Die brutale Niederschlagung der demokratischen Protest-Bewegungen in der gesamten Türkei sollte die Debatte über einen möglichen Beitritt des Landes zur Europäischen Union (EU) eigentlich beenden. Für eine "orientalische Despotie" ist in einem demokratischen Staatenverbund kein Platz. Recep Tayyip Erdogan, der zwar dreimal demokratisch zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist, hat in seiner letzten Amtsperiode demokratisch völlig versagt. Er hat nicht nur die Türkei Schritt für Schritt islamisiert, sondern sie auch von den säkularen Ideen ihres Gründers, Kemal Mustafa Atatürk, entfernt. Erdogan hat die Partei der Kemalisten (CHP) in seiner letzten Rede auch als Teil der „Verschwörung“ bezeichnet. Hatte Atatürk das Kalifat und Sultanat abgeschafft, würde Erdogan letzteres lieber heute als morgen wieder einführen, wenn man kritischen Stimmen Glauben schenken darf.
Auf einer von seiner AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) organisierten Massendemonstration hielt Erdogan eine "Hasspredigt", in der er nicht nur die Demonstranten als "Terroristen", „Anarchisten“ „Lumpen“ und "Gesindel" verunglimpfte, sondern auch deutlich gemacht hat, dass er von der EU und deren "Einmischung" absolut nichts hält. Sein hysterisches Geschrei wurde von türkischen Medien als „beängstigend“ bezeichnet. Er verstieg sich in wildeste Verschwörungstheorien. Wie für selbstherrliche Autokraten üblich, wurden auch gleich den internationalen Medien dunkle Machenschaften unterstellt und von „Verschwörung“ gesprochen. Baschar al-Assad lässt grüßen! Auch sein EU-Minister Egemen Bagis stand ihm in der Verunglimpfung der Demonstranten und der EU in nichts nach.
Erdogan hat sich innen- und außenpolitisch völlig diskreditiert. So traf er sich mit einer Abordnung von Demonstranten und sagte eine Volksabstimmung über die Verwendung des Gezi-Parks zu, gleichzeitig befahl er aber persönlich der Polizei, mit äußerster Brutalität gegen die Demonstranten vorzugehen. Selbst gegen Ärzte, die die Demonstranten medizinisch versorgten, geht das Erdogan-"Regime" mit repressiven Maßnahmen vor. Das türkische Gesundheitsministerium verlangte die Namen all derjenigen, die den Verletzten geholfen haben! Wer so zynisch mit seiner Macht und seinen Untertanen umgeht, hat jeglichen politischen Kredit verspielt.
Auf den von Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreik reagierte die Erdogan-Regiierung mit Drohungen. So hat der türkische Innenminister Muammar Güler den Streik für illegal erklärt und Schritte gegen die Streikenden angekündigt. Und Bülent Arinc, stellvertretender Ministerpräsident, drohte sogar mit dem Einsatz des Militärs. Der Innenminister kündigte „rechtliche“ Schritte gegen Twitter und Facebook an, weil sie die einzigen unkontrollierten und demokratischen Medien sind, über welche die Demonstranten kommunizieren können. Die offiziellen Medien berichten dagegen nur unzureichend oder gar nicht über die Massenproteste gegen das Erdogan-"Regime".
Nach Meinung von „Spiegel-online“ wirkte Erdogan wie ein „durchgedrehter Despot“. Außenpolitisch hegt Erdogan "großtürkische Träume" und bastelt an einer Neuschaffung des "Osmanischen Reichs", quasi einer turkisierten "Umma" mit Istanbul als Machtzentrum."Wir sind bewegt vom Geist, der das Osmanische Reich gründete", so Erdogan in einer früheren Rede. In diesem Geiste begrüßte er seine Unterstützer auf dem Balkan, Angola, Irak. „Wo ist Sarajewo, wo ist Gaza heute Abend“? schrie er seinen fanatisierten Zuhörern/innen zu. Der Ministerpräsident bekennt sich immer wieder zum Erbe des Osmanischen Reiches, erwähnt aber auch diverse Schlachten, die nicht aus osmanischer Zeit stammen.
Gleichwohl fordern einige Politiker von der EU ein „weiter so“ in den Beitrittsverhandlungen mit dieser Regierung. Diese staatliche Gewalt sei nicht ‚die Türkei‘, ließ sich die Grünen-Politikerin Claudia Roth vernehmen, die bei ihrem Besuch selbst eine Ladung Tränengas abbekommen hatte. Was ist ‚die Türkei‘ dann sonst? Ein zweites orientalisches Monaco? Aber was sie politisch sonst noch so Kluges sagte, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Vielleicht gibt es in Europa einige weitsichtige Politiker, die das politische Spiel Erdogans richtig einzuschätzen wissen. Selbst in Deutschland hat er auf Großveranstaltungen politisch grenzwertige Reden gehalten, ohne das die politische Klasse in diesem Lande klüger geworden wäre, was einen Beitritt der Türkei zur EU betrifft. Die EU ist jetzt schon mit ihrem politischen Latein am Ende. Ein „Sanierungsfall“, wie der EU-Kommissar Günther Oettinger kürzlich in einer Rede dieses Staaten-Konglomerat bezeichnete. Wer sich also weiterhin für einen EU-Beitritt der Türkei einsetzt, handelt politisch undurchdacht. Die Argumente gegen einen solchen Beitritt sind Legion; sie wurden aber auch von professoraler Seite vorgetragen. Es gibt aber auch Argumente für einen Beitritt.
Kehrt die Türkei eines Tages wieder auf einen überzeugenden rechtsstaatlichen Weg zurück, sollte über ein Assoziierungsabkommen verhandelt werden, das im politischen Interesse beider Seiten läge.