„Ein jüdisches Volk gibt es nicht“, mit dieser These sorgte Shlomo Sand, Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, 2011 für Furore. Das Buch wurde zum Bestseller. In Israel wurde Sand heftig angefeindet, was nicht sonderlich verwundert, hatte er doch nichts weniger getan als die Behauptung aufgestellt, es gebe kein „jüdisches Volk“, ergo auch keine „jüdische Nation“; beides verwies er ins Reich der Legenden.
Eine ähnlich provokante These vertritt der Autor in seinem jüngsten Buch: Auch das Land Israel (Eretz Israel) sei ein Mythos; es gebe kein historisches Anrecht der Juden auf das Heilige Land, so Sand. Sollten also beide Legenden als Israels Raison d’être entfallen, bliebe dann nur noch der Kolonialismus übrig? Dieser wäre aber keine zukunftsträchtige Rechtfertigung für die Existenz des Staates Israel.
In fünf Kapiteln legt der Autor dar, warum es kein „Land Israel“ gibt. Dafür taucht er ausschweifend auf den ersten 200 Seiten in die Geschichte der Nationalismusforschung ein, bevor er überhaupt erst im vierten Kapitel „Zionismus gegen Judentum: Die Eroberung des ‚ethnischen‘ Raums“ Rabbiner zitiert, die sich gegen eine Rückkehr ins „Heilige Land“ aussprechen.
Jesaja Horowitz lehrte in Prag und galt als einer der größten Rabbiner des 17. Jahrhunderts. 1621, nach dem Tode seiner Frau und des für das jüdische Jahr 5408 prognostizierten Weltendes, übersiedelte er nach Jerusalem; nach einen kurzen Aufenthalt in Safed, starb er 1628 in Tiberias. Er wird gerne von vielen zionistischen Historikern als „Kronzeuge“ für die Rückkehrsehnsucht zitiert. Die große Mehrheit seiner Glaubensbrüder folgte jedoch nicht seinem Schritt. Ja, er riet allen anderen davon ab, da das Land nicht „den Kindern Israels“ gehöre und ihre „Existenz dort gefährdet und schutzlos sei“. Dieses Land sei kein Ort, um „ein normales jüdisches Leben zu führen. Denn das Land sei auf keinen Fall dazu bestimmt, als Hort und Zufluchtsort für Verfolgte und Bedrückte zu dienen.“ Für Horowitz markierte die Übersiedelung ins „Heilige Land“ nicht den Beginn der Erlösung, sondern das genaue Gegenteil, schreibt der Autor.
Shlomo Sands wirkliche Motivation ist die Offenlegung einer zionistischen Verwechselung zwischen dem Konzept „Eretz Israel“ (Das Land Israel) nach dem jüdischen Gesetz, der Halacha, und einem talmudischen Konzept für einen Ort unter jüdischer Souveränität und der Sehnsucht nach einem Ort „Eretz Israel“. Dem Judentum ist so etwas wie ein „Heimatland“ nicht bekannt. Unter Berufung auf Philon von Alexandria schreibt der Autor, dass die Mehrheit der Juden seiner Zeit weder Jerusalem noch Judäa als ihr „Heimatland“ betrachteten, weil sie dort nicht geboren waren. Während Christen in großer Zahl ins „Heilige Land“ aufbrachen, schienen Juden nach mittelalterlichen und modernen Reiseführern eher „Eretz Israel“ gemieden und einen Bogen um es gemacht zu haben, wie es A. B. Yehoshua formuliert hat.
Dies findet seine Bestätigung durch eine intensive Opposition des religiösen Judentums gegen den Zionismus, die bis heute fortdauert. So hatten sich zum Beispiel 88 von 90 deutsche Rabbiner gegen den ersten Zionismus-Kongress in Deutschland ausgesprochen, woraufhin dieser in Basel stattfand. Sie verwahrten sich gegen eine Verbindung zwischen Kolonisierung und der Verwirklichung eines religiösen Versprechens.
Sand sieht im frühen Zionismus auch positive Elemente wie zum Beispiel bei der Integration der Holocaust-Überlebenden, den arabischen Juden und dem Aufbau des Landes. Für verhängnisvoll hält er jedoch den Sieg im Juni-Krieg von 1967, dem eine messianische Dimension beigemessen worden ist. Daraus entwickelte sich ein expansiver religiös-verbrämter Nationalismus. Seither bestimmt die „Groß-Israel-Ideologie“ maßgeblich das Handeln der politischen Elite Israels, die die Waffenstillstandlinie von 1949 wider die Weltmeinung nicht anerkennt. Die Kolonisierung des besetzten palästinensischen Landes sieht Sand als eine strategische Landnahme, die durch den „terroristischen“ Widerstand legitimiert werde.
Es gibt einen Widerspruch in Sands Ausführungen und seinen diversen öffentlichen Statements. So bescheinigt er den heutigen Juden, keine wirkliche Ethnie zu sein, erklärt aber gleichzeitig in Interviews, dass „es eine Affinität unter den Juden aus aller Welt“ gebe. Dies mache aber noch kein Volk aus. Sand fühle sich enger mit einem arabischen Kollegen an der Universität verbunden, als mit einem eingewanderten Juden aus den USA. Es gebe keine Volkskultur der Juden in aller Welt. „Es gibt aber die gemeinsame Religion.“
Sand betonte auch, dass das Recht der Juden auf das Land Israel von der Legitimität des Staates unberührt bleibe. Er tritt für einen „Staat aller seiner Bürger“ ein und wünsche sich eine „Republik Israel“. Was wohl die national gesinnten Palästinenser zu einem solchen bi-nationalen Staat Israel sagen werden?
Erschienen auch hier.
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