Der "Islamische Staat" (IS) ist keine bewaffnete Organisation wie Al-Kaida oder die Taliban, sondern ein Staat mit einem Territorium, so eine zentrale These von Loretta Napoleoni. Der IS ist die erste Organisation, die sich in einen Staat verwandelt habe. Der IS-Staat sei zwar ein "Terror-Staat", gleichwohl existiere er und verhalte sich wie ein "politisches Gebilde", das nicht von Psychopathen, sondern von Politikern geführt werde. Terror werde als Mittel zum Zweck eingesetzt, auf das der Westen reagieren müsse.
Den IS zu bombardieren, sei nicht die Lösung, sondern man müsse die "Verführung" bekämpfen. Der IS sendet zwei Botschaften aus: Terror für den Westen und Hoffnung für die Muslime. Die Legitimität aller 57 Staaten, in denen größtenteils Muslime leben, wird durch die Neugründung des 1258 untergegangenen Kalifats in Frage gestellt.
Der Erfolg des IS liege in der Neuordnung des Nahen Ostens. Sie besiegelt das Ende einer fast hundertjährigen Demütigung. Diese begann 1916 mit dem Betrug der Araber durch das Skyes-Picot-Abkommen, in dem die Araber von den westlichen Kolonialmächten - Frankreich und Großbritannien - für ihren Kampf gegen das Osmanische Reich betrogen worden sind. Sie erhielten nicht ihren Staat, sondern das versprochene Territorium wurde in künstliche Einzelstaaten aufgeteilt mach dem Motto: devide et impera.
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg und die Attraktivität des IS gerade unter westeuropäischen Muslimen liege darin, dass der IS diese koloniale Weltordnung für obsolet erklärt habe. Der IS vermittele den marginalisierten Muslimen des Westens ein Gefühl der Zugehörigkeit. Er verspreche ein besseres Leben, und zwar in dieser Welt und nicht wie Al-Kaida erst im Paradies.
Der Westen müsse aufhören zu denken, dass sein Lebensentwurf das non plus Ultra sei. George W. Bushs Diktum, dass die "Terroristen" die westlichen Werte und den Lebensstil hassten, war schon immer falsch. So denkt nur Klein Fritzchen. Der Westen habe durch seine Eroberungsfeldzüge die Strukturen dieser Länder zerschlagen und über Jahrzehnte korrupte Regime unterstützt. Der Irakkrieg habe die Büchse der Pandora geöffnet. Das Desaster für den Westen begann mit dem US-amerikanischen Überfall auf Afghanistan und Irak.
Napoleoni beschreibt die Entwicklung von Al-Tawhid wal-Jihad, einer Bewegung für "Monotheismus und Heiligem Krieg" von Abu Musab al-Zarqawi bis zur Ausrufung des "Islamischen Staates in Irak" durch Abu Bakr al-Baghdadi.
Nachdem die USA im Zuge des so genannten Arabischen Frühlings den Aufstand gegen Bashar al-Assad angezettelt hatten, wuchs sich dieser zu einem Bürgerkrieg aus, dessen Hauptprofiteur der IS wurde, der massiv von Saudi-Arabien und Katar unterstützt wurde. Nach Napoleoni war al-Baghdadi ursprünglich nicht daran interessiert Al-Assad zu bekämpfen, sondern nur an der Gründung eines Embryos - des Kalifats. Durch das Zusammengehen mit der Al-Nusra-Front entstand endgültig ISIS, ISIL oder kurz der IS.
Der IS verhalte sich nicht wie die Taliban, indem er die Menschen unterdrücke, sondern strebe eine große Homogenität seiner Bürger an, die Sunniten, insbesondere Salafisten sein sollten. Schiiten erhalten die Möglichkeit der Konversion. Verweigert sie sich dieser, müsse man eine Steuer bezahlen und das Land verlassen, oder man werde getötet. In diesem homogenen Staat gelte die Scharia, die "Recht und Gesetz" in Gebiete brachte, in denen Anarchie geherrscht habe. Der IS bringe Normalität ins Leben der Menschen in dem von ihm kontrollierten Territorium. Im Westen sehe man nur das barbarische Gesicht des IS, das abernur einen Teil der Realität widerspiegele.
Die Autorin stellt sich die Frage, warum sich so viele westeuropäische oder sogar US-amerikanische Muslime dem Kampf des IS anschließen? Die Idee von der Schaffung eines Staates für jeden Muslim nimmt plötzlich Gestalt an. Bei der Aufforderung des IS handele es sich um einen "patriotischen Aufruf" an die Muslime in der Welt. Der IS verspricht Befreiung von jahrhundertealter Unterdrückung, Erniedrigung und Kolonisation. Dies mache die Verlockung und Anziehungskraft des IS aus. Er stelle alles andere als eine rückwärtsgewandte Entität dar.
Mit dem westlichen Bombardement wird in Syrien und Irak nichts besser, sondern die Situation wird sich verschlechtern. Der IS ist kein "Terrorstaat", wie ihn westliche Politiker und die Medien karikieren. 15 Jahre Afghanistan-Krieg sollten eigentlich zur Nachdenklichkeit anregen. Der IS ist von einem anderen Kaliber als die Taliban. Und mit Smartphone-Revolutionen ist bisher noch kein Staat gegründet worden. Aber wie es scheint, haben die Nadelstreifen-Dandys der Politik aus dem von ihnen verursachten Desaster in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen nichts gelernt. Sie sollten ihre Bomben einpacken, abziehen und den diplomatischen Weg beschreiten. Dafür plädiert Loretta Napoleoni in ihrem ausgezeichneten, nachdenklichen und überaus lesenswerten Buch.
Erschienen hier.