Die wirklich langfristige Gefahr für die Existenz des Staates Israel geht nicht von den Palästinensern aus, wie dies kürzlich der Chef des Mossad, Tamir Pardo, behauptete, sondern von den rechtgläubigen, orthodoxen Juden, für die der Zionismus, obgleich politisch relativ erfolgreich, eine Häresie am Judentum darstellt. Für die Aufarbeitung dieses Themas gibt es keinen kompetenteren Kenner als Yakov Rabkin, Professor für Geschichte, Jüdische Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte an der Universität von Montreal.
Wie bedeutsam die existentielle Gefahr für den Staat Israel von innen immer noch ist, hat der Autor in dem Buch „
A Threat from Within: A Century of Jewish Opposition to Zionism“ überzeugend dargestellt. Trotz Stigmatisierung jeglicher Kritik an der Politik des Staates Israel als „Antisemitismus“ oder „jüdischer Selbsthass“ hat der jüdische Widerstand gegen den Zionismus eine bemerkenswerte Ausdauer erwiesen. Wie es scheint, wird dieser Widerstand solange andauern, wie das „zionistische Unternehmen“ (Zionist Enterprise) im „Heiligen Land“ andauert. Ob die Werte des Judentums wie „Frieden“ oder „friedlicher Ausgleich mit den Nachbarstaaten“ gegenüber zionistischen „Werten“ wie „Eroberung“, „Unterdrückung“ und „Militarismus“ obsiegen werden, bleibt eine offene Frage.
Anknüpfend an frühere Überlegungen geht der Autor in seinem jüngsten Werk den Fragen nach, wie der Staat Israel zu verstehen ist. Liegen seine Wurzeln in der Bibel, in der Geschichte des Russischen Reiches, im europäischen Antisemitismus oder in den Gräueltaten des NS-Völkermords? Obgleich eine übermächtige Regionalmacht mit Atomraketen, ist Israels Legitimität innerhalb der Judenheit bis heute umstritten. Rabkin zeigt den Lesern/innen die Widersprüche und den tiefen Bruch auf, den der Zionismus in der jüdischen Tradition verursacht hat. Ein Staat, dessen politische Elite sich weigert, dessen Grenzen zu definieren, sich um die Achtung des Völkerrechts nicht kümmert, dessen Fundament auf der Vertreibung Hunderttausender beruht und allen Juden auf der Welt gehören soll, hat in der Tat ein Legitimitätsproblem jenseits der Kontroverse zwischen Zionismus und Judentum. Alle diese Probleme werden vom Autor kritisch unter die Lupe genommen.
In neun Kapitel untersucht der Autor die Grundlagen und das Selbstverständnis des Staates Israel. In der Einleitung benennt Rabkin die zentralen Probleme des Landes: So werfen die Entstehung und die Legitimität Israels in der zionistischen Ideologie grundlegende Fragen nach der Gleichheit vor dem Recht und der politischen Rationalität auf. Charakteristisch sei weiterhin, dass es Israels politische Klasse bis heute vermieden habe, die Grenzen des Staates zu definieren. „Die territoriale Expansion ist seither ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte des Landes.“ Die kontinuierliche Kolonisierung werde u. a. mit dem zionistischen Prinzip der „getrennten Entwicklung“ begründet, dem auch der
Jüdische Nationalfonds“ (JNF) folge, der im „Namen des Jüdischen Volkes“ handele.
Der Autor weist weiterhin auf die enorme wirtschaftliche Leistungskraft und die Prosperität Israels im Gegensatz zu seinen arabischen Nachbarstaaten hin, von der Kluft zwischen den Palästinensern in den besetzten Gebieten oder den arabischen Israelis ganz zu schweigen, die Bürger zweiter Klasse sind. Hinzu komme „ein leistungsfähiger militärisch-industrieller Komplex, der anspruchsvolle nukleare und konventionelle Waffen produziert, um sicherzustellen, dass keine Armee oder eine Koalition von Armeen glaubwürdig eine Bedrohung für Israels beherrschende Stellung in der Region“ darstellen könne. Trotz aller Menschenrechts- und Völkerrechtsverstöße könne sich Israel auf die „unerschütterliche Unterstützung“ der westlichen Politeliten verlassen, was sich auch darin zeige, dass Israel trotz des Massakers 2008/09 an der Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens, bei dem zirka 1 400 Zivilisten ums Leben kamen, in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen worden sei.
Darüber hinaus verleihe Israels Selbstdefinition als eines „jüdischen Staates“ eine erneute Legitimität von der Vorstellung einer „ethnischen Exklusivität“, die im Widerspruch zur Logik der Entkolonialisierung stehe, aber dabei eine erneute Rechtfertigung für die westlichen Mächte liefere, die Region wieder zu kolonisieren. Israels Stilisierung „als Bollwerk des Westens gegen eine vermeintliche Bedrohung durch den Islam“ sichere dem Land zusätzliche Unterstützung. Gegenüber dem Schutz westlicher Interessen sei „die Schuld über den Nazi-Völkermord“ als ein Grund für die bedingungslose Unterstützung israelischer Politik durch den Westen dagegen in den Hintergrund getreten.
Yakov Rabkin betont auch die zentrale Rolle des Nationalismus für die Gründung Israels. „Der Nationalismus, der Israel geschaffen hat, ist europäisch, erzeugt durch die Europäer, um die ´Judenfrage` zu lösen, die ein europäisches Problem war.“ Der Autor untersucht die Haltung der konservativen Protestanten in Großbritannien und den USA, die gewisse Passagen der Briefe des Apostel Paulus an die Römer dahingehend interpretierten, um die „die Hebräer“ in Palästina „einzusammeln“. Diese Interpretation beeinflusste besonders stark die Haltung in denjenigen englischsprachigen Ländern mit einer starken antisemitischen Neigung, die ihre jüdischen Mitbürger los werden wollten. Diese Haltung widerspiegelte sich auch in Balfour-Erklärung.
Neben den „traumatischen Erinnerungen“ an die Pogrome im zaristischen Russland, bestimme der Völkermord der Nazis, der von „Europäern an Europäern“ verübt worden sei, das Schicksal Palästinas bis heute. „Die Gewalt, die die Region seit mehr als einem Jahrhundert heimgesucht hat, ist in der kollektiven Erinnerung der jüdischen Opferrolle in Europa verwurzelt.“ Der Zusammenbruch von vier europäischen Imperien nach dem ersten Weltkrieg habe die nationalistischen Gefühle verstärkt, so der Autor. Im Zuge der Gründung neuer Nationalstaaten im Osten Europas sahen die Briten in der Förderung einer „Jüdischen Heimstätte in Palästina“ sogar die Möglichkeit, ihr Imperium auszudehnen. „In diesem Sinne kann der Zionismus als eine Variante des europäischen Kolonialismus gesehen werden.“
Der Autor vertritt eine provokante These; salopp formuliert, lautet sie: Bevor der Zionismus jüdisch wurde, war er christlich! Die Konzentration von Juden im „Heiligen Land“ geisterte in den Köpfen von Christen in Europa herum, um die Ankunft des „Messias“ zu beschleunigen. Diese Tatsache erklärt, warum die Unterstützung des Zionismus durch Christen in den USA und unter evangelikalen Gruppen so groß ist. Während spirituell das „Land Israel“ zentral für die jüdische Tradition sei, warnt dieselbe Tradition auch gegen jede Massenmigration, geschweige denn, die Anwendung von Gewalt, um sie zu erreichen, bevor der Ankunft des Messias. Die gewaltsame Gründung eines jüdischen Staates durch den Zionismus bedeutete einen scharfen Bruch mit der jüdischen Tradition und Kontinuität, schreibt Rabkin.
Abschließend sei noch eine bizarre Petitesse am Rande erwähnt. Sie zeigt, wie zionistische Ideologen partout eine Verbindung zwischen ihrer völkerrechtswidrigen Kolonisierung und ihren „historischen“ Ansprüchen auf Palästina herleiten wollen. Rabkin erwähnt zu Recht immer wieder die historische Verbundenheit zwischen dem Judentum und dem „Heiligen Land“. Aber was die zionistische Ideologie daraus gemacht hat, ist politisches Mimikry. So versuchte Israels Ministerpräsident Benyamin Netanyahu in einer Rede vor dem US-amerikanischen Kongress den Abgeordneten den zionistischen Anspruch auf Palästina dadurch weißzumachen, indem er ihnen einen antiken Ring präsentierte, auf dem die Inschrift „Netanyahu“ zu lesen gewesen sein soll. „Das ist mein Name“, und er schlussfolgerte daraus, „dass die Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel nicht mehr geleugnet werden kann“. Dass die US-Abgeordneten bei dieser Klein-Fritzchen-Logik aus dem Häuschen waren, ist verständlich. Netanyahu vergaß jedoch, den Abgeordneten zu erzählen, dass der wirkliche Name seiner Eltern „Mileikowsky” war, bevor er hebräisiert worden ist!
Mit diesem Buch wird den Lesern eine nicht-zionistische, sprich jüdische Lesart der komplexen israelischen Geschichte geboten. Es sollte Pflichtlektüre für jeden sein, der in den internationalen Beziehungen, dem israelisch-palästinensischen Konflikt, den Beziehung zwischen Politik und Religion sowie Identitätsfragen mitreden möchte. Eine Übersetzung ins Deutsche ist dringend geboten, damit auch die deutschen Leser und Leserinnen auf der Höhe der Zeit sind und erfahren, wie über die mit Israel zusammenhängen Fragen anspruchsvoll und ohne „Denkbarrieren“ diskutiert und gedacht wird. Rabkins Darstellung hebt sich positiv von den unzähligen nationalistischen Geschichtsversionen seiner zionistischen Kollegen ab. Er möchte zeigen, dass es sich beim Staat Israel um einen modernen und ganz normalen Nationalstaat handelt, dessen Regierung an ihren Taten und Worte gemessen werden sollte und nicht aufgrund von „biblischen Geschichten“ oder sonstigen historischen und intellektuellen Traumbildern.
Erstveröffentlichung
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Erschienen
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