„Oft frage ich mich, ob es ohne die Deutschen und ihre Barbarei überhaupt einen Staat Israel geben würde“, so eine der vielen provokanten Fragen und Thesen von Avraham Burg in seinem aufrüttelnden Buch „Hitler besiegen“. Diese Frage scheinen die Historiker bereits hinlänglich beantwortet zu haben: Auch ohne die Shoah wäre es zur Gründung Israel gekommen. Die Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ - sprich eines jüdischen Staates - stand seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Tagesordnung der internationalen Staatengemeinschaft. Folgerichtig wurde die Gründung eines jüdischen und arabischen Staates auch aufgrund eines Beschluss der UNO vom November 1947 gefasst und am 14. Mai 1948 durch die Proklamation Israels realisiert. Jedem Volk steht also ein völkerrechtlicher Anspruch auf Selbstbestimmung zu. Um die Identität des Staates Israel dreht sich das Buch von Burg, der die Fundierung israelischer Staatsraison auf einer Katastrophe als Identität stiftende Quelle für eine Sackgasse hält. Fast zu gleichen Teilen betrifft das Buch aber auch die Deutschen.
Als das Buch 2007 in Israel erschien, hat es einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zum ersten Mal hatte ein führender Vertreter des politischen Establishments alle zentralen Prinzipien israelischer Staatsraison in Frage gestellt. Avraham Burg ist nicht irgendwer in Israel. Er war Abgeordneter der Arbeitspartei in der Knesset, dem israelischen Parlament, zuletzt dessen Präsident. Was aber noch viel bedeutsamer ist, er war Vorsitzender des Präsidiums der Jewish Agency und der zionistischen Weltorganisation. Abraham Burg, der aus einem jüdisch-nationalen Elternhaus stammt, versuchte in seiner politischen Laufbahn immer wieder das Politische mit dem Religiös-Geistigen zu verbinden.
Sein Vater, Josef Burg, war seit 1948 dreißig Jahre lang Innen- und Religionsminister. Als ein in Dresden geborener deutscher Jude konnte er gerade noch 1939 Nazi-Deutschland verlassen und nach Palästina emigrieren. Bis zu diesem Zeitpunkt organisierte er die Ausreise von jüdischen Deutschen nach Palästina und rettete so Tausende vor den Klauen der Nazi-Schergen. Die Mutter von Avraham Burg lebte in der siebten Generation in Hebron, von wo sie wegen des Pogroms 1928/29 gegen die dortigen palästinensischen Juden fliehen musste.
Avraham Burg hat in „Hitler besiegen“ den Versuch unternommen, ein neues Selbstverständnis für Israel zu formulieren, das für ihn jenseits der Shoah angesiedelt sein sollte. Es muss humanistisch-universalistisch ausgerichtet sein, gemäß der jüdischen Tradition; das nationalistisch-zionistische ist ihm zu parochial. Israel sollte sich wieder dem Judentum als Identität stiftender Quelle zu- und vom Zionismus abwenden; beide stellen unvereinbare Gegensätze dar. Dazu lese man das aufschlussreiche Werk von Jakov M. Rabkin „A Threat from within. A Century of Jewish Opposition to Zionism“.
Das Anliegen des Autors ist von großer Sorge um den Bestand Israels bestimmt. Er wolle mit diesem Buch „Herzen, Mund und Augen für eine neue Vision öffnen“. Die Ausführungen sind ein „Zeugnis der Gebrechen Israels und eine Reaktion auf seinen Hilferuf“. Burg hat die politische Bühne verlassen, weil „Israel zu einem Reich ohne Prophezeiung geworden ist“. Der Autor will die Israelis weg vom Trauma zu neuer Hoffnung in alle Menschen führen. „Von meiner persönlichen Geschichte zum Universellen, das für alle Völker und Nationen gilt.“ Diesen Weg versucht Burg aufzuzeigen. Provokant ist sein ausführlicher Vergleich des Zustandes Israels mit dem Deutschlands während der Weimarer Republik. Dieses Kapitel habe ihm viele schlaflose Nächte bereitet. Die Argumente, die der Autor vorträgt, sind sehr überzeugend; ebenso die Lehre, die beide Länder daraus ziehen sollten: „Nie wieder, niemand, nicht nur keine Juden. Nie wieder Mord und Vernichtung von Menschen.“ Dies sei die universelle Lehre aus der tragischen Beziehung zwischen Juden und Deutschland, „die wir aus ´unserem Holocaust` ziehen wollen für eine bessere Welt für alle Menschen, für alle, die nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden“.
Der Autor greift aber auch die israelische Staatsraison frontal an: Er fordert das Ende der Holocaust-Erinnerung. Der Zionismus müsse gegenüber einer humanistischen Weltsicht in den Hintergrund treten. Das Rückkehrrecht sei aufzugeben, das allen Juden auf der Welt automatisch die israelische Staatsbürgerschaft garantiert, wenn sie nach Israel einwandern. Die Jewish Agency sei aufzulösen. Israel solle ein Staat aller seiner Bürger werden. Die Besatzung müsse unverzüglich beendet und ein Staat Palästina müsse in den Grenzen von 1967 gegründet werden. Die Zukunft Israels könne nur in einem Zionismus à la Ahad Ha´am liegen. Herzls Zionismus müsse ad acta gelegt werden. Als sei dies noch alles nicht genug, empfiehlt Burg allen Israelis, sich eine zweite Staatsbürgerschaft zuzulegen. Der Autor selbst hat die französische.
Israels Existenz werde von der Shoah bestimmt. Sie ist “wie ein Ozonloch: nicht zu sehen, aber immer präsent, abstrakt, aber folgenschwer.“ Für den Autor ist „die Shoah zu einer theologischen Stütze der modernen jüdischen Identität geworden und eine der größten Herausforderungen für das jüdische Volk in der Moderne“. Israel sei der „Auschwitz-Staat“, dessen Kultur ein Trauma und dessen Seele ein Hort des Schreckens sei, und die „Shoah ist in unserem Leben präsenter als Gott“, schreibt Burg. „Israel übernahm das Vermächtnis der Unsicherheit, die typisch für Traumaopfer ist. Seither leben wir unter ständigem Druck und in dem Widerspruch, die innere Ohnmacht und Existenzangst mit endloser Aufrüstung zu kompensieren. Wir sind zu einer Nation der Opfer geworden, und unsere Staatsreligion besteht in der Verehrung und Pflege von Traumata, als ob Israel auf immer seinen letzten Weg ginge.“ Der Autor bestreitet nicht den Wert von Erinnerung für sein Land, aber wie das Gedenken in Israel instrumentalisiert werde, „verwandelt es diese heilige Erinnerung in ein lächerliches Sakrileg und lässt brennenden Schmerz hohl und kitschig werden“. Israel sei heute wesentlich abhängiger als bei seiner Gründung und stärker vom Holocaust geprägt als drei Jahre, nachdem die Todesfabriken der Nazis geschlossen wurden, so Burg. Im Kapitel „Shoah-Epidemie“ kommt der Autor auf die Ängste, die Paranoia und die Schuld zu sprechen, die Israels politisches Leben dominieren, und schlussfolgert daraus: „Ein Staat, der mit dem Schwert regiert und seine Toten glorifiziert, muss in einem ständigen Ausnahmezustand leben, weil jeder eine Nazi, jeder ein Araber ist, alle uns hassen und die ganze Welt gegen uns ist.“
Burg stört auch die Definition Israels als „jüdisch“, ja er hält einen „jüdischen Staat“ für „Dynamit“, („To define the State of Israel as a Jewish state is the key to its end. A Jewish state is explosive. It's dynamite"), mehr noch, er hält ihn für „Nitroglycerin“, wenn er sich als „jüdisch-demokratisch“ definiert („But 'Jewish-democratic' is nitroglycerine."), wie er in dem Interview mit Ari Shavit in der Tageszeitung „Haaretz“ vom Juni 2007 erklärte. Die jüdische Ausrichtung Israes habe das Land für den radikalen Messianismus geöffnet, der mit den demokratischen Grundsätzen Israels nicht mehr zu vereinbaren sei. Die Kritik des Autors richtet sich nicht nur gegen die religiösen Extremisten, sondern zielt auf die politische Elite, die es zugelassen habe, das Israel gegen die jüdische Tradition der Toleranz und der Weltoffenheit verstoßen und sich einem militaristischen und kriegerischen Kurs verschrieben habe. Burg geißelt auch insbesondere den weit verbreiteten „Araberhass“, der sich aber nicht nur gegen diese, sondern generell gegen alle Goyim (Nicht-Juden) richte.
Klafft nicht zwischen Burgs Kritik am jüdischen Charakter Israels und seiner permanenten Verwendung des Terminus „jüdisches Volk“ ein Widerspruch? Hat nicht erst kürzlich der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch „The Invention of the Jewish People“ die These vertreten, das es ein solches gar nicht gebe? Diesen Widerspruch löst Avraham Burg in seinem Buch nicht auf. Er konnte es auch nicht, weil sein Buch zwei Jahre vor dem Sands erschienen ist.
Wenn ein Mitglied der politischen Elite Israels alle „heiligen Kühe“ der israelischen Staatsraison „schlachtet“, stellt sich die Frage, ob er noch Zionist ist. Im herkömmlichen Sinne kann er es nicht mehr sein, da er Israels Zukunft in einem Kulturzionismus à la Ahad Ha´am sieht, der nichts mit dem real existierenden Zionismus zu tun hat, weil ihm die geistig-religiöse Dimension fehlt. In dem bereits zitierten Interview antwortet Burg auf die Frage, ob er immer noch Zionist sei: "I am a human being, I am a Jew and I am an Israeli. Zionism was an instrument to move me from the Jewish state of being to the Israeli state of being. I think it was Ben-Gurion who said that the Zionist movement was the scaffolding to build the home, and that after the state's establishment it should be dismantled." Ob er denn bestätigen könne, dass er nicht länger Zionist sei, wollte Shavit wissen, worauf Burg antwortete: "Already at the First Zionist Congress, Herzl's Zionism was victorious over the Zionism of Ahad Ha'am. I think that the 21st century should be the century of Ahad Ha'am. We have to leave Herzl behind and move to Ahad Ha'am."
“Hitler besiegen” ist mehr als eine Kritik an der Verfasstheit des Staates Israel. Es ist auch eine Hommage an seine Eltern. Josef Burg verkörperte das Judentum, seine in Palästina geborene Mutter „die israelische Identität“. „Im Israelischsein war sie ihm immer weit voraus“. Aus beiden historischen Narrativen und seiner religiösen Überzeugung formt der Autor ein neues Selbstverständnis für seine israelischen Landsleute. Bevor sie dafür empfänglich werden, muss sich in Israel aber einiges grundsätzlich ändern, so wie z. B. die Klassenfahrten israelischer Schüler nach Auschwitz. „Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die für Israelis verpflichtenden Gedenkreisen zu den Vernichtungslagern in Polen für verfehlt und gefährlich halte. Da dieses Erlebnis emotional überwältigend ist, kultivieren wir eine unbewusste mentale Realität, die sämtliche Schrecken der Vergangenheit rekonstruiert und klont, damit zukünftige Generationen sie auffrischen und perpetuieren. Es ist wie eine kollektive Reinkarnation. Statt aus dem pathologischen Kreislauf auszubrechen, setzen wir ihn fort. Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns selbst. Statt zu vergessen, kratzen wir unsere Wunden auf, damit sie immer wieder bluten.“ Bereits Yehuda Elkana hat am 8. März 1988 in der „Haaretz“ dazu aufgerufen, dass Israel den Holocaust vergessen solle. Die Israelis sollten den historischen Mahnruf „Zachor“ über ihr Leben abschütteln und sich der Zukunft zuwenden, anstatt sich von früh bis spät mit den Sinnbildern, Zeremonien und den Lehren der Shoah zu beschäftigen. Auch Burg tritt für die Behandlung der Shoah als eines abgeschlossenen historischen Ereignisses ein, das nicht die nationale Identität der Menschen völlig dominieren dürfe.
Burg hat ein prophetisches Buch für Israelis und Deutsche geschrieben. Es weist endlich einen gangbaren Weg jenseits der bekannten rhetorischen Stereotype auf. Wenn die politische Elite in Deutschland und die Verbandsfunktionäre diesen Weg nicht beschreiten wollen, sollte es die Zivilgesellschaft tun. Die Deutungshoheit über die Zukunft beider Völker muss dem Souverän übertragen werden.
Als das Buch 2007 in Israel erschien, hat es einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zum ersten Mal hatte ein führender Vertreter des politischen Establishments alle zentralen Prinzipien israelischer Staatsraison in Frage gestellt. Avraham Burg ist nicht irgendwer in Israel. Er war Abgeordneter der Arbeitspartei in der Knesset, dem israelischen Parlament, zuletzt dessen Präsident. Was aber noch viel bedeutsamer ist, er war Vorsitzender des Präsidiums der Jewish Agency und der zionistischen Weltorganisation. Abraham Burg, der aus einem jüdisch-nationalen Elternhaus stammt, versuchte in seiner politischen Laufbahn immer wieder das Politische mit dem Religiös-Geistigen zu verbinden.
Sein Vater, Josef Burg, war seit 1948 dreißig Jahre lang Innen- und Religionsminister. Als ein in Dresden geborener deutscher Jude konnte er gerade noch 1939 Nazi-Deutschland verlassen und nach Palästina emigrieren. Bis zu diesem Zeitpunkt organisierte er die Ausreise von jüdischen Deutschen nach Palästina und rettete so Tausende vor den Klauen der Nazi-Schergen. Die Mutter von Avraham Burg lebte in der siebten Generation in Hebron, von wo sie wegen des Pogroms 1928/29 gegen die dortigen palästinensischen Juden fliehen musste.
Avraham Burg hat in „Hitler besiegen“ den Versuch unternommen, ein neues Selbstverständnis für Israel zu formulieren, das für ihn jenseits der Shoah angesiedelt sein sollte. Es muss humanistisch-universalistisch ausgerichtet sein, gemäß der jüdischen Tradition; das nationalistisch-zionistische ist ihm zu parochial. Israel sollte sich wieder dem Judentum als Identität stiftender Quelle zu- und vom Zionismus abwenden; beide stellen unvereinbare Gegensätze dar. Dazu lese man das aufschlussreiche Werk von Jakov M. Rabkin „A Threat from within. A Century of Jewish Opposition to Zionism“.
Das Anliegen des Autors ist von großer Sorge um den Bestand Israels bestimmt. Er wolle mit diesem Buch „Herzen, Mund und Augen für eine neue Vision öffnen“. Die Ausführungen sind ein „Zeugnis der Gebrechen Israels und eine Reaktion auf seinen Hilferuf“. Burg hat die politische Bühne verlassen, weil „Israel zu einem Reich ohne Prophezeiung geworden ist“. Der Autor will die Israelis weg vom Trauma zu neuer Hoffnung in alle Menschen führen. „Von meiner persönlichen Geschichte zum Universellen, das für alle Völker und Nationen gilt.“ Diesen Weg versucht Burg aufzuzeigen. Provokant ist sein ausführlicher Vergleich des Zustandes Israels mit dem Deutschlands während der Weimarer Republik. Dieses Kapitel habe ihm viele schlaflose Nächte bereitet. Die Argumente, die der Autor vorträgt, sind sehr überzeugend; ebenso die Lehre, die beide Länder daraus ziehen sollten: „Nie wieder, niemand, nicht nur keine Juden. Nie wieder Mord und Vernichtung von Menschen.“ Dies sei die universelle Lehre aus der tragischen Beziehung zwischen Juden und Deutschland, „die wir aus ´unserem Holocaust` ziehen wollen für eine bessere Welt für alle Menschen, für alle, die nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden“.
Der Autor greift aber auch die israelische Staatsraison frontal an: Er fordert das Ende der Holocaust-Erinnerung. Der Zionismus müsse gegenüber einer humanistischen Weltsicht in den Hintergrund treten. Das Rückkehrrecht sei aufzugeben, das allen Juden auf der Welt automatisch die israelische Staatsbürgerschaft garantiert, wenn sie nach Israel einwandern. Die Jewish Agency sei aufzulösen. Israel solle ein Staat aller seiner Bürger werden. Die Besatzung müsse unverzüglich beendet und ein Staat Palästina müsse in den Grenzen von 1967 gegründet werden. Die Zukunft Israels könne nur in einem Zionismus à la Ahad Ha´am liegen. Herzls Zionismus müsse ad acta gelegt werden. Als sei dies noch alles nicht genug, empfiehlt Burg allen Israelis, sich eine zweite Staatsbürgerschaft zuzulegen. Der Autor selbst hat die französische.
Israels Existenz werde von der Shoah bestimmt. Sie ist “wie ein Ozonloch: nicht zu sehen, aber immer präsent, abstrakt, aber folgenschwer.“ Für den Autor ist „die Shoah zu einer theologischen Stütze der modernen jüdischen Identität geworden und eine der größten Herausforderungen für das jüdische Volk in der Moderne“. Israel sei der „Auschwitz-Staat“, dessen Kultur ein Trauma und dessen Seele ein Hort des Schreckens sei, und die „Shoah ist in unserem Leben präsenter als Gott“, schreibt Burg. „Israel übernahm das Vermächtnis der Unsicherheit, die typisch für Traumaopfer ist. Seither leben wir unter ständigem Druck und in dem Widerspruch, die innere Ohnmacht und Existenzangst mit endloser Aufrüstung zu kompensieren. Wir sind zu einer Nation der Opfer geworden, und unsere Staatsreligion besteht in der Verehrung und Pflege von Traumata, als ob Israel auf immer seinen letzten Weg ginge.“ Der Autor bestreitet nicht den Wert von Erinnerung für sein Land, aber wie das Gedenken in Israel instrumentalisiert werde, „verwandelt es diese heilige Erinnerung in ein lächerliches Sakrileg und lässt brennenden Schmerz hohl und kitschig werden“. Israel sei heute wesentlich abhängiger als bei seiner Gründung und stärker vom Holocaust geprägt als drei Jahre, nachdem die Todesfabriken der Nazis geschlossen wurden, so Burg. Im Kapitel „Shoah-Epidemie“ kommt der Autor auf die Ängste, die Paranoia und die Schuld zu sprechen, die Israels politisches Leben dominieren, und schlussfolgert daraus: „Ein Staat, der mit dem Schwert regiert und seine Toten glorifiziert, muss in einem ständigen Ausnahmezustand leben, weil jeder eine Nazi, jeder ein Araber ist, alle uns hassen und die ganze Welt gegen uns ist.“
Burg stört auch die Definition Israels als „jüdisch“, ja er hält einen „jüdischen Staat“ für „Dynamit“, („To define the State of Israel as a Jewish state is the key to its end. A Jewish state is explosive. It's dynamite"), mehr noch, er hält ihn für „Nitroglycerin“, wenn er sich als „jüdisch-demokratisch“ definiert („But 'Jewish-democratic' is nitroglycerine."), wie er in dem Interview mit Ari Shavit in der Tageszeitung „Haaretz“ vom Juni 2007 erklärte. Die jüdische Ausrichtung Israes habe das Land für den radikalen Messianismus geöffnet, der mit den demokratischen Grundsätzen Israels nicht mehr zu vereinbaren sei. Die Kritik des Autors richtet sich nicht nur gegen die religiösen Extremisten, sondern zielt auf die politische Elite, die es zugelassen habe, das Israel gegen die jüdische Tradition der Toleranz und der Weltoffenheit verstoßen und sich einem militaristischen und kriegerischen Kurs verschrieben habe. Burg geißelt auch insbesondere den weit verbreiteten „Araberhass“, der sich aber nicht nur gegen diese, sondern generell gegen alle Goyim (Nicht-Juden) richte.
Klafft nicht zwischen Burgs Kritik am jüdischen Charakter Israels und seiner permanenten Verwendung des Terminus „jüdisches Volk“ ein Widerspruch? Hat nicht erst kürzlich der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch „The Invention of the Jewish People“ die These vertreten, das es ein solches gar nicht gebe? Diesen Widerspruch löst Avraham Burg in seinem Buch nicht auf. Er konnte es auch nicht, weil sein Buch zwei Jahre vor dem Sands erschienen ist.
Wenn ein Mitglied der politischen Elite Israels alle „heiligen Kühe“ der israelischen Staatsraison „schlachtet“, stellt sich die Frage, ob er noch Zionist ist. Im herkömmlichen Sinne kann er es nicht mehr sein, da er Israels Zukunft in einem Kulturzionismus à la Ahad Ha´am sieht, der nichts mit dem real existierenden Zionismus zu tun hat, weil ihm die geistig-religiöse Dimension fehlt. In dem bereits zitierten Interview antwortet Burg auf die Frage, ob er immer noch Zionist sei: "I am a human being, I am a Jew and I am an Israeli. Zionism was an instrument to move me from the Jewish state of being to the Israeli state of being. I think it was Ben-Gurion who said that the Zionist movement was the scaffolding to build the home, and that after the state's establishment it should be dismantled." Ob er denn bestätigen könne, dass er nicht länger Zionist sei, wollte Shavit wissen, worauf Burg antwortete: "Already at the First Zionist Congress, Herzl's Zionism was victorious over the Zionism of Ahad Ha'am. I think that the 21st century should be the century of Ahad Ha'am. We have to leave Herzl behind and move to Ahad Ha'am."
“Hitler besiegen” ist mehr als eine Kritik an der Verfasstheit des Staates Israel. Es ist auch eine Hommage an seine Eltern. Josef Burg verkörperte das Judentum, seine in Palästina geborene Mutter „die israelische Identität“. „Im Israelischsein war sie ihm immer weit voraus“. Aus beiden historischen Narrativen und seiner religiösen Überzeugung formt der Autor ein neues Selbstverständnis für seine israelischen Landsleute. Bevor sie dafür empfänglich werden, muss sich in Israel aber einiges grundsätzlich ändern, so wie z. B. die Klassenfahrten israelischer Schüler nach Auschwitz. „Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die für Israelis verpflichtenden Gedenkreisen zu den Vernichtungslagern in Polen für verfehlt und gefährlich halte. Da dieses Erlebnis emotional überwältigend ist, kultivieren wir eine unbewusste mentale Realität, die sämtliche Schrecken der Vergangenheit rekonstruiert und klont, damit zukünftige Generationen sie auffrischen und perpetuieren. Es ist wie eine kollektive Reinkarnation. Statt aus dem pathologischen Kreislauf auszubrechen, setzen wir ihn fort. Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns selbst. Statt zu vergessen, kratzen wir unsere Wunden auf, damit sie immer wieder bluten.“ Bereits Yehuda Elkana hat am 8. März 1988 in der „Haaretz“ dazu aufgerufen, dass Israel den Holocaust vergessen solle. Die Israelis sollten den historischen Mahnruf „Zachor“ über ihr Leben abschütteln und sich der Zukunft zuwenden, anstatt sich von früh bis spät mit den Sinnbildern, Zeremonien und den Lehren der Shoah zu beschäftigen. Auch Burg tritt für die Behandlung der Shoah als eines abgeschlossenen historischen Ereignisses ein, das nicht die nationale Identität der Menschen völlig dominieren dürfe.
Burg hat ein prophetisches Buch für Israelis und Deutsche geschrieben. Es weist endlich einen gangbaren Weg jenseits der bekannten rhetorischen Stereotype auf. Wenn die politische Elite in Deutschland und die Verbandsfunktionäre diesen Weg nicht beschreiten wollen, sollte es die Zivilgesellschaft tun. Die Deutungshoheit über die Zukunft beider Völker muss dem Souverän übertragen werden.