Freitag, 2. März 2012

Sari Nusseibeh, Ein Staat für Palästina?

„Bei den Palästinensern gibt es möglicherweise eine noch tiefere kulturelle oder religiöse Disposition, der Realität des Todes eine so große Rolle zuzuschreiben, dass er dem Leben gleichwertig ist oder sogar noch einen weitaus höheren Wert hat.“ (161) Hätte dies nicht auch von Benny Morris oder Thomas Friedman stammen können? Dies schreibt aber Sari Nusseibeh, Professor für Philosophie und Präsident der Al-Quds-Universität in Ost-Jerusalem, in seinem jüngst erschienen Buch, das er an der Harvard Universität geschrieben hat.

Als ein „Gedankenexperiment“, um über den unüberwindbaren Status quo hinauszugelangen, schlägt der Autor vor, dass „Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Israel akzeptiert, dass dieser Staat jüdisch bleibt und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten. Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational, und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt.“ (17) Die vollen Bürgerrechte, wenn auch ohne aktives und passives Wahlrecht, wären die beste Option. Man könnte den Palästinensern somit nicht vorwerfen, sie hätten die „Jüdischkeit“ Israels „verwässert“ oder gar „besudelt“. Unter solchen Bedingungen würde es ihnen weitaus besser gehen als in den 45 Jahren israelischer Okkupation, schreibt der Autor. Wozu brauchen die Palästinenser einen eigenen Staat, wenn ihnen Israel die bürgerlichen Rechte gewährt und ihre Menschenrechte achten, fragt Nusseibeh.

Wie es sich für einen Professor für Philosophie gehört, ist das Buch stark durch philosophische Ausführungen überfrachtet. Er bringt das Individuum in Stellung gegen das „metabiologische Wesen“ oder die „metabiologische Identifikation“, die durch Stereotype wie „die Hamas“, „die Palästinenser“, „„der Zionismus“, „die Israelis“, „die Siedler“ etc.zum Ausdruck kommen. Stark beeindruckt ist der Autor von der gewaltlosen Strategie eines Gandhis, und er stellt philosophische Betrachtungen über „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, “Gewalt“,, „Vernunft“, „Werte“ und „Glaube“ an. „Man kann sagen, dass nicht Gewalt oder Vernunft, sondern der Glaube die bestimmende Kraft der politischen Geschichte ist.“ (154) Dazu gehörten nicht nur der religiöse, sondern auch insbesondere der „säkulare“ Glaube „an uns selbst als Menschen“ und der Glaube an Veränderungen, die Menschen bewirken können.

Der englische Originaltitel „What is a Palestinian state worth?” drückt Nusseibehs Skepsis gegenüber einem palästinensischen Nationalstaat neben Israel aus. Wozu wäre er gut, welche Bedürfnisse würde er befriedigen, und was wäre ein fairer Preis, um ihn zu realisieren? (128) Als ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem Staat müssten die Palästinenser in Bezug auf Wahlen eine „undemokratische Regelung“ akzeptieren, d. h. im gegenseitigen Einvernehmen sollte allen in den besetzten Gebieten lebenden Palästinensern auf Wunsch ein „Staatsbürgerschaft zweiter Klasse“ gegeben werden, so der Autor. (124)

Zu Nusseibehs „Gedankenexperimenten“ gehört der Verzicht auf das Rückkehrrecht, die Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser, ein völlig demilitarisierter „Staat Palästina“ und die Akzeptierung der Palästinenser als Staatsbürger zweiter Klasse unter Israels Herrschaft in einem Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer. „Wo die Durchsetzung individueller Rechte der Verwirklichung des öffentlichen Wohls klar im Wege steht und wo zudem die betroffene Öffentlichkeit aus eben jenen Individuen besteht, die diese Rechte fordern, lautet die rationale Schlussfolgerung, dass es besser ist, diese Rechte aufzugeben.“ (122)

Solche unkonventionellen Aussagen machen ihn zum „Darling“ der zionistischen Linken in Israel. Als Professor für Philosophie sollte der Autor die Prämissen der zionistischen Ideologie eigentlich verstanden haben. Viele seiner Aussagen sind vor dem brutalen Besatzungsalltag im besetzten Palästina bizarr und muten weltfremd an. Der intellektuelle Harvard-Duktus und die philosophischen Abstraktionen, in denen das Buch in weiten Teilen abgefasst ist, haben so gar nichts mit der politischen Strangulierung seines Volkes zu tun. Nusseibehs Buch ist ein indirektes Plädoyer für einen neokolonialen zionistischen Paternalismus, dem sich das palästinensische Volk unterwerfen soll. Das letzte Wort über diese „Vision“ hat aber immer noch der palästinensische Souverän.