufnahme in die Vereinten Nationen als 194. Staat wird im UN-Sicherheitsrat bestimmt versauern oder ad calendas graecas vertagt. Bis es zur Abstimmung kommt, hat die Verweigerungskoalition neun Stimmen im Sicherheitsrat auf ihrer Seite, um den Antrag abzulehnen. Der Vorschlag des so genannten Quartetts war schon „gestorben“ kaum, dass er ausgesprochen worden ist. Er diente nur dazu, die USA und Israel vor der Weltöffentlichkeit nicht als die Verweigerungskoalition dastehen zu lassen. Umgehend beschloss Israel den Bau weiterer Siedlungen in Gilo. Abbas muss also unverzüglich den Antrag zur Abstimmung der UN-Generalversammlung vorzulegen, damit ein Staat Palästina in den Grenzen von 1949 entstehen kann und der Befreiungskampf unter Israels illegaler Besatzung ein Ende findet. Die so genannten „Palestine papers“ haben vor aller Welt die friedensrenitente Haltung der israelischen Regierung offenbart. Wenn die palästinensische Führung unter Abbas meint, durch Verhandlungen von Israel etwas zu bekommen, werden sie noch 100 Jahre verhandeln, bis sich auch noch die letzten Landfetzen Palästinas unter israelischer Kontrolle befinden. Keine Befreiungsbewegung hat jemals im Schlafwagen die Unabhängigkeit ihres Volkes von kolonialer Fremdbestimmung erreicht, und unter den Bedingungen von Besatzung kann kein funktionierender Staat Palästina entstehen.