Das Buch “The Crisis of Zionism” von Peter Beinart hat zu heftigen emotionalen Eruptionen innerhalb des US-amerikanischen jüdischen politischen und kulturellen Establishments geführt. Der Autor bezeichnet sich selber als Zionist; er macht sich um die Zukunft Israels und die Entfremdung der jungen US-amerikanischen Juden vom Zionismus große Sorgen. Beinart ist nicht nur über die Politik der rechtsnationalistischen israelischen Regierung besorgt, sondern auch über deren unkritische Unterstützung durch die “Israellobby” (Mearsheimer/Walt) in den USA. Diese Besorgnis haben jüngst zwei so unterschiedliche Intellektuelle wie David Remnick, Chefredakteur von “The New Yorker”, und der Politikwissenschaftler Norman G. Finkelstein ebenfalls geäußert. Letzterer hat gerade ein Buch “Knowing too much” veröffentlicht, in dem er unter anderem ebenso wie Beinart eine Entfremdung junger liberaler US-amerikanischer jüdischer Studenten von Israel festgestellt hat. Deren liberaldemokratische Wertvorstellungen ließen sich nicht länger mit der illiberalen und intoleranten Politik der rechtsnationalistischen Netanyahu-Regierung in Einklang bringen.
Peter Beinart ist ehemaliger Redakteur von “The New Republic” und zurzeit außerordentlicher Professor für Journalismus und Politikwissenschaft an der “City University” in New York. Darüber hinaus schreibt er für „The Daily Beast“ und ist Chefredakteur für „Open Zion“, einem Blog, der sich Gedanken über Israel und die Zukunft der Juden macht. Sein Hauptanliegen ist die Rettung des “liberalen Zionismus”, was aus mehreren Gründen einer Quadratur des Kreises entspricht. Erstens gibt es keinen “liberalen Zionismus, sondern nur liberale Individuen, die sich zum Zionismus als Ideologie bekennen und diese vertreten; zweitens kann Israel nicht gleichzeitig ein jüdischer und demokratischer Staat sein, weil dies eine contradicito in adjecto oder ein Oxymoron ist, wie auch Abraham Burg in einem Interview festgestellt hat, und drittens ist Liberalismus nicht mit Tribalismus vereinbar.
Liberaler Zionismus sei ein Mythos; dies hat schon der israelische Autor, Dichter und politische Aktivist Yitzhak Laor in seinem Buch “The Myth of Liberal Zionism” überzeugend dargelegt. Als ein liberaler Jude in den USA scheint der Autor dem Image vom “Beautiful Israel” nachzutrauern, das im Westen immer noch in einigen gesellschaftlichen Kreisen gepflegt wird. Dieses Bild entstand während der langen Herrschaft der Arbeitspartei. Beinart gibt sich als ein Bewunderer von David Ben-Gurion, Golda Meir und Yitzhak Rabin zu erkennen. Glaubt man jedoch den Ausführungen von Zalman Amit and Daphna Levit in ihrem Buch “Israeli Rejectionism”, so war Ben-Gurion der “greatest Israeli rejectionist”.
Was ist so erstrebenswert für einen liberalen Demokraten, dass er versucht, die Privilegien einer ethnischen Gruppe (Juden) über eine andere (israelische Palästinenser) zu erhalten? Beinart sieht, wie z. B. andere Vertreter der so genannten zionistischen Linken, die Probleme Israels erst mit der Besetzung palästinensischen Landes im Juni-Krieg von 1967 entstehen. Diese Vertreter blenden jedoch das große Unrecht, das im Zuge der Staatsgründung Israels mit der Vertreibung von 750 000 Palästinensern aus ihrer Heimat entstanden ist, aus. Darüber hinaus scheinen für Beinart Israels demokratische Unzulänglichkeiten nur darin zu bestehen, dass religiös fanatisierte Siedler die Israelische Gesellschaft in Geiselhaft genommen haben. Ein weiterer Trugschluss in Beinarts Argumentation liegt der Behauptung zugrunde, dass es in Israel zwar eine liberale Demokratie gebe, dagegen aber in den besetzten Gebieten ein “undemokratisches” und “ethnozentrisches” Regime herrsche. Damit stellt sich für jeden Leser zwangsläufig die Frage, ob nicht die demokratisch gewählte israelische Regierung für die Situation in den besetzten Gebieten verantwortlich ist. Israel hat in der Tat erhebliche politische und gesellschaftliche Probleme, die zu einem großen Teil hausgemacht sind und in der zionistischen Ideologie begründet liegen; justament dieser, wenn auch deren „liberale“ Variante, will Beinart wieder neues Leben einhauchen.
Für den Rezensenten scheint sich der Eindruck aufzudrängen, als habe der Autor ein stark eingeschränktes Bild der Realität von Israel und Palästina. Sein Buch ist primär für seine US-amerikanischen Landsleute, insbesondere seine jüdischen, geschrieben. Unter “ethnocracy” versteht Beinart einen “place where Jews enjoy citizenship and Palestinians do not”, und dies beziehe sich nur den “mini-state”, der von den Siedlern in der Westbank errichtet worden sei. Andere renommierte Israelis wie Oren Yiftachel, Professor an der Ben-Gurion Universität in Beer Sheva, und die deutsch-israelische Menschrechtsanwältin Felicia Langer und viele andere bezeichnen Israel als “Ethnokratie”, weil die jüdischen Israelis zahlreiche Privilegien gegenüber ihren israelisch- palästinensischen Mitbürgern genössen. Zerstört nicht gerade dieser illiberale Zionismus den “liberalen Zionismus” in Israel?
Neben diesen wenigen Unzulänglichkeiten schreibt Beinart Dinge über Israel und die pro-zionistische “Israellobby” in seinem Heimatland, die sich für amerikanische Ohren geradezu häretisch anhören müssen, wenn man die rosarote Berichterstattung der Medien in den USA über Israel vor Augen hat. Sätze wie “hoarding the Holocaust” seit den 1970er Jahren durch amerikanisch-jüdische Organisationen, oder dass die “Anti-Defamation League” nur einen “angeblichen” Antisemitismus bekämpfe, und dieses Problem eine Art jüdischer “Selbstbetrug” sei, sind überaus mutige Sätze für einen zionistischen US-Amerikaner. Auch was er sonst über Israels Misshandlung der Palästinenser sowie Israels Missachtung der Menschenrechte der Palästinenser und des Völkerrechts schreibt, ist nach US-amerikanischen Medien-„Standards“ inakzeptabel. Beinart lässt sich vom Geiste des großen Rabbiners Hillel leiten, demzufolge “Juden nicht anderen das antun dürfen, was sie selber als hassenswert empfinden, wenn es ihnen angetan werden würde”. Beinart lässt für die Leser ein anderes Judentum aufscheinen, das Israel durch sein politisches Verhalten so nicht repräsentiert.
Der Autor setzt sich intensive mit der “Krise in Amerika” und der “Krise in Israel” auseinander, aber nicht mit der “Krise in Palästina” oder der “Krise des Islam”. Folglich ist seine größte Sorge, welche langfristigen Auswirkungen die fortdauernde Besatzungsherrschaft auf die liberalen und demokratischen Ideale Israels oder auf seine physische Existenz haben werden. Auch würden die zahlreichen jüdischen Interessenverbände ihre Augen vor diesen Problemen verschließen und mit der rechtsnationalistischen Netanyahu-Regierung durch dick und dünn gehen. Als Zionist ruft Beinart sogar zum Boykott israelischer Waren aus den besetzten Gebieten auf.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor der Beziehung zwischen US-Präsident Barack Obama und Ministerpräsident Benyamin Netanyahu. Als US-Amerikaner empfindet er Verachtung für die Demütigungen Obamas durch Netanyahu sowie den fanatischen Applaus, den er während seiner gesamten nationalistischen Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses im Mai 2011 erhalten hat. Netanyahu machte nicht nur Obama öffentlich lächerlich, als er sich seiner Forderung nach einer Verlängerung des sechsmonatigen Baustopps der völkerrechtswidrigen Siedlungen widersetzte, sondern dass er auch öffentlich äußerte, dass er von Obama “erwartet”, dass sich dieser an die Zusagen der Bush-Administration aus dem Jahr 2004 halte. Selbst einen überzeugten Zionisten wie den US-Vizepräsidenten Joseph Biden stellte die israelische Regierung während dessen Besuchs in Israel öffentlich bloß, obgleich dieser doch bei der Ankunft gesagt hat: “Good to be at Home!” Beinart bedauert, dass Obama sich permanent dem Druck der “Israel-Lobby” und anderen wichtigen jüdischen Meinungsführern beuge.
Der Autor äußert sich pessimistisch über den Zustand der liberalen und demokratischen Ideale in Israel, “and American Jews most committed to those ideals will become indifferent, at best, to the Jewish state”. Um das zionistische liberale Israel durch die Gründung eines Palästinenserstaates retten zu können, scheint es bereits zu spät zu sein. Zu sehr haben die religiösen Eiferer das Heft des Handelns übernommen. Beinart sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass die gegenwärtige israelische Regierung einem “Staat Palästina” neben Israel, der diese Bezeichnung auch verdient, niemals zustimmen wird. Es dürfte wohl bei den augenblicklichen “Bantusatans” für die nächsten einhundert Jahre bleiben. Wo aber solche politischen Gebilde entstehen oder existieren, dürfte “Apartheid” gleich um die Ecke lauern.
Für US-amerikanische publizistische Verhältnisse ein überaus mutiges Buch; darüber hinaus ist es exzellent geschrieben. Chapeau, Mr. Beinart!