Henry Kissinger hat vor kurzem erklärt, dass es in zehn Jahren kein Israel mehr geben werde. Gershom Gorenberg, ein US-Amerikaner, der vor 35 Jahren als Student nach Israel gekommen ist und eine Familie gegründet hat, weist auf über 300 Seiten auf die Gefahren einer Selbstzerstörung Israels durch eine „unheilige Allianz“ zwischen politischer Führung und extremistischer Siedlerbewegung hin. Von Außeneinwirkung via Iran ist dabei aber nicht die Rede. Yakov M. Rabkin hat bereits in seinem bahnbrechenden Buch „A Threat from within. Jewish Opposition to Zionism“ auf die Gefahren hingewiesen, die dem Zionismus vom Judentum drohen.
Gorenbergs Thesen mögen auf den ersten Blick „alarmistisch“ klingen, wenn er konstatiert, dass sich „Israel in einer fortdauernden Zersetzung befindet“ und es zu einer „Neugründung“ kommen sollte. Paradoxerweise begann die „Zersetzung“ Israel auf dem Höhepunkt seines Triumphes über seine „Feinde“ im Sechstagekrieg von 1967. Dass dies ein Pyrrhussieg war, haben bereits zahllose Autoren, die sich einen ungetrübten Blick auf Israel bewahrt haben, immer wieder betont. Daraus folgert seine zentrale These: Die Entscheidungen der verschiedenen israelischen Regierung seit Juni 1967, die eroberten Gebiert zu kolonisieren, haben wesentlich zu einem schleichenden Prozess der „Selbstabschaffung“ Israels beigetragen. Übrigens: Das koloniale Siedlungsprojekt wurde von der „linken“ Arbeitspartei initiiert.
Trotz seiner Kritik an der Politik Israels bezeichnet sich der Autor als Zionist, was bedeutet, er ist jüdischer Nationalist. Gleichwohl spricht er ungezwungen von al-Nakba, der Katastrophe, die durch die „zionistische Landnahme“, über die Urbevölkerung Palästinas aufgrund der Kolonisierung hereingebrochen ist. Israel nennt diese „Katastrophe“ den „Unabhängigkeitskrieg“.
Gorenberg tritt für die Preisgabe aller Siedlungen und die Rückführung der israelischen Kolonisatoren ein, die sich wider das Völkerrecht im besetzen Palästina breit gemacht haben. Er ist für eine Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Waffenstillstandsvereinbarungen von 1949. Trotz seiner berechtigten Kritik an der israelischen Regierungspolitik, ist der Staat Israel auch das Ergebnis einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung, die sich erst im Lichte des virulenten Antisemitismus in West- und Osteuropa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebildet hat. Davon völlig unabhängig ist die Frage, wie man zum jüdischen Nationalismus auch immer stehen mag.
Der Autor weist zu Recht auf die negativen Auswirkungen der Besatzung, die Förderung des religiösen Extremismus und des Siedlerunternehmens sowie deren Untergrabung von Recht und Gesetz unter aktiver oder passiver Mithilfe der diversen israelischen Regierungen hin. Wenn Gorenberg schreibt, dass das Siedlerunternehmen ein breit angelegter Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit Israels gewesen sei, muss man sich fragen, warum die Regierungen einen solchen Angriff zugelassen haben. War ihnen die Rechtsstaatlichkeit vielleicht nichts wert?
Der Autor lässt keines der relevanten Probleme aus. So weist er auf die zunehmend politische Bedeutung der Charedim (ultraorthodoxe Juden) hin, die heute zirka zehn Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, wovon ein Teil den Staat Israel ablehnt, wohingegen ein anderer sich aktiv am politischen Leben Israels beteiligt. Ebenso geht er auf die Rolle der israelischen Palästinenser sein, die ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung Israels stellen. Sie werden durch mehr als 30 Gesetze diskriminiert, obgleich sie Staatsbürger des Landes sind. Die wirklich existentielle Gefahr für das „jüdische und demokratische“ Israel erwächst jedoch durch die religiös-fundamentalistische Siedlerbewegung, deren Anhänger das Militär peu à peu unterwandern.
Das Buch ist von einem orthodoxen zionistischen Juden geschrieben worden. Es wäre noch kritischer ausfallen, wenn es von einem anti-zionistischen orthodoxen Juden geschrieben worden wäre. Gleichwohl ist es spannend und sehr lesenswert. Israel ein "gescheiterter Staat"?