Sonntag, 26. Dezember 2010

Fatwas in Nadelstreifen und Designer-Kostümen

Als vor über 20 Jahren Ayatollah Khomeini eine Fatwa gegen den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie erließ, in der er zu seiner Tötung aufgerufen hatte, weil er in seinem Roman „Die Satanischen Verse“ angeblich den Koran, den Islam und dessen Propheten Mohammad beleidigt haben soll, kam es zu Recht zu einem weltweiten Aufschrei der Empörung.

Die Zeiten haben sich geändert. Diese Methode, öffentlich zur Liquidierung Andersdenkender aufzurufen, hat nun auch Einzug in das Denken des „aufgeklärten“ Westens gehalten. Wie so oft in den letzten 60 Jahren kommt auch dies u. a. aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Mal richtet sich der „Mordaufruf“ gegen Julian Assange, den Gründer der Website „WikiLeaks“. Das einzige „Verbrechen“, das Assange begangen hat, besteht in der Veröffentlichung unzähliger Dokumente, die zeigen, wie undemokratisch, kriminell und menschenverachtend nicht nur die US-amerikanische Kriegspolitik in Iraq und Afghanistan ist, sondern auch wie doppelzüngig die US-amerikanische Diplomatie arbeitet und welche geringschätzige, ja verächtliche Meinung die Vertreter des US-Imperiums über fast alle Regierungsvertreter der Welt haben. Das US-Department of State wies sogar seine Diplomaten an, die Vertreter der Mitgliedstaaten der UNO, inklusive des UN-Generalsekretärs und der permanenten Mitglieder des US-Sicherheitsrates auszuspionieren. Von dem Tratsch und Klatsch in den US-Depeschen gar nicht zu reden. Die Veröffentlichung des Videos, auf dem live die willkürliche Hinrichtung von Unschuldigen im Irak durch einen Apache-Kampfhelikopter zu sehen war, scheint nur ein kleiner Ausschnitt der brutalen Besatzungsrealität im Irak widerzuspiegeln.

Seither geht das US-Imperium mit ganzer Macht gegen den „benign whistleblower“ Assange vor. Man versucht, Gesetze zu konstruieren oder so zu beugen, dass man ihm in den USA einen Prozess wegen Spionage machen kann. Damit aber noch nicht genug. Bekannte politische Figuren des US-Establishments wie der mögliche republikanische Präsidentschaftsbewerber für 2012, Mike Huckabee, erklärte: "Whoever in our government leaked that information is guilty of treason, and I think anything less than execution is too kind a penalty." Und eine weitere potenzielle Kandidatin für den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlkampf und ehemalige Kandidatin für den Posten des US-Vizepräsidenten im Wahlkampf 2008, Sarah Palin, rief dazu auf, Assange „zur Strecke zu bringen“ (hunted down). Und auf Facebook erklärte sie: „"He is an anti-American operative with blood on his hands. His past posting of classified documents revealed the identity of more than 100 Afghan sources to the Taleban. Why was he not pursued with the same urgency we pursue Al-Qaeda and Taleban leaders?" Dagegen hat das US-Verteidigungsministerium bestätigt, dass kein Menschenleben durch die Veröffentlichungen von WikiLeaks in Gefahr gebracht worden sei. Es ist kaum auszudenken, wenn einer dieser beiden der nächste US-Präsident/in werden sollte. Der politischen Irrationalität schiene Tür und Tor geöffnet.

Der Aufruf zur Vernichtung von Assange scheint kein ausschließlich US-amerikanisches Phänomen zu sein, aber doch ein nordamerikanisches. So rief ein enger Berater des kanadischen Ministerpräsidenten Stephen Harper, Tom Flanagan, im kanadischen Fernsehsender CBC öffentlich zur Ermordung von Assange auf: "I think Assange should be assassinated, actually. I think Obama should put out a contract and maybe use a drone or something. I wouldn't feel unhappy if Assange does disappear."

Ein Aufschrei der Empörung über diese Mordaufrufe war in der westlich-demokratischen Medienöffentlichkeit nirgendwo zu vernehmen. Liegt es daran, dass die neuen Fatwas nicht mehr mit Turban daherkommen, sondern in Nadelstreifen und Designer-Kostümen? In jedem gut-funktionierenden Rechtsstaat würde der- oder diejenige, die öffentlich zur Ermordung eines anderen Menschen aufruft, angeklagt werden. Aber das US-Imperium hat spätestens seit 9/11 den rechtsstaatlichen Pfad verlassen. Zahlreiche Kritiker in den USA attestieren ihrem eigenen Land, sich mit Siebenmeilenstiefeln auf einen „Polizeistaat“ zuzubewegen. Er scheint aber schon längst etabliert zu sein, wenn man den gigantomanischen Aufwand an Kontrolle und Überwachung der US-Bürger und den Ausbau des Sicherheitsapparates betrachtet. Das pikante daran ist, dass dies unter dem ersten nicht-weißen Präsidenten Barack Hussein Obama und ehemaligen „Law-Professer“ weiter geschieht, der durch seine blendende Rhetorik und dem Slogan „Change, yes we can“, eine radikale Abkehr von der verheerenden achtjährigen Präsidentschaft George W. Bushs angekündigt hatte. Geblieben ist nur heiße Luft, und es ist alles nur noch schlimmer geworden.