Die Tradition der christlichen Sozialethik droht völlig dem Vergessen anheimzufallen. Seine Entstehung „verdankte“ es dem Massenelend, das die Industrialisierung im 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte. Erste Aussagen finden sich bei katholischen Politikern, Juristen, Philosophen, Publizisten und Theologen seit den 1830er-Jahren zur Lösung der Industrie- und Arbeiterfrage. Diese Denkrichtung hat versucht, zeitgemäße Antworten auf die Bedrohungen der menschlichen Existenz durch die Auswüchse eines zügellosen Kapitalismus auf dem Weg in die Moderne zu geben. Die eigentliche Blüte erlebte das christlich-soziale Denken nach dem Ende der Nazi-Barbarei, als führende Vertreter eines christlich-sozialen Katholizismus und Protestantismus Richtungsweisendes für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland geleistet haben. Umso erstaunlicher ist das Verschwinden dieses Denkens aus dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Raum. Auf die Frage, warum dies so ist, und wie der Untergang im kollektiven Gedächtnis der Moderne gestoppt werden könnte, will der vorliegende Band Antwort geben, in dem namhafte Vertreter der Disziplin vertreten sind.
Die Autoren analysieren die Geschichte und das historische Umfeld der neuen sozialethischen Konzepte und fragen nach der Zukunft sozialethischer Positionen unter den politischen und ökonomischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Es wird die „Soziale Frage“ als Thema des 19. und 20 Jahrhunderts behandelt. Dieser historische Abriss wird von dem Beitrag über die christliche Sozialethik im Entwicklungsprozess der Moderne von André Habisch, Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, geleistet. So habe die katholische Soziallehre eine eher „grundlegende Orientierung ohne Festlegung von konkreten Einzelbestimmungen“ formuliert, die aber praktisch nicht auf Handlungsanweisungen in spezifischen Situationen herunter gebrochen würden. Sie sei, wie es Hermann Josef Wallraff formulierte habe, ein „Gefüge offener Sätze“. Bei Lichte betrachtet, so Habisch, stelle der Anspruch der Soziallehre auf zeitlose und naturrechtlich begründeter Doktrin ihrer Prinzipien „fast eine Art intellektueller Etikettenschwindel dar“. Was die Zukunft des christlichen Sozialdenkens in Europa angehe, müsse sich zeigen, ob die Kirchen auch im 21. Jahrhundert die Kultur prägende Kraft aufbrächten, ihre Tradition der „konservativen Innovation“ angesichts enormer neuer Herausforderungen von Globalisierung und Informationstechnologie fortzusetzen.
Im zweiten Teil des Bandes setzen sich die Autoren mit der Krise des Sozialen in der Wahrnehmung der Sozialethik und der Sozialwissenschaften auseinander. Der Frage auf katholischer Seite geht Rudolf Uertz, Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, nach, auf evangelischer tut dies Martin Honecker, Professor emeritus für Sozialethik an der Universität Bonn. Beide Autoren betonen die Gestaltungsoffenheit der Sozialethik und ihre Anpassungsfähigkeit an die Herausforderungen sowohl im nationalen und im internationalen Bereich als auch an die gesellschaftlichen Veränderungs- und Modernisierungsprozesse.
Für die deutsche Leserschaft besonders aufschlussreich sind die Beiträge von Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Universität München, über den sozialen Katholizismus und sozialen Protestantismus in den USA. Der Katholizismus hatte es im einstigen Kernland der „White Anglo-Saxon Protestants“ sehr schwer, Fuß zu fassen. Der Durchbruch gelang erst mit der Wahl John F. Kennedys zum US-Präsidenten. Der Autor beschreibt detailliert die Geschichte des Katholizismus und stellt die Frage, ob sich denn das katholisch-soziale Denken unter den Laien etablieren konnte. Dies scheinen Umfragen zu bestätigen, „nach denen Katholiken immer noch zu der Konfession zählen, die (…) staatliche Regulationen und Interventionen befürworten.“ Die Fürsorge für die Armen und eine aktive Sozialpolitik zählten weiterhin zu den Bestandteilen katholischer Identität in den USA. Unter der spanischen Bevölkerung, den Hispanics, dürfte die Soziallehre jedoch „reges Interesse hervorrufen“.
Vor ähnlichen Problemen wie der soziale Katholizismus habe auch die protestantische Sozialbewegung, der Social Gospel, im 19. Jahrhundert gestanden. Ihre Anhänger entstammten der progressistischen Bewegung, die sich aus einer Vielzahl von heterogenen bürgerlichen Reformgruppen zusammensetzte und auf lokaler oder der Ebene der Gliedstaaten eine reformorientierte Weltanschauung pflegten. Einigen Vertreter dieser Bewegung wurde „Marxismus“ unterstellt, da sie die Exzesse des US-amerikanischen Kapitalismus in marxistischer Terminologie anprangerten. Innerhalb dieser Bewegung gab es zahlreiche antikatholische Vorbehalte, weil ihnen das Engagement des sozialen Katholizismus in den Slums und Ghettos der Arbeiter ein Dorn im Auge war, schreibt der Autor. Letztendlich konnte sich die Social Gospel-Bewegung gegen den individualistischen Evangelikalismus und Fundamentalismus, die in ihrem Bekenntnis eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus anstelle einer abstrakten sittlichen Weltordnung vertreten, nicht durchsetzen. Folglich blieben „die staatsinterventionistisch-karitativen Ideale der katholischen Soziallehre innerhalb des amerikanischen Katholizismus wesentlich präsenter als der Social Gospel im Protestantismus“.
Ebenfalls sehr lesenswert sind die Beiträge von Nils Goldschmidt über „Protestantische Wurzeln und katholische Zweige der Sozialen Marktwirtschaft“ und von Jörg Althammer über „Soziale Marktwirtschaft und katholische Soziallehre“. Abgerundet wird der Band durch den Beitrag von Detlef Grieswelle, der über lange Jahre im Sozialministerium tätig war und sich als Soziologe immer für den Ausbau, aber auch für eine Reform der sozialen Sicherungssysteme eingesetzt hat, weil ohne den Abbau des Reformstaus die sozialen Sicherungssysteme keine Zukunft haben.
Der Sammelband zeigt den ganzen Reichtum des christlich-sozialen Denkens und dessen Einfluss auf die Gestaltung und den Aufbau einer sozialen Gesellschaft. Umso verwunderlicher ist es, dass es der christlichen Sozialethik nicht gelungen zu sein scheint, sich in der öffentlichen Diskussion zu behaupten, in der der Mensch zunehmend zum Spielball ökonomischer Interessen wird, ohne ihn auch in seinen anderen Funktionen wahrzunehmen. Alle Beiträge zeigen, dass die Ideen der Sozialethik offensiver in der öffentlichen Debatte vertreten werden sollten, damit sie auch für künftige Generationen inspirierend wirken können.