Dienstag, 16. April 2013

Zu beiden Seiten der Mauer

Der Polit-Slogan „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ der zionistischen Bewegung ignorierte von Beginn der Kolonisierung Palästinas die Existenz und die Rechte des dort lebenden palästinensischen Volkes. Diese koloniale Eroberung fremden Landes hält bis heute an, hat aber nicht zur völligen Zerstörung der Gesellschaft der autochthonen Bevölkerung wie in den USA oder Australien geführt. In Israel und Palästina fordert dagegen das palästinensische Volk seine nationalen Rechte. Daran konnte auch ein „Friedensprozess“ nichts ändern, der 1993 ausgebrochen ist und sich in einer Art politischer Auf-und-Ab-Bewegung bis heute fortsetzt. Dieser Prozess hat die anhaltende Kolonisierung des im Sechstagekrieg von 1967 eroberten Rest-Palästinas nicht gestoppt, sondern sogar noch beschleunigt. Diese Art des „Friedensprozesses“ hat aber auch dazu geführt, dass die PLO das Stigma einer „Terrorbewegung“ losgeworden ist. Überspitzt könnte man formulieren, dass sich seitdem eine Befreiungsbewegung zum Komplizen einer Kolonialbewegung gemacht habe. Das Ergebnis einer solchen „Liebesheirat“ zeigt sich in Palästina. Dieser Prozess hatte aber auch etwas Gutes: Erstmalig konnten sich Israelis mit Palästinensern frei treffen. 

Im Frühling 1997 traf sich eine Gruppe palästinensischer und israelischer Akademiker, um über Möglichkeiten zu diskutieren, gemeinsam die Geschichte Israels und Palästinas zu studieren und zu erforschen. Die Gruppe gab sich den Namen PALISAD, Palästinensisch-Israelischer Akademischer Dialog, und traf sich im Wechsel einmal im Monat entweder in Ramallah oder in Jerusalem. Das politische Bewusstsein einer auf Antonio Gramsci beruhenden Betrachtungsweise von der „Einheit des historischen Prozesses“ ermöglichte es den Teilnehmern, sich von einer „nationalistischen Dichotomie zu befreien“ und das „Paradigma der Gleichheit“ zurückzuweisen, das im Westen so verhätschelt wird, weil es von einer irreführenden These ausgeht, dass es in Palästina zwei Konfliktparteien gäbe, die die gleiche Verantwortung sowohl für den Ausbruch als auch die Lösung dieses Konfliktes trügen. Dass es sich bei einer solchen Annahme um eine politische Augenwischerei mit dem Ziel handelt, Täter und Opfer eindeutig zu benennen, so steht diese historische Irreführung auf der gleichen Stufe mit der Annahme, dass die Kolonisierten mit dem Kolonisator „gleichberechtigt“ über ihre Befreiung vom kolonialen Joch verhandeln könnten. Das Ergebnis eines wirklichen gleichberechtigten Dialog- und tatsächlichen Friedensprozesses liegt nun auch in Buchform auf Deutsch vor. 

Das Buch enthält Artikel renommierter israelischer und palästinensischer Wissenschaftler, denen eines gemeinsam ist: Sie transzendieren die Vorurteile, die den jeweiligen nationalen Narrativen inhärent sind. Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch die meisten der israelischen Wissenschaftler den zionistischen Narrativen mehr als kritisch gegenüberstehen. Zu diesem Kreis gehören: Ilan Pappe, Jamil Hilal, Ehud Adiv, Dan Rabinowitz, Moshe Zuckermann, Salim Tamari, Nur Masalha, Issam Nassar, Rema Hammami, Oren Yiftachel, Musa Budeiri, Lev Grinberg and Uri Davis. 

Avid, Rabinowitz und Zuckermann versuchen, den dominanten zionistischen Narrative zu dekonstruieren. Sie zeigen, wie frühe israelische anthropologische Studien über Palästinenser und ihre Manipulationen in der zionistischen Darstellung der Realität in Israel und Palästina eingebettet sind. Diese „kulturell bedingte“ Sicht und das Festhalten an Teilen der zionistischen Ideologie und Denkweise hatte für die erste Generation der Anthropologen tiefgreifende politische und intellektuelle Auswirkungen, schreibt Rabinowitz. „Es hinderte sie daran, ihre Empathie und ihre Kenntnis der Palästinenser aus erster Hand, ihre Einblicke in die die Härten des täglichen Lebens der Palästinenser und ihr Verständnis für die Belastung, die es bedeutet, Palästinenser in Israel zu sein, dazu zu benutzen, eine brauchbare Kritik der israelischen Soziologie hervorzubringen, ganz zu schweigen von einer Kritik des Zionismus im allgemeinen.“ In seinem kurzen Beitrag „Die Shoah auf dem Prüfstand“ zeigt Zuckermann die politische Instrumentalisierung dieses historischen Ereignisses für politische Zwecke in Israel auf und fordert, dass das Andenken an den Holocaust „von den ideologischen Ketten seiner Instrumentalisierung“ befreit werden müsse. 

Die Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems harrt bis heute einer Lösung. Im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung habe Israel nach Nur Masalha mehrere Lösungs- oder Auflösungsvorschläge dazu unterbreitet. So schlug das israelische „Transfer-Komitee“ eine „Ansiedlung im Königreich Irak“ vor; nur 3 000 Palästinenser landeten im Irak. Weitere Pläne bezogen sich auf den Gaza-Streifen, die Ansiedelung im Königreich Libyen oder einer Umsiedelung von Gaza in den Sinai, den Israel zusammen mit Frankreich und Großbritannien 1956 in einem Überfall auf Ägypten erobert hatte. Durch diese politisch unrealistischen Vorschläge wollte Israel „die Flüchtlingsfrage als Kernproblem des arabisch-israelischen Konflikts zu Verschwinden bringen“, schreibt der Autor.

Ilan Pappes Beitrag setzt sich mit den israelischen Ängsten, Israels Opferrolle, seinem Selbstbildnis und dem Image des Anderen auseinander, während Jamil Hilal die Auseinandersetzung mit der palästinensischen Zeitgeschichte beschreibt. Bevor es zu einer Aussöhnung zwischen Palästinensern und Israelis kommen könne, müsse es zu einem innerisraelischen „nationalen Diskurs“ kommen, der einige der israelischen politischen Selbstzuschreibungen korrigieren müsse. Dazu gehören Israels permanent beanspruchte Opferrolle, gleich wie aggressiv sich das Land gegenüber den Palästinensern und seinen Nachbarn verhält, oder seine Sichtweise vom kleinen David, der gegen einen übermächtigen Goliath kämpft. Tatsächlich ist Israel heute ein waffenstarrender Goliath, der einen wehrlosen „David“ unterdrückt und kolonisiert. Versöhnung könne es nach Pappe nur geben, wenn „Israel aufhört, die Palästinenser zu unterdrücken, seine Rolle als Täter anerkennt und die palästinensischen Anderen im nationalen Diskurs akzeptiert.“

Die palästinensische Geschichtsschreibung kann nach Jamil Hilal in zwei Zweige aufgeteilt werden: Der eine ist von „der Kapitulation und der Niederlage“ geprägt, der andere von „Heldentum und Widerstand“. Keines von beiden lässt eine „pluralistische Darstellung der Geschichte“ zu. Nötig sei vielmehr, die palästinensische Geschichte so zu erzählen, indem die verschiedenen Ereignisse mit einbezogen werden, die die diversen , ineinander überschneidenden Beziehungen herausarbeitet und die den unterschiedlichen Zusammenhängen gerecht wird und so aus der Vergangenheit eine neue Bedeutung für die Zukunft gewinnt. Hilal beschreibt die einzelnen Stationen der palästinensischen Nationalbewegung, deren „Herzstück“ immer die Schaffung eines unabhängigen Staates gewesen sei. Sein Fazit: „Heute scheint ein unabhängiges, souveränes Palästina in ebenso weiter Ferne zu liegen wie vor Oslo.“ 

Uri Davis und Ilan Pappe plädieren noch einmal für einen Staat für beide Völker. Dieses Modell für einen Staat Palästina müsse ein freier und souveräner, demokratischer und unabhängiger Staat für alle seine Bürger sein, so Pappe. Davis verweist auf eine Alternative und schreibt, „dass der zukünftige demokratische Staat Palästina oder der zukünftige demokratische Staat Israel oder der zukünftige demokratische föderalistische Staat Palästina und Israel nach der Aufhebung des Gesetzes über das Eigentum Abwesender von 1950 und des israelischen Rückkehrgesetzes von 1950 das palästinensisch-hebräische Volk, das heißt, alle gegenwärtigen Staatsbürger des Staates Israel, die als ´Juden` klassifiziert sind, sowie ihre Nachkommen anerkennen wird, nicht als Kolonialvolk, nicht als Siedler, nicht als Besatzer, sondern als gleichberechtigte Staatsbürger nach dem Gesetz und mit gleichen Rechten wie das palästinensisch-arabische Volk, einschließlich aller gegenwärtigen arabischen Staatsbürger Israels und aller Araber, die gegenwärtig von Israel als ´Abwesende` klassifiziert werden.“ 

Das Buch liefert eine detaillierte Analyse der zentralen Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Eine kleine Minderheit von Wissenschaftlern hat ihre Ergebnisse in einem ansprechenden Buch veröffentlicht. Wo aber sind die politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die diese fortschrittlichen Ideen in die Praxis umsetzen und sie somit Realität werden lassen? Das Buch kann sehr inspirierend für alle am Nahostkonflikt Interessierten sein, wenn diese das „öffentliche Interesse für die Ein-Staaten-Lösung als einzige Alternative zur Beendigung der Gewalt, die beiden Völkern ein Leben in Frieden ermöglichen kann“, politisch unterstützen.