Ein Gespenst geht um im Westen – es ist „der Islam“. Seit Samuel Huntingtons berühmt-berüchtigter These vom „clash of civilisations“ hat der US-dominierte Westen wieder ein Feindbild. Es ersetzte flugs die Bedrohung durch den Kommunismus, die während des „Kalten Krieges“ den Westen unter Führung der amerikanischen „Hypermacht“ zusammengeschweißt hatte. Die Urheberschaft dieses unsäglichen Begriffes darf jedoch der Orientalist Bernhard Lewis für sich beanspruchen, der ihn erstmals in der Zeitschrift „The Atlantic“ 1990 ventilierte. Wurde diese rassistische These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ zu Beginn nur in akademischen Zirkeln heftig diskutiert, erkannten die politischen Eliten des Westens schnell die Möglichkeit ihrer politischen Instrumentalisierung.
Der Drang des US-amerikanisch geführten Westens nach Hegemonie war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion grenzenlos. Das Verschwinden der zweiten Supermacht von der Weltbühne stürzte den Westen samt Nato in eine Sinn- und Legitimationskrise, die schnellstens nach einem neuen Feindbild verlangte, damit dem militärisch-industriellen Komplex nicht die Aufträge ausgehen. Versuchten die USA bereits in den 1990er-Jahren China als neues Feindbild aufzubauen, so boten die 9/11-Anschläge eine einzigartige Gelegenheit, dem Islam diese Rolle zuzuweisen. Seither findet eine beispiellose Dämonisierung und Stereotypisierung der zweitgrößten Regionsgemeinschaft, des Islam und seiner Gläubigen, in allen westlichen Ländern statt.
Werner Ruf, Professor Emeritus für Internationale Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel, hat die Hintergründe der grassierenden Islamophobie offengelegt. So beziehen die Stereotype nicht mehr ihre Legitimation aus der Biologie, sondern kommen jetzt kulturell drapiert daher. Das Feindbild Islam hat primär nichts mit Muslimen und schon gar nichts mit „dem Islam“ zu tun, sondern deren Dämonisierung diene letztendlich dazu, mit den sozialen Verwerfungen, die im Zuge der Globalisierung entstanden sind, fertig zu werden. Die Hetze gegen Mitglieder der islamischen Religionsgemeinschaft verfolge aber ein weiter reichendes Ziel, nämlich die Schaffung einer autoritären und gleichgeschalteten Gesellschaft. „Die Dämonisierung der ´Anderen` wird instrumentalisiert, um die Folgen der neo-liberalen Unordnung zu verschleiern und soziale und politische Rechte abzubauen.“ Dabei bleiben Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowohl innergesellschaftlich als auch auf internationaler Ebene auf der Strecke, schreibt der Autor. Am Besten lässt sich diese These an der Entwicklung der USA seit 9/11 belegen.
Zu Beginn seiner Ausführungen drückt Ruf seine Skepsis gegenüber Nation und Nationalstaat aus, da beide eine neue Dimension zur Konstruktion kollektiver Identitäten geschaffen haben, und zwar Volk und Staat. Ab- und Ausgrenzungen erfolgen über das „Wir“ und „die Anderen“, die durch die Entstehung des bürgerlichen Nationalstaats eine besondere Qualität erreicht haben. Obgleich der Nation-Begriff und der auf ihm basierende Nationalismus ambivalent seien, habe er seit der Französischen Revolution auch Fortschritte in der Menschheitsgeschichte gebracht: die erste Erklärung der Menschenrechte und die Befreiung der „Dritten Welt“ vom kolonialen Joch. „Die Nation basiert also auf der Herstellung und Sicherung kollektiver Identität.“ Nation und Nationalismus bleiben jedoch „janusköpfig“, wie die Geschichte lehrt. In Parenthese sei hier auf das Buch von Stefan Bollinger „Linke und Nation“ hingewiesen, in dem aufgezeigt wird, dass das Konzept der Nation schon immer ein linkes Anliegen gewesen ist. Sie sollte also nicht den Reaktionären überlassen werden, weil die Nation für die Kritik am globalen Kapitalismus und der Globalisierung unerlässlich bleibt.
Das Zerrbild vom Islam ließ sich auch deshalb so einfach etablieren, weil der durch den Imperialismus mit seinem missionarisch-rassistischem Sendungsbewusstsein bereitete Untergrund immer noch furchtbar ist: als zivilisatorische Mission (mission civilisatrice) und moralische Last (the white men´s burden). „Rassenlehre und Herrschaftsanspruch gingen so eine geradezu perfekte Symbiose ein.“ Die alten Topoi des biologischen Rassismus, der durch die Nazis gründlich desavouiert wurde, „stehen in kulturalistischem Gewande wie auf“. Für die Kultur-rassistische Begründung eignet sich nichts besser als Huntingtons Aufsatz „“The West unique, not universal“, den er 1996 in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ publiziert hat.
Hätten die westlichen Afghanistan-Abenteurer Huntingtons Kulturrassismus gelesen, wären sie niemals in dem Land eingefallen. So schreibt er allen „Menschrechts-und-R2P-Missionaren“ Folgendes ins Stammbuch: Es sei eine gefährliche Illusion „des Westens“ zu glauben, dass seine universellen Werte wie individuelle Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, rationales Denken und zivilgesellschaftliche Formen der Konfliktlösung auf andere Kulturen übertragbar wären. Daher müsse „der Westen“ aufhören, seine kulturellen Werte exportieren zu wollen und an deren allgemeine und weltweite Generalisierbarkeit zu glauben. Für andere Kulturen seien diese Werte ungeeignet. Sie waren und seien unfähig, diese zu entwickeln und zu adaptieren. Hierauf beruhe die schicksalhafte Distanz zwischen „dem Westen“ und „dem Rest“. Schade, dass dieser „große Kulturphilosoph“ nicht 500 Jahre früher gelebt hat, weil er dann vielleicht die unzähligen Genozide des „weißen Mannes“ durch seine „treffende“ Analyse verhindern hätte können.
Über die eigentliche Bedeutung des Islam erfährt man bei Ruf viel, was so gar nicht ins westlich-rassistische Cliché passt. So entdeckte das „aufgeklärte“ Abendland die griechische Philosophie erst wieder durch die Arbeiten von Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd). Wenn heute Politiker und islamophobe Ideologen vom „christlich-jüdischen“ Erbe Europas faseln, widersprechen Intellektuelle vehement dieser Geschichtsklitterung. In diesem Zusammenhang zitiert der Autor Almuth S. Bruckstein Coruhs Beitrag in „Der Tagesspiegel“, in dem sie schreibt: „Es stockt einem der Atem bei so viel Geschichtsvergessenheit. Es ist gruselig, mit welchem Pathos der geistigen und moralischen Überlegenheit die selbst ernannten Vertreter des jüdisch-christlichen Abendlandes muslimischen Zeitgenossen, ganz egal welcher Nationalität und welcher kulturellen Prägung, die europäische Aufklärung vorhalten. Das Eis bleibt dünn, nach gerade einmal siebzig Jahren. Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen.“ Symbolisiert nicht dieser Bindestrich eher die Geschichte der Glaubenskriege, des Antisemitismus, der Gewalt und vor allem des Holocaust?
Besonders aufschlussreich sind die Kapitel über „Antisemitismus und Islamophopbie: Zwei Seiten einer Medaille?“, „Islamhetze und ihre Akteure“ sowie „Die extreme Rechte entdeckt die Freundschaft zu Israel“. Ruf zitiert die These von Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des „Zentrum für Antisemitismusforschung“ an der TU-Berlin, dass in der aktuellen antimuslimischen Argumentation Stereotype vertreten werden, die schon im „klassischen“ Antisemitismus vorgetragen worden seien. „Die Feindbilder der Judenpogrome lassen grüßen“, schreibt Ruf. Konkretisiert wird diese Hetze anhand einschlägiger Akteure. Nicht nur wird die Funktion von „native informers“ à la Bassam Tibi, Seyran Atas und Necla Kelek erwähnt, „die oft ´den Islam` mit Praktiken des anatolischen Volksislams verwechseln“, sondern auch die politische Rolle, welche die Akteure der Islamhetze spielen. Namentliche Erwähnung finden Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder, Ralph Giordano, die „Antideutschen“, islamkritische Postkarten sowie antiislamische Websites wie „Politically Incorrect“ (PI), „Bürgerbewegung Pax Europa“ und „Nürnberg 2.0“. Der deutsch-jüdische Journalist Broder sei zu einer gewissen „Berühmtheit“ dadurch gelangt, dass er in dem „Manifest“ des norwegischen Massenmörders Breivik mehrere Male zustimmend Erwähnung gefunden habe. Seine „Freunde im Geiste“ von PI verwenden immer wieder die rassistisch-nazistischen Bezeichnungen für Muslime wie „Musels“ und „Kameltreiber“ ganz im Sinne der Nazi-Schergen, welche die physisch durch Arbeit und Schinderei schon fast zu Tode gequälten Juden als „Muselmänner“ bezeichneten, wie Ruf Girogio Agamben zitiert. „In Majdanek hießen die lebenden Toten „Gamel“ (…), in Neuengamme „Kamele“ (…) und im Frauenlager Ravensbrück ´Muselweiber`“.
Durch diese unsägliche Islam-Dämonisierung sind die „Wallfahrten“ fast aller Vorsitzenden der europäischen rechtsextremistischen Szene zu ihren „Glaubensbrüdern“ von „Israel Beiteinu“ (Unser Haus Israel) völlig untergegangen. Wen Werner Ruf dort aufzählt, gehört zur Hautevolee des europäischen Rechtsextremismus, und diese hat sich in Israel ein Stelldichein gegeben und sogar ein gemeinsames antiislamisches Pamphlet unterzeichnet, in dem vor einer weltweiten Bedrohung der Menschheit „durch den fundamentalistischen Islam“ gewarnt worden ist.
Letztendlich geht es beim „Krieg gegen den Terror“ um ein neokonservatives „gegenzivilisatorisches Projekt“. Die massiv betriebene Dämonisierung „des Islam“ und „der Muslime“ ist „nur“ das Mittel zu einem unsäglichen Zweck. Solange Muslime nur unter dem Gesichtspunkt der „Sicherheit“ gesehen oder als „Sicherheitspartner“ akzeptiert werden, ist alles Gerede von Integration sinnlos. Das Buch wendet sich gegen die Ethnisierung von Konflikten und gegen die Ausbreitung westlicher politischer Wahnvorstellungen. Es eignet sich deshalb besonders als „eye-opener“ für alle Bildungseinrichtungen, die in Teilen bereits „Partner“ der islamophoben Hetzer geworden sind.