Die 9/11-Anschläge haben zum Thema „Islam“ und „Islamkritik“ eine Fülle von Publikationen hervorgebracht, die ihresgleichen sucht. Folglich soll dies kein weiteres Buch über „den“ Islam, sondern vielmehr ein Versuch sein, Licht in relevante Komplexe um den Islam zu bringen, um eine vernünftige Sicht auf die gesamte Problematik zu erhalten, so der Autor. Sachlich, souverän und professionell wird das Thema „Islam im historischen Kontext“ in all seinen Facetten von Alexander Flores, Professor für Wirtschaftsarabistik in Bremen, behandelt. Sein Umgang mit dem Thema passt so gar nicht zur schrillen Rhetorik der medialen Berichterstattung über diese Religion. Der unsachlichen und in weiten Teilen dilettantischen Islamkritik wird der Spiegel historischer Realität vorgehalten. Die polemischen und antiislamischen Äußerungen eines Ernest Renan stehen hier pars pro toto für eine ganze Zunft.
Über Islam wird nicht nur in Deutschland kontrovers diskutiert, sondern er wird in weiten Teilen der Welt fast blindlings mit Islamismus, Fundamentalismus, Terrorismus, Selbstmordattentaten, „Antisemitismus“ und „Judenfeindschaft“, Diskriminierung der Frau, Demokratiefeindlichkeit und Missachtung der Menschenrechte assoziiert. Einige Vorwürfe treffen ohne Zweifel zu, und der Autor arbeitet sie fein säuberlich heraus und stellt sie in ihren jeweiligen historischen Kontext, in dem sie dann doch in einem wesentlichen differenzierten Licht erscheinen. Hat es diese Erscheinungsformen vor noch gar nicht so langer Zeit auch in den Ländern gegeben, die „den“ Westen bilden? Viele Phänomene und Konflikte, die der Westen reflexartig „dem“ Islam zuschreibt, haben aber mit Islam nur am Rande zu tun. Alle diese Defizite, die man im Islam zu erkennen glaubt, werden zu einem neuen Feindbild des Westens zusammengebraut.
In elf Kapiteln werden vom Autor auch alle unerfreulichen Erscheinungen einer islamischen Gesellschaft behandelt; Flores ordnet sie historisch ein und erklärt sie mit der Lage der Muslime in der Welt. Seine Schlussfolgerungen beziehen sich sowohl auf Muslime als auch auf die Mitglieder der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, die schon aus der bloßen Zugehörigkeit zum Islam, den Muslimen politisch einen Strick zu drehen versuchen. „Von seinem Grundcharakter, seinen Glaubensinhalten, seinem mythischen Bestand und seiner ethischen Ausrichtung her unterscheidet sich der Islam nicht wesentlich von Judentum und Christentum; in seinem Selbstverständnis ist er deren Fortsetzung.“
Der Autor arbeitet sich weder an den Positionen der Islamkritiker noch an denen der Islam-Apologeten ab. In seinen Ausführungen zeigt er, wie über weite Strecken der islamischen Geschichte die Hegemonie der Religion über den Alltag menschliche Freiheit, Kreativität und Produktivität kaum eingeschränkt haben. Jegliche Islamkritik beginnt mit einer Kritik des für Muslime „heiligen Buches“, dem Koran. Flores zeigt, dass der Koran kein „widerspruchsfreies Dokument“ ist, in dem es gegensätzliche Meinungen zu ein und demselben Thema gibt. Wenn im Koran über „Höllenstrafen“, der Minderstellung der Frau, der Ablehnung von Angehörigen anderer Religionen oder zum Krieg gegen „Heiden“ berichtet wird, bedeutet dies jedoch kein muslimisches Alleinstellungsmerkmal, wie der Autor betont, sondern man könne ähnliche Passagen in anderen „heiligen Texten“, nicht zuletzt in der Bibel finden, in der „die Aufforderung zum Massaker stellenweise noch unbedingter formuliert ist, so z. B. Deuteronomium 20,16.“ Die ethischen Prinzipien, die im Koran grundgelegt sind, seien denen der beiden anderen nahöstlichen Religionen wie Judentum und Christentum sehr ähnlich.
Auch mit der weithin dämonisierten Scharia, dem islamischen Recht, verhält es sich wesentlich anders als die so genannten Islamkritiker meinen. Nach deren Karikatur regelt sie das Leben der Muslime bis ins kleinste Detail, lasse diesen keinerlei Wahlmöglichkeit, und der Staat zwinge den Menschen die Vorschriften peinlich genau auf. Dies sei falsch, so Flores. „Die Scharia ist vielmehr eine Orientierungsmöglichkeit für Muslime in ihrem Verkehr mit anderen Menschen und gleichzeitig in ihrem Verhältnis zu Gott. Sie ist dies weitgehend ohne Intervention des Staates.“
Wie mit Koran, Scharia oder dem Dschihad (heiliger Krieg) verhält es sich auch mit den anderen „Problemzonen“ des Islams, die immer wieder von dessen Kritikern vorgetragen werden. Wie verhält es sich nun mit der „Judenfeindlichkeit“ im Islam? Nach Meinung des Autors zeichne der Koran ein “ausgesprochen zwiespältiges Bild von Judentum und Juden“, das wohl mit seiner Entstehungsgeschichte zusammenhänge. Es finden sich darin auch zahlreiche „judenfeindliche Wendungen“. Gleichwohl seien große Teile der Heilsgeschichte, wie sie der Koran zeichne, „mit der des Alten Testaments identisch“. Wiederholt werde die Rolle Moses als Prophet und der Auszug der Juden aus Ägypten erwähnt, die als „Kinder Israels“ bezeichnet werden.
Nimmt man die judenfeindlichen Passagen im Koran, der Prophetenbiographie und der Hadith (Mitteilung über den Propheten Mohammed) zusammen, so bleibt ein „negativer“ Gesamteindruck. „Der Verlauf der islamischen Geschichte zeigt, dass der negative Akzent im Verhältnis zu den Juden in aller Regel latent blieb.“ Es habe zwar Misstrauen und antijüdische Ausschreitungen gegeben, „aber keinerlei konsequent durchgehaltene generelle Judenfeindschaft. Die heilsgeschichtliche Aufladung der traditionellen christlichen Judenfeindschaft fehlt hier.“ Auch zeige die vormoderne islamische Geschichte, dass es keinen „Automatismus islamischer Judenfeindschaft gibt“. Die Hamas-Charta von 1988 wird ebenfalls kritisch gewürdigt. Besonders problematisch dabei sei, dass „die Auseinandersetzung mit Israel als Teil eines angeblich ewigen Gegensatzes zwischen Juden und Muslimen aufgefasst wurde“.
Falls es zu „antisemitischen“ Äußerungen komme, seien diese als „Abwehrreflex“ gegen die Schädigung der islamischen Religion durch die Dominanz des Westens zu verstehen. Die aus dem „modernen europäischen Antisemitismus übernommenen judenfeindlichen Motive“ werden dann im Zusammenhang mit Israels Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern „als kruder Antisemitismus geäußert“. „Selbstverständlich ist auch eine so in den Kontext gestellte Judenfeindschaft höchst kritikwürdig.“ Kritik, die sich als generelle Judenfeindschaft äußere, „sollte man in jedem Fall scharf zurückweisen“, weil diese „antimuslimische Haltungen“ im Westen verstärke.
Wenn man ein Buch zur Islamproblematik lesen möchte, das jenseits von Polemik und Apologie angesiedelt ist, dann sind die Leser mit „Zivilisation oder Barbarei“ bestens bedient. Es eignet sich besonders gut als Aufklärungsschrift gegen die Fülle der antimuslimischen Kampfschriften. Besonders profitieren davon könnten alle Institutionen im Bildungsbereich, da dort bereits die giftige Saat der Islamophobie aufgeht. In deren Buch-Beständen sollte eigentlich Tabula rasa angesagt sein. „Der Islam im historischen Kontext“ ist klar gegliedert, überaus verständlich geschrieben, verfügt über ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister und hält auf jeder Seite ein Aha-Erlebnis für diejenigen bereit, die nicht über ein geschlossenes islamophobes Weltbild verfügen.