Sonntag, 31. Juli 2011

Hamas. Die islamische Bewegung in Palästina

Endlich liegt das exzellente Buch des besten Kenners von Hamas, Khaled Hroub, auf Deutsch vor. Der Wahlsieg der “Bewegung des Islamischen Widerstandes” in Palästina, besser bekannt unter Hamas, hat 2006 in den intellektuellen und politischen Zirkeln des Westens für große Irritationen gesorgt. Auf dem Buchmarkt führte dieser Wahlsieg zu einem kleinen „Hamas-Boom“. Das Buch des Direktors des Arabischen Medien Projektes an der Universität von Cambridge, Khaled Hroub, gehört zu den besten, weil es nicht der ideologisch-propagandistischen Rhetorik der politischen Machtstrategen zu Diensten ist, denen es nicht um sachliche Information, sondern und politische Diffamierung Andersdenkender und Polit-Propaganda geht. Der Autor ist einer der wenigen wirklichen Kenner der Organisation. Bereits im Jahr 2000 hat er eine Studie über das politische Denken und die Praxis von Hamas geschrieben. Er vermeidet den Begriff „Terrororganisation“ als Bezeichnung für Hamas. Die Leser/Innen im Westen sind darüber irritiert; lesen und hören sie doch täglich in der veröffentlichten Meinung, dass Hamas eine Terrororganisation sei. „Das Buch soll keine Verteidigungsschrift für die Hamas sein“, so der Autor, sondern die Leser sollen sich vielmehr eine eigene Meinung bilden.

Hroub hat einen interessanten Ansatz gewählt: Das gesamte Buch beruht auf einer Frage-und-Antwort-Abfolge. Dadurch wird es für die Leserschaft leicht nachvollziehbar, was Hamas wirklich beabsichtigt und welche politischen Ziele die Bewegung verfolgt. Der Autor stellt Hamas als eine überaus differenzierte Organisation dar. So wird sie in der westlichen Darstellung bisher nicht gesehen, die fast ausschließlich auf israelischer Hasbara (Propaganda) beruht. Hroub beschreibt in 13 Kapiteln die Geschichte von Hamas, ihre Ideologie, Strategie und Ziele, die Organisationsstruktur, die politische, soziale und militärische Strategie, das Verhältnis zum Judentum, zu Israel, zum Westen, zum „internationalen Islamismus“ und Hamas an der Macht sowie ihre Zukunft nach dem Gaza-Massaker 2008/09 durch die israelischen Besatzungstruppen. All dies hört sich aufgrund des unzureichenden und durch Polit-Propaganda eingetrübten Kenntnisstandes für westliche Ohren fremd und neu an. Zu diesem Zerrbild tragen nicht nur die Selbstzensur der westlichen Medien, sondern auch die unsägliche Rolle von so genannten „native informers“ bei, die Hamid Dabashi, Professor an der Columbia-Universität in New York City, so überzeugend in „Brown Skin, White Masks“ für die US-amerikanische Szene beschrieben hat.

Im westlich-US-amerikanisch beeinflussten Machtbereich werden selbst Vertreter der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen schnell als „Terror-Sympathisanten“ oder „Terror-Versteher“ verleumdet, wenn sie nur Fragen zu Hamas stellen, die den Anschein erwecken könnten, sie hegten Verständnis für die Organisation. Dies wissend, beschreibt Hroub seine Position im Vorwort zur ersten und zweiten englischen Auflage unmissverständlich; diese Passage fehlt leider in der deutschen Fassung, in der ein Teil des Vorwortes in die Einleitung eingeflossen ist: "My own perception of Hamas goes beyond the mere question of being with or against the movement. As a secular person myself, my aspiration is for Palestine, and all other Arab countries for that matter, to be governed by human-made laws. However, I see Hamas as a natural outcome of un-natural, brutal occupational conditions. The radicalism of Hamas should be seen as a completely predictable result of the ongoing Israeli colonial project in Palestine. Palestinians support whichever movement holds the banner of resistance against that occupation and promises to defend the Palestinian rights of freedom and self-determination. At this juncture of history, they see in Hamas the defender of those rights."

Für den Autor ist Hamas jenes „unnatürliche Ergebnis” eines unnatürlichen, brutalen Besatzungszustandes. Heißt das, dass ohne die israelische Okkupation palästinensischen Landes Hamas nicht existieren würde? Gründete sich nicht auch der Hisbollah im Libanon erst, als Israel 1982 meinte, eine „Sicherheitszone“ (Besatzungszone) im Süden des Landes einrichten zu müssen? Hamas hat über Jahre hinweg Terroranschläge gegen Israel und deren Staatsbürger verübt. Der Autor problematisiert diese nicht eindeutig genug. Er versucht durch eine kluge Exegese, dieser Frage auszuweichen. Eine seiner Begründungen: Der Radikalismus von Hamas solle als ein voraussagbares Resultat des andauernden israelischen Kolonisierungsprojektes in Palästina gesehen werden. Die Popularität von Hamas beruhe unter anderem auch darauf, dass die Organisation sich von Beginn an nicht an der Farce beteiligt habe, die der Westen „Friedensprozess“ nennt. Weitere Popularitätsfaktoren sind die grassierende Korruption der regierenden Fatah, die schlechte Regierungsführung und die Inkompetenz der PLO-Führung. Hamas habe von Beginn an zu Recht den Anspruch der PLO die „einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes“ zu sein, zurückgewiesen. Den endgültigen Knock-out habe sie der PLO in den Wahlen 2006 versetzt, in denen erstmalig in einem arabischen Land eine herrschende Klasse in fairen, freien, gleichen, geheimen und demokratischen Wahlen von der Macht abgewählt worden sei. Neben Israel entstand ein demokratisches Palästina, was der westlichen Machtelite aber nicht ins politische Konzept passte und sie alles daran setzte, die demokratische Regierung zu stürzen. Israels Anspruch, die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“ zu sein, wäre perdu gewesen.

Für Hroub hat Hamas nichts mit der Organisation gemein, die sich die „Hamas Charta“ gegeben hat; er hält sie für „irrelevant“. Sie sei von einem ehemaligen Mitglied der Muslim-Bruderschaft verfasst worden, der keinerlei Kontakte zur Außenwelt hatte und ein völlig verworrenes Bild von Judentum und Zionismus pflegte. Die Hamas-Charta sei auch nie als ein offizielles Dokument der Organisation angenommen worden. Den expliziten Antisemitismus und Antijudaismus, der aus einigen Artikeln dieser Charta spricht, schreibt Hroub der Engstirnigkeit ihres Verfassers zu. Für den Autor gibt es eine „neue Hamas“, die sich „niemals“ in ihren politischen Aussagen auf die Charta berufen habe. Das Wahl- und Regierungsprogramm sprächen eine gegensätzliche Sprache. Warum entsorgt dann Hamas dieses Dokument nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte oder reformiert es wie weiland die PLO ihre Charta? Hroub gibt dafür die folgende Erklärung: “Politiker der Hamas befürchten, dass dies von vielen als Aufgabe der Grundprinzipien der Bewegung angesehen werden würde.”

Plant Hamas die „Zerstörung Israels“ oder die „Vernichtung der Juden“, wie westliche Pro-Israel-Fans immer wieder behaupten, und dies von den Medien als „letztes Ziel“ der Organisation verbreitet wird? Tatsächlich habe Hamas dieses „niemals“ selbst in ihren radikalsten Aussagen erklärt, so Hroub. Hamas ultimativer Slogan laute: „Befreiung Palästinas“. Was durch diese „Befreiung“ aus Israel werden würde, wird von Hroub unter Ignorierung der „Rhetorik“ der „Hamas-Charta“ nicht beantwortet. Die politische Aussage von der „Zerstörung Israels“ schätzt der Autor als „bedeutungslos“ ein. Ob sich mit dieser Erklärung die israelische Regierung, ihre Staatsbürger oder der Westen zufrieden gibt, darf bezweifelt werden.

Die „Widerstandsstrategie“ von Hamas sei nur auf Palästina beschränkt. Niemals habe die Organisation Anschläge gegen westliche Ziele oder Personen innerhalb oder außerhalb Palästinas durchgeführt. Der „Jihad“ oder „heilige Krieg“ der Hamas sei “Nationalstaatsbezogen” und ausschließlich auf Palästina beschränkt; er richte sich gegen Israel als „einer fremden Besatzungsmacht“. Hamas unterscheidet sich von anderen islamistischen Strömungen dadurch, dass sie „sich zum einen auf die nationalstaatliche Ebene und damit auf den Kampf für und innerhalb Palästinas beschränkt und zum anderen, als ihr Kampf nicht einem korrupten lokalen Regime, sondern einer fremden Besatzungsmacht gilt“.

Hroub verneint im letzten Kapitel die Frage, ob das Massaker der israelischen Besatzungsmacht 2008/09 an der Zivilbevölkerung der Hamas geschadet habe. Im Gegenteil: Die Organisation sei gestärkt aus diesem Angriff hervorgegangen und habe in der Region eine größere Legitimität gewonnen. Von den von Israel geschätzten 15 000 Hamas-Kämpfern seinen „nur“ 400 getötet worden, 1 100 dagegen waren Zivilisten, überwiegend Frauen und Kinder. Dies hat auch der Goldstone-Bericht dokumentiert, der endlich von der palästinensischen Regierung vor den UN-Sicherheitsrat gebracht werden muss. Dass die Fatah-Bewegung von Mahmud Abbas politisch so eingebrochen ist, hängt auch von einer „plausiblen Widerstandsstrategie“ gegen die israelischen Besatzer ab, so der Autor. Hroub bewertet die Strategie eines so genannten Neuen Nahen Ostens der Bush-Administration als kontraproduktiv, da sie zu einem „Nahen Osten des Widerstandes“ geführt habe, in dem die gemäßigten Kräfte keine Rolle mehr spielten. Dass es zu solch einer Koalition des Widerstandes gekommen sei, beruhe auf Israels Weigerung, die Besetzung palästinensischen Landes zu beenden, und der extremen pro-israelischen Haltung der USA, die wesentlich zur Radikalisierung der Palästinenser, anderer arabischer Staaten und der Muslime generell beigetragen habe. Der Doha-Gipfel hat dieser Widerstandskoalition ein gewisses Momentum gegeben. Da US-Präsident Barack Obama als politische Enttäuschung für die Araber abzubuchen ist und die US-Schützlinge wie der Ägypter Hosmi Mubarak oder der Tunesier Ben-Ali von der politischen Bühne abtreten mussten, sind nicht nur die gemäßigten arabischen Regime unter politischen Druck geraten, sondern auch die Widerstandskoalition wurde gestärkt.

Hroub weist immer wieder auf den Pragmatismus von Hamas hin. Das Buch steht somit völlig konträr zu dem, was im Westen über Hamas gedacht, geglaubt und geschrieben wird. Hroubs Ausführungen passen nicht so recht in die „Terror-Mythologie“ des Westens. Das Buch könnte hilfreich für diejenigen sein, die an einem wirklichen Frieden mit Gerechtigkeit im Nahen Osten interessiert sind. Für Menschen ohne ideologische Scheuklappen könnte das Buch zu einem Aha-Erlebnis führen. Es bietet eine nüchterne und unvoreingenommene Analyse der Organisation, die nur verstanden werden kann im Lichte der über 44-jährigen israelischen Besatzungsherrschaft palästinensischen Landes. Vielleicht bewirkt das Buch, dass endlich auch im deutschsprachigen Raum eine realistischere Betrachtungsweise von Hamas Einzug hält. Ohne die Anerkennung von Hamas als eines demokratisch-legitimierten Akteurs im nahöstlichen Machtpoker wird es keinen Frieden in dieser Region geben. Die „Friedensgespräche“ einer demokratisch nicht legitimierten Palästinenserführung mit Israel in Washington oder vor Ort mit der Netanyahu-Regierung werden wie in der Vergangenheit im Nirgendwo enden.

Erschienen hier.