Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird in Deutschland in Bezug auf den Islam überwiegend integrations- und sicherheitspolitisch diskutiert. In Deutschland leben zirka 4,2 Millionen Muslime, die sich mehrheitlich zur sunnitischen Variante des Islam bekennen. Innerhalb des Sunnismus gehört der Salafismus zu den randständigen Strömungen. Erst in den letzten zwei Jahren erregten dessen Anhänger zunehmend das öffentliche Interesse. Die kostenlose Verteilung des Korans auf öffentlichen Plätzen und die Anwendung brutaler Gewalt bei einer Demonstration gegen die islamphobe Partei „Pro-NRW“ vor der König-Fahd-Akademie in Bad Godesberg sorgten für bundesweite Schlagzeilen.
Der Journalist Ulrich Kraetzer hat sich als einer der ersten mit dem Phänomen des Salafismus und dessen Anhängern auseinandergesetzt. Er ist tief in die Szene eingetaucht und hat Netzwerke und deren Querverbindungen zu terroristischen Zellen und zur salafistischen Ideologie offengelegt. Der Autor weist auch auf die vielfältigen Gefahren hin, welche die salafistische Ideologie für den demokratischen Rechtsstaat und seinen Wertekanon darstellen. Gleichzeitig betont er zu Recht, dass nicht jeder Salafist ein Staatsfeind ist.
Dass die Salafisten die Gesetze der Scharia einführen würden, wenn sie denn die Mehrheit hätten, wird anhand einiger Aussagen belegt. Auf die Frage eines niederländischen Reporters nach der Einführung der Scharia, den der Autor zitiert, antwortet ein Jugendlicher: „Auf jeden Fall. Definitiv!“ „Allahs Gesetz“ steht diametral zum Prinzip der Volkssouveränität. Pierre Vogel, Salafisten-Prediger aus Aachen, formuliert es dezenter: Für Muslime sei es klar, „dass, wenn Gott sagt, etwas ist verboten, der Mensch – und selbst, wenn sich alle Menschen zusammen tun und sagen, das ist erlaubt – nicht das Recht hat, etwas als erlaubt zu sprechen, was Allah verboten hat“. Auf der Internetseite www.ahlu-sunnah.com, auf der sich besonders die Radikalen der deutschen Salafisten-Szene austauschen, heißt es: „Die Leitung des Forums distanziert sich ausdrücklich von den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland und erkennt ihre Rechtmäßigkeit gegenüber den Gesetzen Allahs nicht an.“
Vertretern des Salafismus wird ausreichend Raum zur Selbstdarstellung gegeben. Einige wie der Kölner Prediger Ibrahim Abou-Nagie betonen, dass er gar kein Salafist sein, sondern nur Muslim. „Salafismus“ sei ein Kampfbegriff der Medien. Dagegen bezeichnen sie sich selber als „salafi“ oder als Muslime, als „Leute der Sunna und der Gemeinschaft“, und etwas seltener als „Leute des Koran und der Prophetentradition“. Der Begriff „Salafist“ leitet sich vom arabischen Wort „salaf as-salih“ ab, was so viel bedeutet wie „die frommen Altvorderen“ oder „die ehrwürdigen rechtschaffenen Vorfahren“.
In weiteren Kapiteln werden die Wurzeln des Salafismus und die Ideologie, die verschiedenen Strömungen und deren Wirken in Deutschland dargestellt. Obgleich viele der Salfisten-Prediger Anti-Gewalt-Predigten halten, müssen sie sich fragen lassen, warum einige ihrer Anhänger trotzdem Terroristen oder Dschihadisten geworden seien, so Kraetzer. Die Anhängerschaft oszilliere zwischen Friedfertigkeit und Gewaltbereitschaft, und sie besteht mehrheitlich aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 35 Jahren.
Dem Autor gelingt es nicht, das Essentielle des Salafismus zu benennen. Bis heute sei der Salafismus dadurch gekennzeichnet, dass er sich im Gegensatz zum sunnitischen Islam keiner der vier sunnitischen Rechtsschulen zuordnen lasse. Im Umkehrschluss könnte das heißen, dass der Salafismus eine originäre Variante des Islam darstellt. Oder ist er doch eine Strömung des fundamentalistischen Wahabismus, der in Saudi-Arabien an der Macht ist und vom Herrscherhaus der Al-Saud in alle Welt exportiert wird? Dieser Zelotismus hat Deutschland bereits erreicht.
Die bundesrepublikanische Gesellschaft geht mit den Herausforderungen durch die Salafisten hilflos um. Sie schwankt zwischen Dialog, Deradikalisierung und Integration einerseits sowie Isolation und Abschiebung als „Lösungsansatz“ andererseits. Der Autor plädiert für die drei ersten Strategien.
Ulrich Kraetzer, Salafisten. Bedrohung für Deutschland?, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh/München 2014, 288 Seiten, 19,99 €.
Das Autorenpaar Rauf Ceylan/Michael Kiefer vertreten ebenfalls einen auf Dialog, Prävention und Deradikalisierung basierenden Ansatz im Umgang mit Salafisten. Sie geben damit besonders Pädagogen einen Leitfaden an die Hand, die zuerst mit den überwiegend jungen Aktivisten in Kontakt kommen.
Im ersten Teil werden die Entstehung des Islam und die Geschichte seiner radikalen Strömungen herausgearbeitet. Obwohl der islamische Fundamentalismus ein Produkt der Moderne sei, sind im Laufe der Entwicklung immer wieder Gruppen oder Individuen mit einem starken Sendungsbewusstsein aufgetreten, die Ansätze religiös-politischer Neuinterpretationen des Islam vertreten hätten. Ihr rigides und intolerantes Gedankengut bildete die Grundlage für spätere fundamentalistische Bewegungen.
Der zweite Teil behandelt die Phase der Kolonisierung und die Konfrontation mit der westlichen Moderne. Beide Entwicklungen führten zu völlig entgegengesetzten Reaktionen: zum radikalen Bruch mit der eigenen Kultur einerseits und fundamentalistischen Gegenreaktionen andererseits. „Im 19. und 20. Jahrhundert sollte die islamische Welt ihre bisher größten Herausforderungen erleben, sodass fundamentalistische Ideen eines Ibn Taymiyya und Abd al-Wahhab und anderer radikaler muslimischer Gelehrter reaktualisiert, in einen neuen politischen Kontext eingebettet und weiterentwickelt wurden. So wurden die religiösen Deutungssysteme, das Verhältnis von Staat und Religion, die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit sowie nahezu alle Regelungsbereiche des islamischen Rechts wie das Personenstandsrecht, das Ehe- und Familienrecht, das Erb-, Straf- und Deliktsrecht sowie auch das Staatsund Verwaltungsrecht durch folgende europäische Modernisierungsprozesse infrage gestellt.“ (S. 53)
Im dritten Teil wird auf die Neo-Salafisten-Bewegung in Deutschland und deren unterschiedliche Strömungen – puristisch, politisch und dschihadistisch – sowie deren Bezüge zu den „geistigen Vätern“ samt deren jeweiliger Ideologie eingegangen. Insbesondere der Einfluss Sayyid Abul-Ala Maududis und dessen Umdeutung zentrale koranischer Begriffe wie Gott/Gottheit, Herr, Gottesdienst und Religion stehen im Mittelpunkt. So strebten die Salafisten einen Islam an, der sich ausschließlich an seiner Entstehung orientiere. Eine moderne Auslegung werde nicht toleriert.
Besonders hilfreich für den Bildungsbereich sind die Teile Vier und Fünf, in denen es um Strategien der Deradikalisierung und Prävention gegen den Neo-Salafismus geht. Ebenso werden Konzepte und Erfahrungen aus europäischen Ländern vorgestellt, die unter anderen als Grundlage für Präventionsstrategien in den Bereichen Schule, Gemeinde, Jugendhilfe und politische Bildung dienen können. Die Autoren versprechen sich sehr viel von der flächendeckenden Einführung des islamischen Religionsunterrichts in den Schulen und durch die Einrichtung weiterer Studiengänge in Islamwissenschaft und Kultur an deutschen Universitäten.
Beide Bücher tragen auf ihre je eigene Art zum Verständnis des Salafismus bei und sind für die Auseianandersetzung mit den salafistischen Aktivisten sehr hilfreich.
Rauf Ceylan/Michael Kiefer, Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Springer VS, Wiesbaden 2013, 168 Seiten, 19,99 €.