Ein Blick auf das geopolitische Umfeld Irans genügt, um die Furcht seiner Führung vor einer fremden Aggression zu verstehen. Das Land ist umzingelt von einer immer kriegsbereiten „Hypermacht“. Das US-Imperium hat in den letzten zehn Jahren nicht nur zwei Länder mit verheerenden völkerrechtswidrigen Kriegen überzogen, sondern bedroht weiterhin auch die Existenz einiger muslimischer Länder, die nicht nach seiner Pfeife tanzen wollen. Deren Alternative oszilliert zwischen Skylla und Charybdis.
Die Debatten über das virtuelle Atomprogramm des Iran in den USA und in einigen westeuropäischen Staaten ähneln dem Verhalten von politischen Geisterfahrern. Besser als Robert Fisk hätte niemand die Groteske, die sich um die „Iranian threat“ dreht, auf den Punkt bringen können. Mit politischer Rationalität hat diese schon lange nichts mehr zu tun, eher mit Clownerie oder Irrsinn. Folgerichtig beschließt Fisk seinen Beitrag: „Bring on the sanctions. Send in the clowns.“
Von den wenigen vernünftigen Experten des US-amerikanischen und israelischen Sicherheitsestablisments ist bekannt, dass sie in der iranischen Nuklearindustrie keine „existentielle Bedrohung“ für Israel sehen, geschweige denn für die USA oder Europa. Dass in all diesen Ländern viel politisch Irrationales abgesondert wird, ist ebenfalls bekannt. Zuletzt versuchte ein Professor der Georgetown University in einer klinisch sauberen Sprache in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ seine Leserschaft von einem fast risikolosen Angriff der USA auf Iran zu überzeugen. Aus einem wohltemperierten Elfenbeinturm kann man solche verantwortungslosen „intellektuellen“ Spielchen betreiben.
Daneben treiben die Forderungen einiger Politiker immer tollere Blüten. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die Ansichtigen von Vertretern der diversen Geheimdienste durch ihre Rationalität. Einige Debattenbeiträge von potenziellen Präsidentschaftsbewerbern der Republikaner in den USA hören sich so an, dass man meinen könnte, die Idiotie sei zur Staatsraison der USA geworden. Aber auch andere Politiker fordern politisch Irrationales wie zuletzt der israelische Finanzminister Yuval Steinitz in einem Interview mit „Bloomberg Businessweek“, der für noch weitreichendere Sanktionen, als die bereits von den USA und der Europäischen Union beschlossenen, eintrat. Allen Ernstes forderte er von der internationalen Staatengemeinschaft eine totale See- und Luftblockade über das gesamte Staatsgebiet des Iran à la Kuba (!) zu verhängen, sodass „niemand mehr herauskommt“.
In der CBS-Sendung „Face the Nation“ vom Januar 2012, erklärte US-Verteidigungsminister Leon Panetta nüchtern: „Are they trying to develop a nuclear weapon? No. But we know that they’re trying to develop a nuclear capability.” Dies wird bestätigt durch die Aussage von Adminal Dennis Blair, Obamas ehemaliger Direktors für “National Intelligence”, im März 2009 vor dem US-Kongress: “We judge in fall 2003 Tehran halted its nuclear weapons design and weaponization activities” und fuhr ergänzend fort, “Tehran is keeping open the option to develop them.” Ebenfalls im gleichen Jahr erklärte der ehemalige Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mohamed el-Baradei, dass er nicht glaube, „the Iranians have made a decision to go for a nuclear weapon, but they are absolutely determined to have the technology because they believe it brings you power, prestige and an insurance policy.” Auch der neue Direkter der "National Intelligence", James R. Clapper, erklärte bei einer Anhörung vor einem Senatsausschuss: "We do not know (...) if Iran will eventually decide to build nuclear weapons."
Für die seriöse Wissenschaft ist es glassklar, Iran entwickelt keine Nuklearwaffen, weil es dafür nicht einen Beweis gibt. Selbst die Nuklearexperten der IAEA, die sich regelmäßig in den Nuklearanlagen des Iran herumtreiben, haben bis dato nicht den geringsten Beweis gefunden. Selbst die 16 Geheimdienste (!) der USA haben in zwei Berichten - in 2003 und 2010 - dargelegt, dass es kein operatives iranisches Nuklearprogramm gebe, das auf die Herstellung von Atomwaffen hindeute. Selbst die Israelis haben es plötzlich mit einem Angriff nicht mehr eilig, weil sie es besser wissen als alle anderen, dass Iran kein Atomwaffenprogramm verfolgt, wie die Tageszeitung „Haaretz“ vom 18. Januar berichtete.
Dass Teile des israelischen Sicherheitsestablishments seit über 20 Jahren vor einem nuklearen Iran warnen, scheint zum Geschäft von Politikern zu gehören. Zuletzt warnte Verteidigungsminister Ehud Barak auf „CNN“, dass Iran innerhalb von neun Monaten über die „iranische Bombe“ verfüge. Offenbar scheint es Israel trotzdem nicht so eilig mit einem Angriff zu haben, wenn man den Aussagen Baraks folgt: „We haven't made any decision to do this." (…) "This entire thing is very far off", so im israelischen Armee-Rundfunk.
Im Falle des virtuellen iranischen Nuklearprogramms scheinen wir uns in zwei Welten zu bewegen. Die eine ist die reale, in der es keinen einzigen Beweis für den Bau einer „iranischen Bombe“ gibt, die andere ist die Welt der Lüge und Propaganda. Es ist zu hoffen, dass die „Kräfte des Bösen“ nicht über die „Kräfte der Vernunft“ siegen. Sich gegen einen Überfall auf Iran auszusprechen bedeutet jedoch nicht, dass man sich mit dem Regime und seinen Methoden identifiziert oder es gar unterstützt. Kein Demokrat kann dies tun.
Sollte es im Falle Irans wirklich um Nuklearwaffen gehen, wäre es die Pflicht der USA, alles dafür zu tun, das der Nahe und Mittlere Osten nuklearfrei würde. Warum können die IAEA-Inspektoren in den Anlagen der iranischen Nuklearindustrie ein- und ausgehen, wohingegen ihnen die israelischen verschlossen bleiben? Dort würden sie endlich das finden, was sie in Iran vergeblich suchen. Die doppelten Standards des Westens könnten sich durch den anspruchsvollen Vorschlag des langjährigen Botschafter Saudi Arabiens in den USA und ehemaligen saudischen Geheimdienstchefs, Turki Al-Faisal, beheben lassen. Al-Faisal spricht sich für Sanktionen gegen den Iran aus, wenn es tatsächlich eindeutige Beweise für ein Atomprogramm des Landes gebe, gleichzeitig fordert er aber auch Sanktionen gegenüber Israel, wenn es sich weiterhin weigere, seine Atomanlagen für IAEA-Inspektoren zu öffnen.
Ein Angriff auf Iran wäre der Startschuss für einen nuklearen Wettlauf in der ganzen nahöstlichen Region, weil kein Land sich mehr gegen eine Aggression schützen kann außer durch Nuklearwaffen. Ein Schritt zurück vom Abgrund gibt den Kräften der Vernunft vielleicht noch eine Chance. Oder geht es doch wieder "nur" um "Regime Change"?
By the way, ein letzter Tipp zur Beruhigung der politischen Hysterie: Nach dem Kalender der Mayas geht die Welt kurz vor Weihnachten 2012 unter. Damit hätte sich nicht nur das iranische Nuklearprogramm, sondern alle Programme dieser Art ein für allemal erledigt.