Freitag, 1. November 2013

Neue Macht – Neue Verantwortung: Anmerkungen zur neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik


Die „Neuvermessung“ deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zeichnet sich durch ein großes Defizit aus: Es mangelt ihr an kritischer Reflexion. Völlig kritiklos werden US-amerikanische Denkschablonen übernommen und mit einer geradezu lächerlichen eigenen deutschen Begrifflichkeit camoufliert. Um Deutschland als eine Weltordnungsmacht in Wartestellung zu etablieren, brauchten die so genannten Think Tanks, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United States (GMF), ein Jahr. Diese Studie ist das Ergebnis eines überwiegend neokonservativen neuen deutschen außenpolitischen Establishments, oder neudeutsch besser bekannt unter „Strategic Community“, das Deutschland nicht nur als europäische Führungsmacht, sondern auch als gleichwertiger Partner eines globalen neo-imperialistischen Unternehmens, das sich Nato nennt, in Zukunft sehen will.

Schon in der Einleitung werden verbale Nebelkerzen gezündet, um den wahren Verursacher des Desasters zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nennen zu müssen. Ausgemacht werden stattdessen anonyme Strukturen wie Globalisierung oder eine wankende internationale Nachkriegsordnung sowie einige im Umbruch befindliche Organisationen wie EU, Nato und Vereinte Nationen. All diese „Krisen“ könnten nicht mehr durch „deutsche Alleingänge“ gelöst werden. Deutschland habe zwar – und darin bestehe das Paradoxon deutscher Außenpolitik nach der Wiedervereinigung – seine „formale völkerrechtliche Bindungsfreiheit“ zurück erhalten, gleichwohl könne es die außenpolitischen Aufgaben im Alleingang nicht mehr lösen. 

Wohlweislich sprechen die Autoren nur von „völkerrechtlicher Bindungsfreiheit“ und nicht von „völkerrechtlicher Souveränität“, weil Deutschland über diese bis heute nicht verfügt. Deutschland ist nach wie vor ein "besetztes" Land, in dem die USA frei schalten und walten können. Selbst der so genannte Zwei-plus-Vier-Vertrag konnte daran nichts ändern. Durch zahlreiche Geheimabkommen und Zusatzprotokolle ist es den USA weiterhin gestattet, mit ihren Geheimdiensten unumschränkt nicht nur die gesamte Bevölkerung zu bespitzeln, sondern sogar auch die Bundeskanzlerin, die sich doch immer so USA-freundlich gegeben hat, abzuhören. Die USA unterhalten Stützpunkte und Abhörzentren, die exterritorial sind, sowie ein stattliches Atomraketen-Arsenal auf deutschem Staatsgebiet. Solange die Souveränität Deutschlands über sein eigenes Territorium nicht wiederhergestellt ist, wirkt die Empörung der politischen Klasse über die Abhör- und Ausspähaktionen des „Großen Bruders“ scheinheilig.

Der tatsächliche Verursacher des Desasters, die USA, bleibt in der Studie ungenannt, obgleich sie sind, die versuchen, die Vereinten Nationen zu zerstören, das Völkerrecht permanent missachten, die Nato von einem regionalen Verteidigungsbündnis in ein globales Kriegsbündnis unter US-Führung verwandelt haben, und die EU schwächen wollen, indem sie den Beitritt der Türkei verlangen. Darüber hinaus tun sie alles, damit der Euro scheitert, um ihn als zweite Weltleitwährung neben dem US-Dollar auszuschalten. Die völkerrechtswidrigen Kriege und Überfälle auf islamische Staaten seitens der USA werden völlig ausgeblendet. Dagegen werden Staaten als „Störer“ stigmatisiert, die sich, wenn auch nur mit bescheidenen Mitteln, gegen diese US-geführte westliche Aggression zur Wehr zu setzen versuchen. 

Wenn die deutsche Außenpolitik nicht auf ewig in einem „Vasallen“-Status verharren will, sollte sie mit anderen EU-Staaten einen kooperativen Weg in den internationalen Beziehungen einschlagen und sich vom aggressiv-konfrontativen US-Kurs abwenden. Werden Staaten wie Iran, Syrien, Venezuela, Kuba oder Nord Korea nur deshalb als „Störer“ bezeichnet, weil sie sich noch nicht der westlichen Eroberungsstrategie und seinen Drohgebärden unterworfen haben? Dass man gegen solche „Störer“ militärisch vorgehen müsse, daran lassen die Verfasser dieses so genannten Strategiepapiers keinen Zweifel. 

Der von den USA geführte Westen hat aber nach der Zerstörung von Afghanistan, Irak und Libyen keinerlei moralisches Recht, Länder, die sich ihm nicht unterwerfen wollen, als „Störer“ oder als „gescheiterte Staaten“ zu bezeichnen. Erst durch die US-Aggression sind diese Länder „gescheitert“. Nur durch die besonnene Haltung des russischen Präsidenten Vladimir Putin konnte ein bereits beschlossener Überfall Frankreichs und der USA auf Syrien verhindert werden. Das britische Parlament konnte dem immer kriegsbereiten britischen Premierminister gerade noch in letzter Minute Einhalt gebieten, nachdem das Land zuvor von Tony Blair, dem „Pudel Bushs“, aufgrund von Lügen in den Irakkrieg gezogen worden ist. All dies wird von diesen beiden „Think Tanks“ in ihrer Lageanalyse ausgeblendet. 

Die Studie bedient sich einer grotesken Terminologie, wie der Terminus „Störer“ bereits gezeigt hat. Weitere Termini sind „Mitstreiter“ und „Herausforderer“. Unter „Mitstreiter“ werden alle westlichen Staaten subsumiert, die sich an der US-geführten weltweiten Eroberungs- und Kriegsstrategie beteiligen. Nach Ansicht der Autoren sollte dies Deutschland in Zukunft auch uneingeschränkt tun und nicht - wie im Falle Libyen -, sich durch weise Enthaltung innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft isolieren.

„Herausforderer“ seien Staaten, die der Westen nicht als Vorbild einstufe, wie zum Beispiel Russland, China, Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien, Vietnam, Pakistan, Nigeria, Saudi-Arabien, Katar, Ägypten u. a. m. Gegenüber diesen solle eine umsichtige Strategie verfolgt werden, die auf Einbindung in internationale Organisationen wie dem IWF und der Weltbank abziele, um eine Blockbildung zu verhindern. Dass diese Länder weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, scheint den Verfassern hoffentlich bewusst gewesen zu sein. Da man auch gegenüber diesen Staaten nicht ohne Konfrontation auskommen werde, müsse sich Deutschland zusammen mit „Gleichgesinnten“ ggf. an deren Einhegung oder Einbindung beteiligen.

Die Verfasser nennen wohlfeile Prinzipien, die Deutschland außenpolitisch verfolgen sollte, wie zum Beispiel die Fortentwicklung der Internationalen Ordnung. Diese sollte sich an „den Grundwerten von Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und guten Regieren, demokratischer Partizipation, globaler sozialer Marktwirtschaft, nachhaltiger Entwicklung, Frieden und menschlicher Sicherheit orientieren“. Ob die USA ebenfalls diese Werte in ihrer Außenpolitik verfolgen, darf jedoch bezweifelt werden. Geht es ihnen nicht vielmehr um die aggressive Durchsetzung ihrer nationalen Interessen, die wenig gemein haben mit dem Wunschdenken deutscher Intellektuellen, wie Afghanistan deutlich gezeigt hat? Die Empfehlungen, die am Ende der einzelnen Kapitel gegeben werden, muten jedoch sehr idealistisch und teilweise weltfremd an, insbesondere, was die europapolitischen Empfehlungen angehen. So redet von GASP oder ESVP niemand mehr, geschweige denn von der „hohen Vertreterin“ für Außenpolitik als ein erstrebenswertes Ziel. Befindet sich nicht gerade die deutsch-französische Brigade in Auflösung?

Deutschland betreibt nach Ansicht der Autoren der Studie eine umfassende „Sicherheitsvorsorge“. In diesem Zusammenhang wird auf eine Gefahr hingewiesen, die angeblich aus „südlicher“ und „östlicher“ Nachbarschaft Europa drohe und die nicht nur inner- und zwischenstaatliche Konflikte, sondern auch die „Proliferation von Trägersystemen und Massenvernichtungswaffen“. Folglich gewinne der Aufbau eines Nato-Raketenabwehrschirms in Europa an Dringlichkeit. Handelt es sich bei der Beschreibung eines solchen Bedrohungsszenarios eventuell um Staaten wie Russland oder Israel, da keine anderen Länder der genannten Regionen weder über diese Trägersysteme noch über irgendwelche Massenvernichtungswaffen verfügen? Die Empfehlung der Studie an die Bundesregierung, einen jährlichen Bericht über die sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschlands vorzulegen, zielt eher darauf ab, die Anti-Kriegs-Stimmung in der deutschen Bevölkerung in eine Bereitschaft für militärische Abenteuer umzudeuten. Das Afghanistan-Desaster scheint den Verfassern der Studie noch nicht lehrreich genug zu sein. 

An diesem illustren Kreis nahm auch der Abgeordnete Stefan Liebich, von der Partei „Die Linke“, teil, wie die Tageszeitung jungeWelt meldete, und der nach eigenen Angaben häufig den einzigen "Kontrapunkt" bildete, an dem sich die anderen Teilnehmer/innen abarbeiten konnten. Seiner Ansicht nach spiegele das Papier „den Konsens, aber auch den Dissens der Diskussion wider“. Dissens scheint es aber nur in der Frage der „Anwendung militärischer Gewalt ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates“ gegeben zu haben. Konsens scheint dagegen in der Frage deutscher Kriegsführungsfähigkeit geherrscht zu haben. 

Als ein erstes Brainstorming mag diese Studie durchgehen. Als Grundlage für eine „Neuvermessung“ deutscher Außen- und Sicherheitspolitik taugt sie wenig, weil es ihr an politischem Realismus und realitätsnaher Analyse mangelt. Die Studie ist zu US- und Europa-zentriert. Weiterhin mangelt es ihr an Empathie für die politischen Interessen nicht-westlicher Staaten, das heißt, die Außenpolitik Deutschlands sollte bei der Interessenverfolgung deren Auswirkungen auf Drittstaaten antizipieren, wie es zum Beispiel im Falle Serbien nicht geschehen ist. Und die Autoren dieser Studie schließen Gewaltanwendung gegenüber andershandelnden Staaten als letztes Mittel nicht aus.

Zur Erstellung weiterer Entwürfe sollte das Gremium weniger stromlinienförmig besetzt werden, damit die Empfehlungen tatsächlich deutsche Interessen widerspiegeln. Oder stellt dieser Entwurf einen ersten Schritt dar, um Deutschland endlich fit zu machen, damit es sich an der Herstellung einer "supranationalen Souveränität" beteiligt, in der die Finanzoligarchie, wenige Intellektuelle als Stichwortgeber und eine winzige Machtelite das Sagen haben, ohne durch die Beteiligung des "störenden" Souveräns belästigt zu werden?