Der Titel ist etwas unglücklich. Juden in Deutschland oder Germanien waren schon immer Deutsche, was denn sonst. Mit dieser Selbstverständlichkeit hatte wohl nur die deutsche nicht-jüdisch-christliche Mehrheitsgesellschaft ein Problem. Die jüdischen Deutschen fühlten sich als Patrioten. Sie kämpften gegen Napoleon und starben im Ersten Weltkrieg. Trotz alledem wurden sie von ihren „christlichen“ Mitbürger nicht als gleichberechtigt akzeptiert. Dieses Ressentiment führte schließlich zu dem, was seit dem 19 Jahrhundert Antisemitismus genannt worden ist und im 20. Jahrhundert mit der Vernichtung der Juden durch das nazistische Terrorregime endete. Heutzutage von einer „christlich-jüdischen Tradition“ zu reden und eine solch eingebildete gegen den Islam in Stellung zu bringen, ist vermessen. Historisch waren es die Christen, welche die Juden als „Christusmörder“ dämonisierten, vertrieben, verfolgt und schließlich ausgerottet haben. Die Inquisition in Spanien wurde von den bis heute hoch verehrten „katholischen Königen“ mit dem Segen der Kirche durchgeführt. Zuflucht fanden die spanischen Juden in der islamischen Welt, im Osmanischen Reich. Das Judentum steht dem Islam allemal näher als dem Christentum. Kennten die politischen Schwadroneure den Koran und die darin enthaltene Verehrung jüdischer und christlicher Personen, müsste die Hetze gegen den Islam sofort verstummen.
Deborah Hertz, Professorin für Jüdische Geschichte an der University of California in San Diego, hat die Konversionen von jüdischen Deutschen zum Protestantismus bis ins 19. Jahrhundert hinein untersucht. Ihr Interesse wurde geweckt, als sie während ihrer Forschungsarbeiten zu ihrer Dissertation auf unzählige Aktenordner stieß, die auch eine so genannte „Fremdstämmigenkartei“ enthielt. In dieser Kartei waren alle Berliner Juden erfasst, die zwischen 1635 und 1933 vom Judentum zum Protestantismus konvertiert waren.
Die Autorin untersucht die sehr unterschiedlichen Motive, die zur Konversion geführt haben. „Lutheraner zu werden, war eine nachhaltige Möglichkeit, sich innerlich deutscher zu fühlen", so Hertz. Weitere Motive waren die Widerrufung bürgerlicher Gleichheitsrechte für Juden nach dem Wiener Kongress, die staatstragende Tendenz im protestantischen Christentum u. a. m. Der Konversionsakt wurde nicht nur von den Betroffenen, sondern auch von der Gesellschaft als „zwiespältig“ angesehen und stürzte die Betroffenen oft in Gewissenskonflikte. Selbst wenn man diese Konflikte für eine Art „Trittbrettfahrertum“ hielte, wollten viele der Konvertiten nicht, dass das Judentum verschwände, wie die Autorin anmerkt. Viele suchten eine Lösung für etwas, dass sie als persönliches Problem empfanden. Deborah Hertz hält die Konversionen für keinen guten Weg und auf der persönlichen Ebene für „einen Fehler“.
Bewundernswert ist die Zurückweisung der „Denunziation“ des damaligen Vorsitzenden der Jewish Agency, Avraham Burg, die er gegenüber dem deutschen Judentum geäußert hat: „Die Juden Deutschlands, blind gegen die Realität, selbstgefällig und talentiert, in den Tod gingen, wobei der Zorn, den sie in den Deutschen weckten, eine Todesurteil für die Juden überall bedeutet.“ Der Autorin überkomme ein Schaudern, wenn sie Burgs „Denunziation jener Verhaltensweisen lese“, die sie bei ihren Forschungen zutage förderte. Für Hertz ging Burg zu weit. „Er gibt den Opfern die Schuld, und außerdem wirft er den Hass auf die assimilierten Juden und den Hass auf die traditionellen Juden in einen Topf.“ Seine Herausforderung „schmerzt“, da die Autorin ihr Bestes versucht hat, „die Konvertiten und das gesamte jüdische Vermächtnis in Deutschland zu verteidigen“.
Für die Vertreter der reinen zionistischen Lehre ist es immer noch ein Unding, dass nicht alle Juden in Israel leben. Unter den augenblicklichen neokolonialen Unterdrückungsregimen im Nahen Osten und der grassierenden Islamophobie in den US-amerikanischen und westeuropäischen Demokratien sollte das Fazit der Autorin einigen Scharfmachern dort wie hier doch zu denken geben. „Die Erkundung dieser vergangenen Leben muss uns, die wir heute leben, helfen, gute Entscheidungen über Nationen, Glaube und Familie zu treffen, in vollem Bewusstsein der Schwierigkeiten, Glück in einer Welt brutaler Zwänge zu finden.“ Wenn die augenblickliche deutsche Integrationsdebatte auf diesem Niveau weitergeführt, die Dämonisierung der islamischen Glaubensgemeinschaft fortgesetzt und der Krieg gegen den Islam nicht gestoppt wird, steuern wir auf eine Katastrophe zu. Die Lehre aus der Untersuchung für die bedrängte und stigmatisierte muslimische Minderheit kann nur lauten: keine Assimilation, sondern selbstbewusstes muslimisches Leben in einer demokratisch-säkularen Gesellschaft.
Ein mit großer Empathie geschriebenes Buch.