Donnerstag, 30. Dezember 2010

Wider die Einstaatenlösung als Dogma

Als ich am 24. Dezember 2010 die emotionsgeladene Stellungnahme von Attia und Verena Rajab gegen meinen Beitrag „Ein- oder Zweistaatenlösung für Palästina?" auf der Website „Palästina-Portal“ gelesen hatte, habe ich eine kurze Erwiderung verfasst, weil ich es unter meinem Niveau empfinde, mich mit einem solch indiskutablen Text auseinanderzusetzen. Dieser Text erschien dann tatsächlich noch einmal in der Online-Zeitung „Neue Rheinische Zeitung“ vom 29. Dezember 2010. Die Rajabs arbeiten nicht nur mit falschen Tatsachenbehauptungen, sondern auch mit hanebüchenen politischen Unterstellungen, durch die man versucht, mich zu diskreditieren oder einen Keil zwischen die seriösen Kritiker dieser als Dogma daherkommenden Ein-Staaten-Utopie zu treiben.

Ich habe die Erklärung auch kritisiert, weil sie eine politisch-schädliche und unnütze Verbindung zwischen einer sinnvollen Kampagne (BDS) und einer utopischen politischen Forderung hergestellt hat, und zwar der „Einstaatenlösung“ als „Königsweg“ zur Lösung des Nahostkonflikts. Diese Utopie wird mittlerweile als das Non plus Ultra mit Zähnen und Klauen verteidigt, obwohl den in Stuttgart versammelten Aktivisten/Innen hätte klar sein müssen, das kein einziger Mitgliedstaat der UNO diese Utopie unterstützt, weil alle UN-Resolutionen auf die Schaffung eines souveränen Staates Palästina neben Israel abzielen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es zwei „Stuttgarter Erklärungen“ gibt, die erste datiert vom 6. Dezember, die andere vom 10. Dezember; sie liegt jetzt zur Unterzeichnung im Cyberspace aus. In der Erklärung vom 6. Dezember, die nur einige Tage online stand, finden sich sehr interessante, fragwürdige Formulierungen, die mich stutzig gemacht haben, und die ein schales Licht auf die vermutlich wirklichen Motive der Veranstalter werfen.

So heißt es in der Erklärung vom 6. Dezember: „Jeder muss ohne Zeitverzögerung alles unternehmen, was in seiner Macht steht. Wir dürfen nicht darauf warten, dass Israel von sich aus kollabiert.“

Politisch weißgewaschen erscheint diese Passage in der Erklärung vom 10. Dezember wie folgt: „Es ist höchste Zeit(,) Druck auf Israel auszuüben. Das zionistische System Israels wird nicht von sich aus die Rechte der PalästinenserInnen anerkennen.“

Und weiter steht in der Erklärung vom 6. Dezember: Und was soll getan werden, um Unrechtsstrukturen und die Isolierung der Unterdrückten zu durchbrechen: „Wir werden mit einer weiteren Freedom Flotilla und einer Flut von Aktionen zu Land und zu Wasser die Mauern und Blockaden um Gaza und die Westbank einreißen und überrennen.“

Realistischer dazu in der Erklärung vom 10. Dezember: „Die KonferenzteilnehmerInnen setzen sich dafür ein, dass weitere Freedom Flotillas und massive Aktionen zu Land und zu Wasser Blockade und Besatzung Gazas und der Westbank beenden.“

Folgender Schlussabsatz in der Erklärung vom 6. Dezember fehlt in der vom 10. Dezember: „Insbesondere wir Deutschen haben die Pflicht, Stellung zu beziehen. Deutschland hat eine Mitschuld an dem, was den Palästinensern/Innen angetan wurde als Folge deutscher Geschichte. Gerade die deutsche Vergangenheit fordert von uns ein besonders hohes Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Menschenrechten und wenn es um Vertreibungen und ethnische Säuberung geht.“

Diese typisch deutsche Behauptung entbehrt jeglicher historischer Grundlage, weil es bei der Debatte in der UNO im Zusammenhang mit der Teilungsresolution nicht um die deutschen Verbrechen am europäischen Judentum gegangen ist. Selbst von zionistischer Seite wurden nicht die Verbrechen des Holocausts als „unterstützendes“ Argument für die Gründung eines jüdischen Staates in die Debatte eingeführt. Das Ziel der Zionisten war, einen jüdischen Staat auf der Grundlage des „public law“ zu gründen, d. h., Israel wäre auch ohne die Katastrophe des Holocaust gegründet worden. Die einzige Macht, die die Gründung eines Staates für das jüdische Volk aufgrund des Holocaust und des Versagens des Westens, einen solchen nicht verhindert zu haben, gefordert hat, war die Sowjetunion in der Person ihres UN-Vertreters Andrej Gromyko, des späteren sowjetischen Außenministers.

Die weiteren impertinenten Unterstellungen mir und den anderen Kritiker/Innen gegenüber sind keines Kommentares, geschweige denn eines rationalen Gegenargumentes wert. Ich habe an keiner Stelle meines Beitrages das Begriffspaar „Spaltung und Sektierertum“ verwendet. Dies hatte ich aber bereits am 24. Dezember richtiggestellt. Es ist auch frappierend, wie leichtfertig die Autoren/in mit dem Begriff „Apartheid-Staat Israel“ um sich werfen. Auch da bedarf es der Differenzierung zwischen der ehemaligen Apartheid in Südafrika und einer „Israeli Apartheid“, wie das der britische Journalist Ben White in seinem gleichnamigen Buch getan hat.

Die beiden Autoren/In versuchen einen Satz der Schirmfrau dieser Konferenz, Felicia Langer, gegen meine Kritik in Stellung zu bringen, weil ich ihren Satz angeblich verdreht und den letzten Halbsatz, „die Hoffnung bleibt“, nicht zitiert habe. Jetzt zu behaupten, sie habe sich nicht völlig gegen die Einstaatenlösung ausgesprochen, scheint nur ihrer Höflichkeit geschuldet gewesen zu sein. Wie peinlich wäre es gewesen, wenn sie öffentlich die Veranstalter und die anderen Redner desavouiert hätte? Wer dies von Felicia Langer erwartet hätte, kennt sie nicht wirklich.

In meinem bereits zitierten Interview vom 24. Dezember hat sie eindeutig gegen die Stuttgarter-Erklärung Stellung genommen. In diesem Interview hat sie aber weiter gesagt: „Ich habe mich beleidigt gefühlt, weil man die Zweistaatenlösung als eine dogmatische bezeichnet hat.“ Liest man ihre ganze Rede, dann steht der Satz „Die Ein-Staat-Lösung, die hier vorgestellt wird, hat wunderschöne Eigenschaften, ich fürchte aber, dass sie unrealistisch ist; aber die Hoffnung bleibt“, völlig singulär dar und kann nicht als eine Unterstützung für diese Utopie in Anspruch genommen werden. Welchen Sinne ergibt dann der folgende Satz: „Ich habe doch noch in Erinnerung, dass eine Million französische Siedler Algerien verlassen haben.“ Wer Frau Langer versucht, für die Utopie einer Einstaatenlösung zu vereinnahmen, handelt nicht nur wider den Geist ihrer Rede, sondern auch zutiefst unredlich. Der Halbsatz, „die Hoffnung bleibt“, könne sowohl für die Ein- als auch Zweistaatenlösung herhalten. „In Tausenden von Vorträgen habe ich über eine Zweistaatenlösung gesprochen, weil eine andere Lösung jenseits meines Vorstellungsvermögens gelegen hat“, erklärte sie weiter in dem Interview. Die Einstaatenlösung sei nicht realistisch, und als “Israelin und Deutsche kann ich nicht für die Auslöschung Israels sein, gleichwohl ich das ethnozentrische System ablehne. Israel muss sich demokratisieren und entzionisieren und ein Staat aller seiner Bewohner werden. Daneben sollte es einen demokratischen Staat Palästina geben, der frei von israelischer Besatzung ist. Ob sich beide Staaten in Zukunft einmal vereinigen oder in einer noch größeren Konföderation aufgehen, kann nur die Zukunft zeigen.“

Die Autoren/In erwecken den Eindruck, als sei die Einstaatenlösung eine Idee, die von einer Massenbewegung getragen sei; dies ist jedoch nicht so. Mich erinnert dies an die 1980er Jahre als im Nachrüstungsstreit Teile der SPD meinten, ihre Parteitagsbeschlüsse hätten irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun oder könnten diese verändern. Dieser Hybris schrieb Hans Apel Folgendes ins Stammbuch: "Schließlich ist die SPD ja nicht die dritte Weltmacht."

Und noch eine abschließende Bemerkung: Meine Behauptung, dass sich in Israel vielleicht ein Dutzend (=12 Personen) für eine Einstaatenlösung aussprechen, ist bisher noch untertroffen worden. Tatsache ist: von 834 Unterzeichner/Innen (Stand 30.12., 21.22 Uhr) sind gerade einmal sechs, die als Heimatland „Israel“ angegeben haben. Uri Davis hat Palästina, Jeff Halper hat Palästina/Israel und Ilan Pappé hat United Kingdom als Heimatstaat eingetragen. Zum Dutzend fehlen also noch sechs „waschechte“ Israelis, die sich zu ihrem Heimatland Israel bekennen.

Die internationale Solidaritätsbewegung sollte sich nicht grundlos spalten und schwächen, sondern ihre Aktionen so abstimmen und einsetzen, dass sie den größten Nutzen für die Befreiung des palästinensischen Volkes von israelischer Besatzungsherrschaft bewirken. Darauf richtet sich auch primär die BDS-Kampagne. Die zweite Stoßrichtung muss auf die Wandlung Israels von einer „Ethnokratie“ hin zu einer Demokratie im westlichen Verständnis abzielen. Dass dabei der zionistischen Ideologie das Hauptaugenmerk zu gelten hat, bedarf für Kenner keiner Diskussion. Das größte Hindernis für die Lösung des Nahostkonflikts stellt die Ideologie des Zionismus dar. Ohne eine „Entzionisierung“ Israels, wie es Michel Warschawski genannt hat, wird das Land kein Staat aller seiner Bewohner werden können. Erst wenn dieses Ziel erreicht sein wird, kann auch der Nahostkonflikt gelöst werden. Für kluge und weitsichtige Israelis ist es klar, dass Israel keine Zukunft als „jüdischer und demokratischer“ Staat haben wird. Die zionistische israelische politische Elite muss sich zwischen „jüdisch“ oder „demokratisch“ entscheiden. Stimmen, die fordern, dass Fatah und Hamas die besetzten Gebiete wieder der alleinigen Verantwortung der israelischen Besatzer übergeben sollten, um dann zu hoffen, sie könnten aufgrund einer palästinensischen Mehrheit die Forderung „One man, one vote“ durchsetzen, geben sich politischen Illusionen über die Resistenz der zionistischen Ideologie hin. Um politische Veränderungen in Israel zu bewirken, bedarf es einer Mehrheit der israelischen Staatsbürger und massiven Drucks der internationalen Staatengemeinschaft.

Bei der bereits auf Hochtouren laufenden Verleumdungskampagne der „Israellobby“ in Verbindung mit der israelischen Regierung gegen so genannte Israelkritiker ist die Konzentration aller pro-palästinensischen Kräfte angesagt und nicht der Streit über eine politische Utopie. Sollte sich die Solidaritätsbewegung darüber spalten, wäre dies politischer Selbstmord.