Mit keinem anderen Begriff verbinden die Menschen solch unterschiedliche Assoziation wie mit Israel. Zwei Theologen haben nun eine Standortbestimmung unter dem Titel „Israel Kontrovers“ vorgelegt, in der sie die Bedeutung Israels von der Antike, über das Mittelalter bis zur Gegenwart analysieren. Wie unterschiedlich die Israelvorstellungen sein können, zeigte der „Markt der Möglichkeiten“ auf dem Evangelischen Kirchentag 2003. Obgleich nicht repräsentativ und darüber hinaus mit vielen religiösen Vorurteilen behaftet, führen die Autoren 37 Assoziationen bei der Nennung des Begriffs „Israel“ auf.
Der Begriff „Israel“ bietet nach Ansicht der Autoren ein „verwirrendes, missbrauchbares und oft missbrauchtes Konglomerat von Bedeutungen: Staat, Land und Volk, Nation und Religion, hochheilig Mystisches und hart Politisches, Mythen, Fantasien und Ideologien, Vergangenes und Gegenwärtiges.“ Peter Bingel und Winfried Belz wollen nicht nur „Klärung und Orientierung“ in diesen Wirrwarr bringen, sondern der ganzen Debatte „mehr rationalen Grund und Boden“ verleihen. Ein solches Unterfangen tut in der Tat Not, betrachtet man die Mythen, die sich um Israel und seine Staatsideologie, den Zionismus, rankt. Die Bücher von Shlomo Sand haben bereits den ideologischen Firnis vom „jüdischen Volk“ und vom „Land (Eretz) Israel“ als Hirngespinste entlarvt. Selbst in seinem jüngsten Essay sagt sich der Autor vom Judentum los, weil er nur noch Israeli sein will, was aber das Oberste Gericht Israels in einem Urteil als Staatsbürgerschaftsbezeichnung untersagt hat.
Bingel/Belz sprechen vom „ersten, zweiten und dritten Judentum“, das sich über einen Zeitraum von dreitausend Jahren erstreckt und in dem die jüdische Gemeinschaft in den unterschiedlichsten Strukturen gelebt habe. In der Zeit des ersten Judentums bestehe eine „Einheit von Volksgemeinschaft/Ethnie und Religionsgemeinschaft“; sie hat ihr Zentrum in Palästina. Das zweite Judentum konstituiere sich aus der „Einheit von Volksgemeinschaft und Religionsgemeinschaft, ohne politischen und kultischen Mittelpunkt in Palästina“. Und das dritte Judentum bedeute „Trennung von Volks- und Religionsgemeinschaft, politisches, dann auch religiöses Zentrum im geographischen Palästina“. Dieser Abschnitt umfasst den Beginn von der zionistischen Einwanderung bis heute. Diese Zeitspanne bildet den Hauptteil des Buches.
Die Autoren machen im siebten Kapitel klar, dass die zionistische Ideologie die Ursache allen Übels in der Region sei. „Gerade mit ihrer Eretz-Israel-Mystik erweist sich die von der zionistischen Land-Ideologie bestimmte israelische Politik als gegen Völker- und Menschenrechte gerichtet.“ Die zionistische Landpolitik sei die Ursache und Quelle immer neuer Nahosttragödien. Die israelische „Macht und Unmoral“ spreche der anderen Seite ihre „naturgegebenen Heimatrechte“ ab.
Besonders aufschlussreich sind die Kapitel über die Haltung der diversen christlichen Denominationen zu Israel. Am schlechtesten schneidet das „evangelikale Christentum“ ab, gefolgt vom Protestantismus; am besten kommt noch die katholische Theologie weg. Die „Evangelikalen“ identifizieren sich vollständig mit der Politik des Staates Israel und „beten“ auch noch für dessen Unterdrückungspolitik, um einen Staat Palästina mit aller Macht zu verhindern. Es herrsche völlig Übereinstimmung zwischen „christlichem“ und „jüdischem“ Zionismus. Biblisch-alttestamentarisch gehöre das Land den Juden. „Als Menschen, die nicht einfach weichen wollen, als Widersacher des gotterwählten Volkes sind sie auch Feinde Gottes, eben des Gottes Israels, und als solche haben sie keinen Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung (…) Ein eigener Staat in Palästina für die nichtjüdischen Palästinenser muss aus ihrer Sicht auf jeden Fall verhindert werden.“
Die beiden Theologen gehen auch mit der Nach-Auschwitz-Theologie des Protestantismus hart ins Gericht. Diese halten sie nicht nur für blind gegenüber den Rechten der Palästinenser, sondern attestieren ihr auch eine „ethische Verantwortungslosigkeit“, weil in dieser Art „Theologie“ nirgends der „jüdische Staat“ als „Subjekt politisch-ethischer Verantwortung“ aufscheine. Diese völlig undifferenzierte Begrifflichkeit, die sich in der Nach-Auschwitz-Theologie vom „biblischen Israel“, „jüdischen Volk“, dem „Jahwebund ausgezeichneten Volk“ bis hin zum gegenwärtigen Besatzungsregime erstreckt, taugt nicht für „realitätsgerechte Überlegungen und Aussagen“.
Die Berufstheologen und die von Berufs wegen im christlich-jüdischen Dialog befangenen Funktionäre scheinen es nicht wahrhaben wollen, das ihre theologisch verbrämte Israelvorstellung nichts, aber auch gar nichts mit dem Staat Israel zu tun hat, der ein Produkt des zionistischen Nationalismus ist, der sich über die Jahrzehnte hinweg jedoch zu einem extremistischen jüdischen Nationalismus entwickelt hat. Den Berufs-Dialogikern schreiben die Autoren Folgendes ins Stammbuch: „Weil das jüdische Volk unserer Tage keine religiöse Gemeinschaft ist und weil es als Ethnie, als Nation keine eigene religiöse Bedeutung und Würde hat, kann es im Rahmen der Völker der Welt keine spezielle, etwa auf Religion beruhende Rücksichtnahme und keine besonderen Vorteile in Anspruch nehmen.“
Die Autoren kommen abschließend noch auf das „andere Judentum“ zurück, das „Israel der universalethisch orientierten Juden“. Ob das genannte Dutzend „ethisch orientierter Juden“ etwas gegen die Übermacht der zionistischen Ideologie und deren Unterstützer in den USA und Europa ausrichten kann, darf bezweifelt werden. Solange die Legende von der „Wertegemeinschaft“ zwischen Israel und dem Westen durch die Köpfe von Politikern, christlichen Funktionären und Bildungseinrichtungen geistert, wird sich im Nahen Osten wenig ändern.
Mit „Israel Kontrovers“ ist es den Autoren gelungen, die religiösen Mystifizierungen, die sich um Israel ranken, etwas zu lichten. Insbesondere wurden die Verantwortlichkeiten der „Christen“ ins rechte Licht gerückt, die nicht nur wesentlich mitbestimmend bei der Unterstützung der Gründung des Staates Israel waren, sondern auch für die Perpetuierung der seit 46 Jahren andauernden Besatzungsherrschaft und Unterdrückung eines anderen Volkes. Das Buch könnte eine gute Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der blauäugigen Israel-Bewunderung der christlichen Denominationen bilden.