Die renommierte Zeitschrift ”Foreign Affairs” hat in ihrer Juli/August-Ausgabe einen Beitrag veröffentlicht, in dem für die atomare Bewaffnung Irans plädiert worden ist; für US-amerikanische publizistische Standards in Sachen Iran und Naher Osten ein bemerkenswerter Vorgang. Keinem anderen als dem “Grandseigneur” des Neorealismus in den Internationalen Beziehungen, Kenneth N. Waltz, wäre dies Ehre zuteil geworden. Hoffentlich dient dieser Beitrag nicht als “Feigenblatt”, um jetzt umso intensiver publizistisch gegen den Iran zu agitieren. Hatte sich doch die Zeitschrift für diejenigen hergegeben, die für den völkerrechtswidrigen US-amerikanischen Überfall auf Irak getrommelt haben.
Es muss abgewartet werden, ob in Deutschland diese rationalen Argumente aufgegriffen werden oder ob einige führende Meinungsmacher dieses Landes weiter in irrationaler Dämonisierung des Iran verharren. Ist der deutsche “Foreign-Affairs”-Verschnitt in der Lage, mehr als organisierte „wissenschaftliche“ Verrisse in puncto Iran zu publizieren, wie es bisher der Fall gewesen ist? Ob die deutsche publizistische Elite bereit ist, sich mit den Argumenten der Realpolitik auseinanderzusetzen¸ die nicht moralisierend daherkommen, muss sich erst noch zeigen. Politischer Realismus, Macht, Einfluss und die Sicherung nationaler Souveränität, und nur darum geht es in den internationalen Beziehungen, scheinen in diesen Kreisen nicht hoch im Kurs zu stehen.
In einer Zeit der Hysterie in Sachen “Atomprogramm” des Iran, sind die vorgetragenen Thesen von Waltz überaus mutig, aus politisch-korrekter Sicht geradezu ungeheuerlich, dabei sind sie doch nur das Ergebnis einer unbefangenen rationalen Betrachtung der internationalen Beziehungen und der Nuklearpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Gegensatz zu den alarmistischen und zum Teil irrationalen Thesen der deutschen, israelischen und US-amerikanischen Analysten, die eine “existentielle Bedrohung” nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt bereits durch die imaginären Atomwaffen Irans “diagnostizieren”, stellt Waltz kühl fest, dass iranische Nuklearwaffen wohl das bestmöglichste Mittel wären, um die Stabilität und ein relatives Machtgleichgewicht im Nahen Osten wiederherzustellen.
Der Autor geht davon aus, dass jede Macht in den internationalen Beziehungen nach einer Gegenmacht verlange („Power, (…), begs to be balanced.“). Nachdem er drei Szenarien vorstellt, wie die Krise über das iranische Nuklearprogramm ausgehen könnte, konstatiert er, dass jedes Mal, wenn es einem Land gelungen sei, in den Klub der Nuklearmächte aufzusteigen, sich die anderen damit arrangiert hätten. Durch die Reduzierung des Machtungleichgewichtes hätten die neuen Nuklearstaaten zu mehr regionaler und internationaler Stabilität beigetragen.
Interessant ist die These von Waltz über das “geheime” israelische Nuklearwaffenpotenzial: Israels nukleare Monopolstellung über mehrere Dekaden „hat seit langem zur Instabilität im Nahen Osten beigetragen“, weil das Land solange “unkontrolliert als Nuklearmacht bestehen konnte”. “It is Israel’s nuclear arsenal, not Iran’s desire for one that has contributed most to the current crisis.” Das Überraschende im Falle Israel sei, dass es so lange gedauert habe, bis eine Gegenmacht auftreten konnte, so Waltz. Folglich könne die Krise im Nahen Osten erst behoben werden, wenn das militärische Gleichgewicht wiederhergestellt sei.
Für Waltz werde die Gefahr einer iranischen Nuklearmacht erheblich übertrieben, was auf einem Grundirrtum über das Funktionieren des internationalen Systems beruhe. Der Autor räumt mit einem Argument auf, das im Kern rassistisch ist und auf westlicher Hybris beruht, und zwar, dass das iranische Regime “von Natur aus irrational” sei. Dagegen werde die iranische Politik nicht von “verrückten Mullahs”, sondern von überaus rationalen Ayatollahs gemacht. Obgleich diese sich manchmal einer “hasserfüllten und auf hetzerischen Rhetorik” bedienten, zeigten sie jedoch keinerlei Neigung zur Selbstzerstörung. Da die überwiegende Mehrheit der israelischen und US-amerikanischen Politiker und Experten aber diese Meinung vertrete, träfe für Iran “die Logik der atomaren Abschreckung” nicht zu. Diese Kreise argumentieren, dass, sollte Iran über die Atombombe verfügen, es nicht zögern würde, sie gegen Israel einzusetzen. Auch dieses irrwitzige Argument wird von Waltz souverän zurückgewiesen, indem er betont, dass Iran Nuklearwaffen zu seiner eigenen Sicherheit brauche und nicht wegen seiner “offensive capabilities” oder gar, um sich selbst zu zerstören.
Diesen "rationalen" Analysten sei das Buch von Alastair Crooke besonders empfohlen. Irans Sicherheit ist massiv bedroht. Es ist umzingelt von der aggressiven US-Hypermacht, die bereits bis auf Iran alle Staaten dieser Region auf Grund einer Stützpunktpolitik oder direkt wie Irak und Afghanistan besetzt hält. Darüber hinaus droht die israelische Regierung in regelmäßigen Abständen, die iranischen Atomanlagen zu bombardieren.
Auch das Argument, Irans Politik würde durch den Besitz von Atomwaffen aggressiver, oder das Land würde Terrorismus unterstützen, werden durch die Nukleargeschichte widerlegt. Alle Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Nuklearmächten aufgestiegen seien, hätten sich als sehr verwundbar erwiesen, weil ihnen bewusst war, dass sie ein “potenzielles Ziel in den Augen der führenden Mächte” darstellten. Waltz nennt als Beispiele das maoistische China, Indien und Pakistan. “Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Iran diesen Rahmen sprengen würde.” Die “Überwachungsmöglichkeiten” der USA stellten darüber hinaus ein zu großes Hindernis dar. Sollte Iran “Nuklearmacht” werden, sprechen alle rationalen Argumente dafür, die “volle Kontrolle über sein Arsenal zu behalten”.
Auch das oft vorgebrachte Argument, eine Nuklearmacht Iran würde das nukleare Wettrüsten in der Region anheizen, verfängt nach Waltz nicht. Seit 70 Jahren lebt die Welt im Nuklearzeitalter, und die “Furcht vor einer Verbreitung” habe sich als “grundlos” erwiesen. Iran wäre seit 1945 der zweite Staat in der Region, der über Nuklearwaffen verfügen würde. Israel verfügt seit den 1960er-Jahren über Atomwaffen, und diese stellten eine größere Gefahr für die arabische Welt dar als mögliche iranische, so Waltz. “If an atomic Israel did not trigger an arms race then, there is no reason a nuclear Iran should now.”
1991 haben die Erzrivalen Indien und Pakistan in einem Vertrag vereinbart, ihre Nuklearanlagen nicht gegenseitig anzugreifen. Trotz immer wieder auftretender Spannungen, konnte der Frieden bis heute gewahrt bleiben. Nach Waltz könnten Israel und Iran einen ähnlichen Vertrag unterzeichnen. Bisher habe es nie einen “umfassenden Krieg” zwischen zwei Nuklearmächten gegeben. Wenn Iran die Nuklearschwelle überschreiten sollte, tritt das Prinzip Abschreckung in Kraft, selbst bei dem ziemlich kleinen iranischen Atomarsenal.
Iranische Atomwaffen würden für andere Mächte in der Region keinen Vorwand liefern, sich nun auch nuklear zu bewaffnen. Die gegenwärtige Krise würde sich auflösen und zu einem stabileren Nahen Osten führen. Dagegen sollte die Kommunikation zwischen Iran und den führenden Mächten intensiviert werden, da sie es dem Westen ermöglichen werde, besser mit einem nuklearen Iran leben zu können. Dass die Sanktionen aufgehoben werden sollten, versteht sich für Waltz von selbst; sie schaden nur den Menschen.
Die politischen Entscheidungsträger und die Menschen in der arabischen Welt, Europa, Israel und den USA “sollten Trost aus der Tatsache ziehen, dass dort, wo eine Nuklearmacht entsteht, auch Stabilität entsteht. When it comes to nuclear weapons, now as ever, more may be better." Frei übersetzt heißt das nach Waltz: Wenn es um Atomwaffen geht, könnte nach wie vor ihre Verbreitung den Frieden sichern.